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I

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Elnarat

Unser Stützpunkt lag friedlich, ohne nennenswerte Zwischenfälle – und das seit gut einer Woche. Der letzte unserer streitsüchtigen Nachbarn hatte sich aus unseren Grenzgebieten zurückgezogen und von unseren Extremisten hatten wir seit fast einem dreiviertel Jahr nichts mehr gehört. Wir waren mit Wiederaufbau beschäftigt. Mal wieder. Nicht, dass wir in den vergangenen zehn Jahren nicht oft genug damit zu tun gehabt hatten. Wir waren geübt. Kopf hoch, Staub von den Schultern klopfen. Neu anfangen.

Folglich waren wir als Armee für den Augenblick lediglich mit Hilfseinsätzen, sowie mit dem Schutz der fragilen Ordnung in den kriegsgezeichneten Teilen unseres Landes beschäftigt. Für mich bedeutete das vor allen Dingen Organisation, Koordination. Gileat schickte aus gutem Grund nicht gerade mich, um die ansonsten anfallenden Eskorten für unsere Diplomaten zu stellen, die mit unseren Nachbarn die Friedensverträge aushandelten.

Die Folge war, dass ich mich doch tatsächlich am Schreibtisch wiederfand – ein Ort, den ich kriegsbedingt sehr lange nicht gesehen und sicher nicht vermisst hatte. Da Gileat mit Diplomatie beschäftigt war – nicht gerade mein Lieblingsfach an der Militärakademie – lag es an mir, die Einsätze und die Ströme an Hilfsgütern für die am schwersten betroffenen Teile des Landes mit auszuarbeiten und abzusegnen. Befehle mussten erteilt, Warenströme überprüft werden. Viel Arbeit, die des Öfteren alles andere als durchsichtig ist. Glücklicherweise hatte ich fähige Kollegen. Aber auch denen wollte auf die Finger geschaut sein.

Ich hatte mit Sicherheit die vierte Tasse schwarzen Tee seit dreiundzwanzig Uhr in der Hand, während ich die Liste, die mir Captain Mahmut von der Lagerhaltung geschickt hatte, auf der Suche nach den medizinischen Hilfsgütern durchscrollte, die am nächsten Morgen mit dem Transporter nach Abéché, Mongororo und Boutoutou gehen sollten. Man stelle sich meine Überraschung vor, als mein Blick an folgender Zeile hängen blieb: Rizin. Medizinische Lieferungen und Arzneimittel: Sonderstufe 9.

Diese „medizinische Lieferung“ war erst kürzlich auf unserem Hauptstützpunkt in Faya eingetroffen.

Ich stellte meine Tasse beiseite und setzte mich gerader hin. Rizin ist ein biologischer Kampfstoff, der unter das internationale Kriegswaffenkontrollgesetz fällt, das seit dem Ende des Dritten Weltkriegs in Kraft ist. Kurz gesagt, es ist verboten.

Es war so gesehen nicht weiter verwunderlich, dass Gifte an unseren Stützpunkt geliefert wurden. Wir hatten aus friedlicheren Tagen eine recht gut ausgestattete Forschungseinrichtung geerbt, der wir einen gewissen Teil unseres militärischen Erfolgs verdankten und die besagte Gifte gelegentlich brauchte. Trotzdem. Rizin? Wozu, verdammt, wenn der Rest des Militärs versucht, die Grundversorgung der Zivilbevölkerung wiederherzustellen? Hatten die in der Forschungsabteilung nix besseres zu tun, als mit hochgiftigen Substanzen rumzuspielen? Wie wär’s, die würden ihre Zeit in was investieren, das verhinderte, dass sich Cholerabakterien in den Wassertanks der Flüchtlingslager ausbreiteten?

