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3.4 Vice Versa: Transkulturalität als dritter Weg in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec

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„Vice Versa“ ist der Titel einer von 1983 bis 1996 in Montréal erscheinenden Literaturzeitschrift, die den Untertitel „Magazine transculturel“ trägt und aus den „Quaderni culturali dell’Associazione di cultura popolare italo-quebecchese“ (Montréal, 1980-1982) hervorgegangen ist.1 Herausgegeben wurde diese dreisprachige in FranzösischFranzösisch, EnglischEnglisch und ItalienischItalienisch erscheinende Zeitschrift von den italo-quebecer Intellektuellen Fulvio Caccia, Lamberto Tassinari, Bruno Ramirez et Antonio D’Alfonso. Später kam die in Montréal lebende französische Historikerin und Autorin Régine Robin (1939-2021) als Mitherausgeberin hinzu. „Vice Versa“ wurde zu einer Zeit gegründet, als in KanadaKanada/Canada die Wogen hochschlugen in der Auseinandersetzung über MultikulturalismusMultikulturalismus und InterkulturalitätInterkulturalität (vgl. Kap. 2). Es war die Zeit, als in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec infolge des Gesetzes 101 (1977) das Französische als einzige offizielle SpracheSpracheoffizielle durchgesetzt wurde und die Französisierung der Gesellschaft die Agenda der PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- bestimmte. Es war eine Zeit höchster politischer Anspannung, in der der souveränistische DiskursDiskurs auf das erste ReferendumReferendum über die Unabhängigkeit in Québec über die Unabhängigkeit Québecs (1985) zusteuerte und die nationalistischen Diskurse sich von ihrer identitär-essentialistischessentialistischen, ethnischen und exklusiven OrientierungOrientierung zu einer mehr identitär-relationalen, inklusiven und republikanischen Orientierung wandelten. In dieser spannungsreichen Situation setzte „Vice Versa“ die Akzente anders, nicht auf MultikulturalitätMultikulturalität à la canadienne, nicht auf Interkulturalität à la québécoise, sondern auf Transkulturalität.

Es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass die Herausgeber von „Vice Versa“ in irgendeiner Weise an die Transkulturalitätsdiskussion in Lateinamerika angeknüpft hätten. Erst später, wie der Mitherausgeber F. Caccia (2010, 194) einräumt, entdeckt „Vice Versa“ die nach KubaKuba und SüdamerikaMittel- und Südamerika weisenden Vorläufer des Konzepts von Transkulturalität (vgl. auch Moser 2010, 48).

Erfunden wurde dieses Konzept in der italienischen DiasporaDiasporaitalienisch in Montréal von italo-quebecer Journalisten und Schriftstellern, die, wie viele andere MigrantInnen in KanadaKanada/Canada in den 1970er Jahren, mit dem „Schock der MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel-“, mit den Grabenkämpfen zwischen den majoritären Gruppen der Nachfahren der „Gründernationen“, d.h. zwischen Anglophonen und Frankophonen, wie auch mit den Ausschlussmechanismen der damaligen katholisch-frankophon geprägten Québecer Gesellschaft klarkommen mussten. Der unmittelbare Bezugspunkt für „Vice Versa“ war die Polarität des kanadischen MultikulturalismusMultikulturalismus und der Québecer InterkulturalitätInterkulturalität, gegen die sich die italo-quebecer Transkulturalität als ein subversiver DiskursDiskurs verstand und mit jeder Ausgabe der Zeitschrift auch umsetzte, beginnend damit, dass sie mit ihrer Dreisprachigkeit die politisch korrekte EinsprachigkeitEinsprachigkeit in FranzösischFranzösisch unterlief. 1985 formulierte F. Caccia das Leitkonzept der Zeitschrift wie folgt:

Le terme transculturel a une dimension politique car ce mot implique la traversée d’une seule culture en même temps que son dépassement. L’unité qu’il sous-tend n’a pas la même résonance que celle qu’évoquent le termes « inter-culturel » ou « multi-culturel ». Ceux-ci définissent un ensemble et le circonscrivent dans un espace et un temps, alors que le transculturel ne possède pas de périmètre. C’est le passage et l’implication totale à travers et au-delà des cultures.2 (Caccia 1985, 299)

