Читать книгу Die Soldatenkönigin - Julien Junker - Страница 11
ОглавлениеThoul
Elnarats Unterricht. Wie soll ich dieses Kapitel meines Lebens beschreiben?
Unvergesslich, wie oft meine und Elnarats Entschlossenheit aneinander gerieten. Elnarat der Tapfere. Er war wirklich erstaunlich.
Aller Anfang ist schwer. Wir waren nur selten einer Meinung, als er die Vormundschaft über mich übernahm. Erschwerend kam hinzu, dass er keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kindern hatte. Meine wenig kindliche Einstellung half glücklicherweise schnell über dieses Hindernis hinweg. Unser eigentliches Problem war, dass wir beide nicht besonders gut mit Autorität zurecht kamen. Elnarat ist mit Sicherheit nie ein unterwürfiger Mensch gewesen. Dementsprechend nervenaufreibend war es für uns beide, wenn ich nach mehreren Stunden über staubigen Akten und Aufzeichnungen über längst vergangene, anstrengende diplomatische Verhandlungen und Beweggründe diverser Volksführer die Geduld verlor und etwas Praktischeres lernen wollte. Wir gerieten bei solchen Gelegenheiten einige Male heftig aneinander. Seine dann stets felsengleiche Ruhe brachte mich in den ersten Monaten immer wieder an die Grenzen schlimmer Tobsuchtsanfälle, nach und nach jedoch – und dies gestand ich mir in kindlicher Selbstgerechtigkeit nur höchst ungern ein – begann sie mich zu beeindrucken.
Meinen Vater und nebenbei auch jede andere Person hatte ich bis dato nur lange und stur genug bearbeiten müssen um meinen Willen durchzusetzen. Allein diesen Mann konnte ich nicht dazu bringen, auch nur einen Schritt von seinem Weg abzuweichen. Am Ende war er sturer als ich.
Ich gab also nach und lernte, was er mir vorsetzte. Letztendlich war ich begierig darauf, alles zu erfahren und mir dann alle Kampftechniken anzueignen, die ich in meinem Leben eventuell einmal gebrauchen könnte. Theorie und Praxis des Fliegens, Truppenmanöver, Strategie, Taktik, Rhetorik, Geschichte, Geologie, Anatomie, Sprachen – Arabisch, Französisch und Englisch sprach ich bereits, Spanisch, Chinesisch, mehrere Stammessprachen unseres Landes kamen dazu – und so manches Dutzend Kapitel mehr. Ich lernte genau und fleißig. Meine persönlichen kleinen Feldversuche, meine Fallenstellerei gab ich weitgehend auf. Mir blieb schlicht keine Zeit mehr für Basteleien, da Elnarat in jedweder Lernpause Kisten voller Kleinteile anschleppte und die verrücktesten Anweisungen gab, etwas darin zu finden, daraus zu bauen oder damit zu reparieren. Gelegentlich sabotierte er auch ein Shuttle und ließ mich die Schäden suchen und beheben.
In den öden Stunden, in denen sich Elnarat um Führungsangelegenheiten zu kümmern hatte, erlegte ich mir eigene Lehrstunden auf, indem ich es zur Regel machte, das politische und militärische Geschehen rund um unser Land zu verfolgen. Nach und nach fiel es mir immer leichter, ihre Schritte zu verstehen und sogar vorauszusehen. Mein Vater hatte mir immer wieder eingebläut, wie wichtig es war, seine Feinde zu kennen. Also lernte ich sie kennen. Alle Staatsoberhäupter, ihre Politik, ihr Heer, selbst ihre Familien. Persönliche Schicksale lassen einen Menschen so viel verständlicher und berechenbarer werden. Niemand handelt frei, der über Vergangenheit und Charakter verfügt. Elnarats Geschichtsstunden offenbarten mir Ereignisse aus früheren Jahren und Jahrzehnten, die die Politik noch immer beeinflussten. Verknüpfungen zwischen dutzenden wichtigen Personen lagen schließlich wie ein fein gewebter Teppich vor mir. Leider zeichneten sich in dessen Mustern auch deutliche Bilder künftiger Gefahren ab. Und so ging ich dazu über, mich auf den Ernstfall vorzubereiten. Ich übte mich darin, meine für eine mittlerweile Zwölfjährige erstaunliche körperliche Kraft zu kontrollieren. Auch Elnarat hielt inzwischen den rechten Zeitpunkt für gekommen, mich in dieser Richtung auszubilden, und so offenbarte sich mir die harte Welt der wirbelnden Stöcke.