Ich hätte schlicht den Kopf geschüttelt und mich weiter darum gekümmert, dass die Lieferungen für den Südosten des Landes auf den Weg kamen, aber da war ein weiteres Detail, das mich misstrauisch machte: Ich hatte den Namen des Offiziers, der die Lieferung für die Forschungsabteilung entgegen genommen hatte, noch nie gehört. Mit bösen Vorahnungen erhob ich mich von meinem Schreibtisch und wandelte durch die nachtruhigen Gänge des Hauptstützpunktes in Richtung Krankenflügel, um mich an die einzige Person zu wenden, der ich in dieser Sache vertrauen konnte: Clarence.

Ich hatte ihn an der Militärakademie kennengelernt, wo er einen Lehrauftrag für Genetik hatte. Kein Fach, das ich persönlich belegen musste, aber wir verstanden uns dennoch gut. Seit damals war er mein Freund und Komplize, obwohl er zwanzig Jahre älter war als ich und eigentlich vernünftiger hätte sein sollen... aber das kommt alles noch. Er war der beste Arzt, der mir je über den Weg laufen sollte – mit Ausnahme mei... aber davon ebenfalls später. Wichtig war, ich konnte ihm vertrauen. Dieser Mann hat mich unzählige Male wieder zusammengeflickt.

Sein Blick, als ich ihn fragte, wer bei allen Sandkörnern der Wüste in der medizinischen Forschungsabteilung mit Rizin spielte, hätte genügen sollen, um Bombenalarm zu geben.

„Rizin?“

„Rizin.“

„Unmöglich. Darüber wüsste ich Bescheid“, meinte er entrüstet. „Das ist eines der fiesesten Gifte, die es gibt. Wir haben bis heute kein Antidot dagegen, das im Nachhinein verabreicht werden könnte. Die Idee, es gegen Krebs einzusetzen ist auch veraltet… ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer in der Forschungs- ... wie viel davon, sagtest du, wurde geliefert?“

„Nur eine einzelne Ampulle, 300 Milligramm. Quittiert von einem gewissen Doktor Zaro.“

Clarence blickte mich unheilschwanger an.

„Die Forschungsabteilung kennt keinen Doktor Zaro?“, riet ich.

Er nickte finster.

„Großartig. Du bist dir ganz sicher?“

Seine Augenbrauen hoben sich tadelnd. „Glaubst du, ich kenne meine eigenen Leute nicht, Elnarat?“

„Nicht wirklich. Ich hab nur gehofft, es könnte immer noch ein Irrtum... aber die Optimisten sterben immer zuerst.“ Ich seufzte. „Scheiße. Wie wirkt das Zeug?“

Clarence lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Licht seiner Schreibtischlampe schillerte in seinem hellen Haar, das auf dem Stützpunkt so auffällig war, zwischen uns, die wir zumeist die schwarzen Locken unseres Kontinents trugen. Das künstliche Licht der Krankenstation ließen ihn noch blasser wirken, als er für unsere Augen ohnehin schon war. Jetzt sah er müde aus, wie er da saß, und finster.

„Rizin kann oral, durch eine Injektion oder sogar durch Inhalation aufgenommen werden. In der Regel ist eine Dosis von 0,25 Milligramm in Reinform für einen erwachsenen Mann letal. Es hat eine unregelmäßige Latenzzeit von mehreren Stunden bis Tagen, je nach Art der Aufnahme. Die ersten Symptome sind starke Schleimhautreizungen, erweiterte Pupillen, Herzrasen, Fieber, Übelkeit, Erbrechen. Durchfall natürlich, Abdominalschmerzen, Flüssigkeitsverlust. Später dann Leukozytose und Blutverklumpung. Der Tod tritt üblicherweise zwei bis drei Tage nach Aufnahme einer tödlichen Dosis durch Atemstillstand oder sonstiges Kreislaufversagen ein.“ Seine grauen Augen waren weit entfernt, während er meine Züge betrachtete. „Keine schöne Zeit bis dahin.“

„Heilige Wüste! Das hört sich widerlich an.“ Mich schauderte. Die Vorstellung, so auf verlorenem Posten gegen einen unbesiegbaren Gegner im eigenen Körper kämpfen zu müssen, jagte mir Schauer über den Rücken. Ich schüttelte den Kopf. Nicht auszudenken, was jemand mit 300 Milligramm von dem Zeug machen konnte! Ganz zu schweigen von der nicht unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass diese Lieferung bei Weitem nicht alles war, was von dieser höllischen Substanz auf meinen Stützpunkt gelangt war.