Auch wenn es Lamberto Tassinari3 zufolge unter den HerausgeberInnen niemals einen Konsens darüber gegeben habe und jeder von ihnen Transkulturalität nach seinen Vorstellungen ausgefüllt hätte, bekennt F. Caccia an anderer Stelle:

Ce projet se manifestera dans sa plénitude lorsqu’il investira la sphère politique et économique. Le transculturel travaille une gestion de la société dépourvue de discrimination […], mais il n’en demeure pas moins que le discours transculturel est au fond un discours sur le pouvoir. À la limite, il remet en question le fonctionnement de la société. […] La transculture possède un ressort utopique qui remet en question la base traditionnelle de la société. (Caccia 1985, 303-304)4

Von „Vice Versa“ ausgehend, entwickelt sich in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft Québecs eine breite Diskussion über die „écriture(s) migrante(s)“, welche zur Projektionsfläche sowohl für kulturelle Identifikationsprozesse in einer MigrationMigrationsgesellschaft als auch für Prozesse transkulturellen Wandels wird (vgl. Harel 2005, Dumontet 2014). Wenn Moisan/Hildebrand (2001) mit dem Blick auf die zahlreichen neo-quebecer AutorInnen chinesischer, haitianischer, italienischer etc. Herkunft von „Ces étrangers du dedans“ sprechen, dann stellt sich immer auch die Frage danach, wie die dominante Gesellschaft mit den Stimmen, den Erzählungen, den Utopien und den Frustrationen dieser AutorInnen umgeht und wie diese die Gesellschaft verändern (vgl. Moisan 2008, 104, Wilson 2012).

In KanadaKanada/Canada und in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec, wo MultikulturalismusMultikulturalismus und InterkulturalitätInterkulturalität als gesellschaftsgestaltende Politikkonzepte verhandelt werden und über die politische Praxis zur Herausbildung kollektiver IdentitätenIdentitätkollektive beitragen, befindet sich das Konzept der Transkulturalität in einem gänzlich anderen, nämlich deutlich politischeren Referenzsystem, als beispielsweise in europäischen und anderen Ländern, wo das Konzept bislang (nur) in akademischen Diskursen einen festen Platz hat. Und zugleich ist es selbst ein politisches Konzept, entworfen von Personen, die nicht nur die Stimmen und Kulturen von MinderheitenMinderheiten repräsentieren, sondern mit der Formulierung einer provokanten politischen Utopie in den Stellungskrieg der Akteure der beiden staatlichen Nationalismen eingreifen.

Der Begriff der Transkulturellen bei „Vice Versa“ ordnet sich somit in ein Koordinatensystem ein, dessen Achsen anders beschaffen sind als bei den vorher genannten AutorInnen. Auch die Auseinandersetzung über Prozesse kulturellen Wandels unter kolonialen und postkolonialen Verhältnissen klingt nicht an. Wohl aber jene, die mit den Machtverhältnissen im Prozess des nation-building zwischen den dominanten Gruppen – die Anglophonen in KanadaKanada/Canada, die Frankophonen in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec – und zwischen diesen dominanten Gruppen und den MinderheitenMinderheiten, darunter die Gruppen der italienischen ImmigrantInnen und ihrer Nachfahren, verbunden sind. Das Angstszenario, das seit dem 18. Jahrhundert das Verhältnis zwischen diesen Fraktionen prägt, ist das der Assimilation: die Angst der Frankophonen vor der Assimilation durch die dominante KulturKultur der britischen Kolonialmacht, und später die Angst der Minderheiten vor der Assimilation und dem Verlust ihrer kulturellen IdentitätIdentitätkulturelle, gegen die die Zeitschrift ihre Stimme erhebt. Der Erkenntnisrahmen des Projekts von „Vice Versa“ ist hierbei als auto- und heterofokussiert zu verstehen.

Transkulturalität  - Prozesse und Perspektiven

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