Читать книгу Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven - Jürgen Erfurt - Страница 20

3.2 Fernando Ortiz: Grundlegung aus der Perspektive der AnthropologieAnthropologie

Оглавление

Die gegenwärtige Transkulturalitätsforschung ist sich weitgehend darin einig, den Ursprung des Konzepts der Transkulturalität in der Studie „Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar“ (1940) des kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz Fernández, kurz Fernando Ortiz (1881-1969) zu sehen.1 In diesem Buch, dessen Titel so viel bedeutet wie „kubanische Debatte über Tabak und Zucker“, behandelt Ortiz die Bedeutung zweier Agrarprodukte für die kulturelle Entwicklung Kubas und zeigt auf, welche Auswirkungen ihr Anbau und ihr Konsum für die kubanische Gesellschaft und ihre Transformationen im Zuge des KolonialismusKolonialismus, des PostkolonialismusPostkolonialismus, -forschung und der MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- eingenommen haben. Anhand des Tabaks rekonstruiert er die vielfältigen sozialen Veränderungen in den Lebensweisen und den Produktionsformen auf KubaKuba. Die Rolle des Zuckers analysiert er im Kontext des Sklavenhandels, der Produktions- und Lebensformen der afrikanischen SklavInnen auf den Plantagen und in den Zuckerfabriken Kubas sowie des transatlantischen Handels mit Zucker. Dabei untersucht er, welche Veränderungen in den Lebensweisen der Menschen der Anbau, die VerarbeitungVerarbeitung und der Konsum von Zucker und Tabak nach sich zogen und welche Auswirkungen dies auf die Organisation von Gesellschaft hatte.

Im zweiten Teils des Buches, darin im zweiten Abschnitt, führt er das Konzept der ‚transculturación’ ein, um die vielfältigen und hochkomplexen Phänomene der Veränderungen der Kulturen – er spricht von „las complejísimas transmutaciones de culturas“ (Ortiz 1987, 93) – und ihrer Lebensweisen begrifflich zu fassen, ohne die die Herausbildung der kubanischen NationNationkubanische nicht zu verstehen sei. Unter ‚Kulturen’ versteht Ortiz zunächst Menschengruppen wie die autochthonen indianischen und die vielen anderen aus AfrikaAfrika, AsienAsien und dem EuropaEuropa der Kolonialmächte eingewanderten Gruppen und IndividuenIndividuum, Individuen. Mit ihrer EinwanderungEinwanderung hätten diese Menschen ihre kulturellen Praktiken, Ideen und Verhältnisse mit nach KubaKuba gebracht, man könne auch sagen, ihre KulturKultur: die Art, wie sie das Land bewirtschaften, das Pferd, den Stier, den Stammeshäuptling, den Priester, das Schießpulver, den Straßenbau, das Eisen, das Buch und die Buchstaben, ebenso das Geld, den Lohn, den Bankier, den Herren, den Sklaven usw. Im Kontakt der Menschen und ihrer Lebensweisen und Produktionsformen sei im Zuge vielfältiger migrationsbedingter Mischungsprozesse das entstanden, was Kuba, die kubanische NationNationkubanische –, das kubanische Volk, die Kubaner ausmache (vgl. S. 94ff.). Ihm als Anthropologen geht es somit um eine Erklärung der (kollektiven) IdentitätIdentitätkollektive und der kulturellen Praktiken in Kuba aus den Produktionsformen, aus den ökonomischen und den MigrationMigrationsverhältnissen heraus.

Dass sich zur damaligen Zeit ein Anthropologe auf die Erforschung der eigenen und ihn umgebenden kulturellen Verhältnisse einlässt, ist, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, ein überaus bemerkenswerter Vorgang. Denn die wissenschaftliche(n) Disziplin(en) der EthnologieEthnologie-VölkerkundeVölkerkunde-AnthropologieAnthropologie, deren Anfänge in die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, insbesondere in DeutschlandDeutschland und RusslandRussland, zurückreichen, ist im 19. und 20. Jahrhundert eng mit dem KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – der europäischen Kolonialmächte verbunden. Ihre Aufgabe sah die Ethnologie darin, die Völker und Kulturen, mit denen die Kolonisatoren, die Missionare und Reisenden in KontaktKontakt kamen, zu beschreiben, somit also WissenWissen zu produzieren über die Andersartigkeit der nicht europäischen Völker und Kulturen, die gemeinhin als vormoderne Kulturen von „Primitiven“, „Wilden“, „Naturvölkern“ und deshalb als von den Europäern zu zivilisierende Völker angesehen wurden. Öffentlichkeitswirksam in der Zurschaustellung „exotischer Völker“ waren besonders in der Zeit zwischen 1870 und 1940 die unzähligen Völkerschauen in Deutschland und anderen Ländern und die großen Weltausstellungen in Paris 1889, Chicago 1893 und BrüsselBrüssel 1897.

Die Arbeitsweise des Ethnologen bestand damals darin, sich als Gelehrter an ferne Orte zu begeben, auf sein FeldFeld, Feldtheorie der Forschung, und hier den „Wilden“, „Primitiven“, „Eingeborenen“ zu erkunden. Zurück in den Metropolen der Kolonialreiche galt es dann, dieses Wissen publik oder zum Gegenstand universitärer Lehre zu machen.