Ich stützte mich mit beiden Händen auf Clarences Schreibtisch. „Na schön. Volles Programm. Überprüf deine Abteilung. Von oben bis unten, jeden einzelnen Mann. Such jeden Schrank und jede Matratze nach dem Zeug ab. Sieh nach, wer in den letzten Monaten euren medizinischen Bedarf geliefert hat und wer hier mit Doktor Zaro unterschreibt. Ich sage Gileat Bescheid und leite alles Weitere in die Wege. Durch die Tore dieses Stützpunktes kommt und geht niemand, den ich nicht dazu autorisiere, alles klar?“

Clarence nickte ernst und war schon dabei, Befehle durchzugeben, als ich hinaus auf den Gang trat.

Eine halbe Stunde später stand ich vor Gileats Küchentür und klopfte an den Rahmen.

„Komm rein, mein Freund. Tee?“

Gileat hatte eine Vorliebe für schwarzen Tee. Starken schwarzen Tee. Er trank das Zeug praktisch jeden Tag, und zwar morgens, mittags und abends. Ich frage mich, wie er danach schlafen konnte – wenn er das überhaupt jemals tat. Auf dem Feld haben wir oft Schichtwechsel mit der Wache gehabt. Ich kann mich nicht erinnern, Gileat je schlafen gesehen zu haben. Vielleicht erklärt das seinen enormen Teekonsum.

„Wenn du eine Tasse übrig hast... eigentlich habe ich alle Hände voll zu tun.“

Gileat lachte und brach plötzlich in heiseres Husten aus. „Ausgerechnet du? Man sollte meinen, gerade du hättest im Augenblick Zeit übrig um Tee zu trinken...“ Er begann von Neuem zu husten und beugte sich vorn über. Sein Gesicht, dessen Züge auf mich immer edel wirkten, verzog sich zu einer angestrengten Grimasse, während der Hustenanfall seinen Körper schüttelte.

„Heilige Wüste, Gileat! Hast du deine Grippe immer noch nicht auskuriert?“

Mein Freund hob genervt die Brauen und rollte mit den Augen. „Nein. Noch immer nicht, wie du siehst. Das Ding hängt mir jetzt schon seit fast zwei Wochen an.“

„Unglaublich. Seit wann bist du so ’n Schwächling?“

Er grinste schräg, während er ein weiteres Husten unterdrückte und zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es der Stress, dieses ewige Diplomatengeplänkel... Man wird schier wahnsinnig.“

Er drückte mir eine dampfende Tasse in die Hand und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Mit einem einladenden Lächeln bot er mir ebenfalls einen an. Ich jonglierte die Tasse, die mir soeben gehörig die Finger verkokelte, auf den Tisch und folgte seiner Aufforderung.

„Also?“, fragte er, „Was führt dich her?“

„Wir haben einen Maulwurf“, informierte ich ihn, meine Finger auf die kühle Tischplatte pressend.

Gileat trank einen Schluck von seinem nahezu kochend heißen Tee und verzog das Gesicht. „Wunderbar. Das hat mit gerade noch gefehlt. Hast du eine Ahnung, wer es ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Bin gerade dabei, es herauszufinden. Es ist reiner Zufall, dass ich überhaupt darauf gestoßen bin.“

Ein Grinsen. „Vermutlich hast du einfach mal deine Arbeit gründlich gemacht.“

Ich musste lachen. Er feuerte öfter solche Breitseiten ab. Die meisten davon waren weder gut gezielt, noch scharf geschossen. Zumindest in meinem Fall zeigte der Kommandant sich in der Regel sanftmütig.