Durch den Zusammenwuchs der Welt bis zu uns vorgedrungen, fesselte mich die schiere Effizienz dieser Kampfkunst von Anfang an. Ich genoss das Gefühl, dem Krieger, den ich vage in mir zu spüren begann, endlich Klauen und Zähne zu geben – die Stöcke zu führen oder, gefährlicher, tödlicher, die Macheten, ihre stählernen Geschwister.
Selbst Elnarat, der schon damals etliche Schüler ausgebildet hatte, lobte meine Fortschritte.
Ich erinnere mich noch an den ersten Tag meines Unterrichts. Elnarat reichte mir zwei der leichten Hölzer, zeigte mir, wie ich sie zu führen hatte und ließ mich mit ihnen vertraut werden.
„In Ordnung“, sagte er dann. „Fangen wir mit den ersten beiden Programmen an.“
In Erwartung der mir bereits von Schaukämpfen bekannten spektakulären Techniken war ich einigermaßen enttäuscht über die Simplizität meiner ersten Aufgabe. Ich kopierte Elnarats Bewegungen ohne jegliches Zögern, was – wie ich an einer leicht gehobenen Augenbraue zu erkennen glaubte – Elnarat zumindest ansatzweise überraschte.
„Na gut. Das nächste Programm funktioniert folgender Maßen...“
Allein ihm zuzusehen genügte mir. Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Übungen in diesem frühen Stadium zu folgen. Ich nickte, als Elnarats Waffen wieder zur Ruhe kamen.
„In Ordnung. Ich muss also nur-“
Unsere Stöcke trafen sich in einigen schnellen Schlägen, dann herrschte wieder Stille.
Ein erstes Grinsen umspielte Elnarats Lippen.
„Noch einmal!“
Nun angespornt, erhöhte ich selbstständig die Schlaggeschwindigkeit. Das Knallen des Holzes in den weiten Trainingsräumen war ohrenbetäubend. Es war, als könnte ich zusehen, wie meine Bewegungen mit jedem Schlag weicher und präziser wurden. Das Gefühl, das mich in diesem Moment erfüllte, als wir beide in jener Halle standen und ein unerwarteter Einklang zwischen uns herrschte, als die Welt in meinem jungen Bewusstsein hinter den hypnotischen Klang der Schläge zurücktrat, dieses Gefühl kann ich nur als eines bezeichnen: Freude.
Ja, ich begann zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters wieder Freude zu empfinden. So manche Nacht voll endloser Grübeleien verblasste damals bis zur Unscheinbarkeit, denn noch etwas wurde mir langsam bewusst: Dass ich selbst ohne Gileat nicht allein kämpfen musste.
Viele Monate hatte ich mich darauf eingestellt, ein mehr oder minder einsames Leben zu führen. Das Biest, das ich damals war, hatte die meisten Menschen und selbst die wenigen Tiere, die bei uns lebten, vergrault. Einzig mein Vater war immer für mich da gewesen, seit meine Mutter gestorben war.
Mit einiger Verzögerung begriff ich, dass er mir sehr viel mehr hinterlassen hatte als eine führerlose Armee in einer kriegerischen Welt. Er hatte mir etwas hinterlassen, das besser für mich sorgen würde, als irgendeine Brigade es je gekonnt hätte: Einen Mann, bedingungslos treu, der sich eher eine Hand abhacken würde, als das letzte Versprechen an seinen Freund zu brechen.
Elnarat würde für mich sorgen, egal, was geschehen mochte und egal, was ich anstellte.
An diesem Tag keimte ein Pflänzchen, das bisher geduldig auf seine Zeit gewartet hatte. Mein Respekt gegenüber Elnarat angesichts seiner Stärke und seiner grenzenlosen Loyalität schlug zähe Wurzeln. Auch wenn diese Loyalität noch nicht mir direkt galt, ich hatte einen begnadeten Kämpfer und Strategen auf meiner Seite. Und das war mehr, als ich jemals erwartet hatte.
Selbst als ich jetzt voller überschwänglichem Tatendrang die leichten Übungsstöcke so lang beanspruchte, bis das faserige Holz immer brüchiger wurde, bis ich doch einmal danebenschlug und Elnarat einige Haut von den Fingern riss, sah ich unter seinem Groll dennoch eine gewisse Zufriedenheit, die schon fast an Stolz grenzte. Nachdem er die Wunde betastet und seine blutigen Finger einige Sekunden lang sichtbar genervt angestarrt hatte, klopfte er mir auf die Schulter und murmelte mir zwischen zusammengebissenen Zähnen ein beinahe neutrales „Gut.“ zu.