Ortiz, der in Havanna und Barcelona Jura und in ItalienItalien Kriminologie studierte und zunächst eine Karriere als Diplomat in Spanien und FrankreichFrankreich einschlug, erhielt 1909 eine Professur an der Rechtsfakultät der Universität Havanna. Sein wissenschaftliches Interesse galt jedoch in dieser Zeit, und auch in den folgenden Jahrzehnten, weniger den Fragen des Rechts. Hauptsächlich interessierte er sich für die aus AfrikaAfrika stammenden Gruppen der kubanischen Bevölkerung, die Afrokubaner. In dieser Hinsicht bewegte er sich zunächst noch in der Tradition der damals etablierten ethnologischen Forschung; sein erstes Buch, „Los negros brujos“ (1906), verfasste er als Beitrag zu einer „etnología criminal“ über die Hexenkulte jener aus AfrikaAfrika stammenden Kubaner. Archäologische Forschungen zur frühen Besiedlung Kubas, zur Musikethnologie der Völker Kubas, zur Sprache der Afrokubaner und andere Themen schlossen sich an und fügten sich in „Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar“ zu einer bis dahin unbekannten anthropologischen Forschungsperspektive.

Das Neue und Herausragende an dieser Forschungsperspektive besteht darin, dass er als Anthropologe nicht mehr das Fremde entfernter Kulturen vor Augen hat, sondern das eigene Gewordensein, und dies unter den Verhältnissen des KolonialismusKolonialismus, der Zeit davor und danach, sowie der MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel-. Er bricht somit mit der in der Zeit des Kolonialismus etablierten Forschungsperspektive der EthnologieEthnologie-VölkerkundeVölkerkunde-AnthropologieAnthropologie, die von einem Zentrum aus auf periphere Kulturen sieht. In theoretischer Hinsicht setzt er sich dabei mit dem Begriff der AkkulturationAkkulturation auseinander, wie er in den 1930er Jahren2 in der US-amerikanischen Ethnologie Verbreitung gefunden hatte, und verwirft ihn als unzureichend. Für Ortiz beschreibt AkkulturationAkkulturation nur eine Seite, die der Annahme einer anderen KulturKultur, nicht aber den Verlust, den WandelWandel, die neu entstehenden kulturellen Formen und Ausdrucksweisen sowie die damit verbundenen sozialen Folgen (vgl. S. 93, 96). Dagegen zielt der von ihm geprägte Begriff der ‚Transkulturation‘ auf das Verständnis der ganzen Komplexität sozialer und kultureller Transformationen, wie sie am Beispiel der Produktion und des Konsums von Tabak nachzuzeichnen sind: ökonomische, institutionelle, juristische, ethische, religiöse, künstlerische, sprachliche, psychologische, sexuelle und andere (ebd.). Dies schließt ein, die kubanische Gesellschaft in ihren Traditionslinien zu verstehen. Diese reichen von den amerindianischen Kulturen, den Kulturen der afrikanischen SklavInnen, den Kulturen der Kolonialmächte bis zu jenen der MigrantInnen aus allen Teilen der Welt, die mit ihrer Ankunft in der Neuen Welt Prozesse der desculturación oder exculturación, aculturación, inculturación (ebd.) und ebenso der neoculturación (S. 96) erlebten, die jeweils Aspekte von transculturación seien.

Ortiz verfolgte die Absicht, das Konzept der Transkulturation in der US-amerikanischen AnthropologieAnthropologie zu verankern, indem er den in Yale lehrenden renommierten Anthropologen Bronisław Malinowski um ein Vorwort zu seinem Buch bat. Die beiden kannten sich seit 1929. Malinowski verfasst dieses Vorwort auch und drückt darin seine völlige Übereinstimmung mit Ortiz’ Konzept aus. Auch kündigte er an, es fortan selbst in seinen Arbeiten verwenden zu wollen. Auf diesem Weg wurde er derjenige, welcher Ortiz’ Begriff ins Englische einführte, ohne dass er in der damaligen Zeit auf breiteren Widerhall gestoßen wäre. Übrigens auch bei Malinowski selbst nicht; zumindest lässt sich in seinen späteren Arbeiten eine Verwendung des Konzepts der Transkulturation nicht belegen (vgl. Ernst/Freitag 2014, S. 6ff.).

Modern ist Ortiz aber auch noch in anderer Hinsicht. Er ist der Überzeugung, dass die ganze kulturelle Bandbreite, die EuropaEuropa in 4000 Jahren hervorgebracht habe, in KubaKuba in weniger als 400 Jahren durchlebt wurde (vgl. S. 94). Er nimmt damit ein Verständnis von kulturellen Transformationsprozessen vorweg, das ein Historiker der GlobalisierungGlobalisierung wie Giddens (1990) oder KulturgeographInnen wie Massey (1994, 2005) oder Jacquemet (2010) mit dem Bild eines „high degree of space-time compression“ (vgl. Abschnitt 3.7) beschreiben und das offenbar, zumindest wenn wir Ortiz folgen, auch schon auf frühere Phasen der Globalisierung als jener des neoliberalen SpätkapitalismusSpätkapitalismus zutrifft.

Transkulturalität  - Prozesse und Perspektiven

Подняться наверх