„Ok, Treffer. Das merk ich mir. – Aber im Ernst: Irgendwer hat hier eine Wagenladung Rizin gehortet. Tu mir also den Gefallen und sieh dich vor, was du zu dir nimmst und von wem es kommt. Ich möchte ungern böse Überraschungen erleben.“

Er nickte und trank schlürfend von seinem Tee, während sein Blick auf dem dritten, leeren Stuhl lag, der am Tisch stand.

Gileat lebte hier zusammen mit seiner elfjährigen Tochter. Ein hübsches, kluges, lebensfrohes und nahezu harmlos, wenn auch exotisch aussehendes Ding mit einem einnehmenden Lächeln und frechen kurzen Haaren, die dutzende verschiedene Blondtöne zu haben schienen und in der Sonne schimmerten wie Platin. Ihre auffälligen grünen Augen funkelten geradezu in ihrem dunkelbraunen Gesicht und blickten so liebenswert und unschuldig... und oh! der Schein trog. Gewaltig. Thoul war eines der miesesten kleinen Biester, die sich je Töchter genannt haben und ob ihrer Intelligenz schon mehr als unberechenbar. Vermutlich tut es einfach keinem Kind gut, auf einem Militärstützpunkt aufzuwachsen.

Ihre Mutter war Jahre zuvor im Kampf gefallen. Sie war eine Kriegsheldin, die Unzählige mit sich in den Tod gerissen hatte, und ihre unbändige Kraft, ihren starken Willen und ihre Klugheit an ihre Tochter weitergegeben hatte.

Gileat liebte dieses Kind beinahe so abgöttisch, wie er dessen Mutter geliebt hatte. Er ließ sie in verschiedenen Sprachen unterrichten, nährte ihren Wissensdurst mit zahllosen Büchern und gab an sie all seine Erfahrung weiter, die er im Laufe der Jahre als studierter Diplomat, Soldat und Taktiker gesammelt hatte. Er verbrachte praktisch jede einzelne seiner wenigen freien Minuten mit ihr.

Das alles geschah allerdings, ohne dass er ihr ihre nicht mehr nur jugendliche Gemeinheit auszutreiben versuchte. Die Folge war, dass kein Tag verging, an dem nicht einer der Männer in eine ihrer Stolperfallen tappte, die einem schon einmal einen Wurfpfeil in die Schulter jagten oder einer verspäteten kalten Dusche unterzogen. Gileat, ich weiß nicht warum, ließ sie gewähren.

Jetzt seufzte er und fuhr sich mit der Hand durch die wirren schwarzen Haare. „Also schön. Mach diesen Maulwurf dingfest, bevor hier irgendwas passiert. Morgen fliege ich wieder in den Sudan, um die Charta zu ratifizieren. Ich hoffe nur schwer, dass da nicht irgendwas schief läuft. Ansonsten können wir uns den Wiederaufbau nämlich an den Hut stecken.“

Ich nickte nachdenklich und stürzte den inzwischen erträglicher temperierten Rest meines Tees hinunter. „Also gut. Ich hab zu tun. Wenn ich den Kerl in die Finger kriege, kann er was erleben.“ Damit erhob ich mich, straffte die Schultern in der Andeutung eines Saluts und verschwand mit einem Lächeln durch die Tür. Irgendetwas knackte unter meiner Schuhsohle. Oh, ich kannte dieses Geräusch! Instinktiv ließ ich mich fallen und entging damit nur knapp einem von Thouls Pfeilen, der ansonsten exakt meine Schulter erwischt hätte.

„Ach und… Gileat?“, rief ich, während ich mich aufrappelte, „Bring deiner Tochter bei, dass sie keine arglosen Soldaten abzuschießen hat.“

Er kam lachend um die Ecke und sah mir zu, wie ich mir die Schultern abklopfte und mein schulterlanges Haar zurück warf. „Das können die ab. Schult die Wachsamkeit.“

„Eines Tages wirst du mit dem Kind noch dein blaues Wunder erleben, mein Freund.“

Gileat grinste und zuckte die Schultern. „Mag sein. Schlimmer als mit ihrer Mutter kann es kaum werden.“

Ich runzelte die Stirn. Niemand von uns hatte so genau mitbekommen, was eigentlich mit Claire passiert war. Sie war eine herrliche Frau gewesen, Gileats Gefährtin und beste Freundin. Lebensfroh, wild und trotz allem warmherzig. Im Kampf aber war sie unberechenbar gewesen und ich habe bis zu dem Tag, an dem sie starb, niemals erlebt, dass sie verletzt worden wäre. Zumal sie immer eine Art Anzug aus Spinnenseide oder so was trug, durch den im Grunde keine Kugel hätte durchkommen dürfen. Hinzu kam, dass Claire einfach eine Wahnsinnssoldatin war. Eine Amazone. Ihre Kraft und ihre Kampfkunst waren ebenso legendär wie ihre Schnelligkeit und Ausdauer.

Ich war nicht einmal dabei, als sie dann schließlich fiel. Sie kam einfach eines Tages nicht zurück. Draußen auf dem Feld hab ich sie dann aufgesammelt und reingebracht, mit mehreren peripheren Verletzungen, darunter drei Streifschüssen und einer Kugel im Oberschenkel. Nichts Tödliches. Berichten zufolge war sie plötzlich ausgerastet und hatte sich in die Horden der Feinde gestürzt. Unzählige hatte sie mitgenommen, bevor sie schließlich zusammenbrach, niedergestreckt von oberflächlichen Verletzungen, die sie nicht ihr Leben hätten kosten sollen. Gileat hatte nie viel darüber gesprochen. Aber beinahe allen, die Claire gekannt und die Geschichten gehört hatten, war klar, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Clarence, neben Gileat ihr engster Vertrauter und Freund, war der Einzige, der wusste, woran sie eigentlich gestorben war und auch er redete nie darüber. Also blieb es im Dunkeln.

Vielleicht war Gileat darum so zaghaft in der Erziehung seiner Tochter. Er versuchte, sie nicht unter noch größeren Stress zu setzen, als es der Tod ihrer Mutter und das Leben auf einem Militärstützpunkt ohnehin schon taten. Oder vielleicht erkannte er in ihr auch die typischen Verhaltensweisen ihrer Mutter wieder, die ihr auszutreiben ihm die Kraft und der Wille fehlten. Ich glaube, ohne dieses Kind wäre Gileat am Tod seiner Gefährtin zerbrochen. Niemals werde ich den Schmerz in diesen Augen vergessen, als er Claires toten Körper in den Armen hielt, das stille Leid, die stummen Tränen. Kein Wort hatte er gesprochen bis wir in sein Quartier zurückgekehrt waren. Und dort… Hannibal kam uns mit seiner kleinen Tochter auf den Armen entgegen. Ihre rote Mähne lag um Thouls kleine Finger gekringelt. „Gut, dass sie dich hat“, hatte sie geraunt und sie ihm sachte in die Arme gelegt. Dann war sie einfach durch die Tür verschwunden und hatte mich mit sich gezogen. Gileat war mit seiner Tochter allein zurück geblieben.

Seither war sie sein Ein und Alles gewesen, das Licht seiner Tage, die Ruhe seiner Kraft. Der geheime Quell seines unbeugsamen Mutes. Wahrscheinlich liebte er sie mehr als gut gewesen wäre.

Irgendwann hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dieses Kind würde eines schönen Tages an eine Grenze stoßen, die der Vater ihm nicht öffnete. In diesem Augenblick, als ich in seine Augen sah, während seine Gedanken bei Claire waren, wurde mir bewusst, dass es töricht gewesen war, das jemals gehofft zu haben. Ich schüttelte also ein letztes Mal mit einem sachten Lächeln den Kopf und verschwand.

Gileat, ah, Gileat! Dieser Mann war so viel für mich. Er war meine Lichtgestalt, die einem Jungen aus der Wüste eine Zukunft verhieß, der Bedeutung inne wohnte. Mit gerade siebzehn Jahren hatte ich geglaubt, jeden Horizont gesehen zu haben. Doch Gileat wandte meinen Blick fort vom Abendrot über der Sahara, drehte mich um und wies nach Osten, wo ein strahlender junger Morgen über uraltes Land hereinbrach. An Gileats Seite einherzuschreiten, in eine Zukunft, die ungewiss und voller Unruhe, aber voll Verheißung und Wahrheit war, erschien mir geradezu leicht, es war schlicht der richtige Weg und ich konnte das spüren. Jeder Schritt an seiner Seite war mir eine Freude, eine Ehre.

Als er am nächsten Abend aus dem Sudan zurückkehrte, sah er bleich aus. Ich brauchte nur einen einzigen Blick in seine Augen zu werfen, um zu erkennen, dass es ihm dreckig ging. Seine Eskorte zerstreute sich, sobald wir den Hauptkomplex betreten hatten und ich war der Einzige, der ihn zu seinem Quartier begleitete. Seine Hand lag flach auf seinem Bauch, während er mir von seinem Tag berichtete, von der Unterzeichnung. Ein dünner Film Schweiß stand auf seiner Stirn.

„Setz dich einen Augenblick, Elnarat. Ich bin gleich bei dir“, sagte er, sobald wir sein Quartier betreten hatten. Er strich Thoul übers Haar, die aus ihrem Zimmer gekommen war, als wir eingetreten waren, und verschwand im Bad. Sie sah mich überrascht an, hob die Brauen und deutete ihm fragend hinterher.

Ich zuckte die Schultern. „Vielleicht hatte er einen schlechten Piloten“, scherzte ich. Es folgte das herzzerreißende Geräusch eines ausgewachsenen, starken Mannes, dessen Magen sich mit wütender Verzweiflung all seines Inhaltes entledigt.

„Einen wirklich schlechten Piloten“, bemerkte Thoul mit einem Stirnrunzeln. Sie trat an die Badezimmertür und klopfte vorsichtig. „Papa? Kann ich was für dich tun?“

„Nein, Thoul, danke. Ich bin gleich da“, vernahm ich seinen Stimme gedämpft und schon wieder gepresst.

Ich schüttelte den Kopf und ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu besorgen. Und da, während ich dem klaren Stoff des Lebens, den jeder Wüstensohn zu ehren gelernt hat, dabei zusah, wie er in mein Glas plätscherte, überkam mich mit einem Mal diese abgrundtiefe Angst, die schreckliche Gewissheit, dass etwas Entsetzliches geschehen war. Ich sah zu Thoul hinüber, die im Türrahmen lehnte und zu mir herüber blickte. Stellte den Wasserhahn ab. „Thoul, geh und schmeiß Clarence aus den Federn.“

Ihr Blick wurde schlagartig dunkel, sprang für Augenblicke zwischen meinen Augen hin und her, dann wandte sie sich wortlos um und verschwand.

Ich hielt mich nicht mit Klopfen auf, sondern stürmte das Bad, nur um Gileat kraftlos vor der Toilette zu finden, kreidebleich, zitternd, und als er aufblickte, erkannte ich, dass seine Pupillen geweitet waren. Mein Herz wäre am liebsten stehen geblieben, während ich mich zu ihm niederkniete und ihn in meine Arme zog, ihn hochhob. Er stöhnte, sein Kopf fiel gegen meine Schulter. Ich biss die Zähne zusammen und wandte mich mit meinem Kommandanten in den Armen zur Tür. „Ganz ruhig, Gileat. Clarence wird dir helfen…“

Eine halbe Stunde später trat dieser aus Gileats Krankenzimmer, ein kleiner Raum direkt neben Clarences Büro, der für dringende Fälle reserviert war, die seiner unmittelbaren Aufmerksamkeit bedurften, heraus und kam zu mir herüber. Ich hatte mich auf den Boden gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt, und starrte leer vor mich hin. Erst als er vor mir stehen blieb, blickte ich auf.

Seine Augen sagten mir alles, was es zu sagen gab.

„Rizin“, sprach ich meinen zu Wirklichkeit erstandenen Albtraum aus.

„In rauen Mengen“, ergänzte Clarence. „Die Dosis würde ausreichen, um ein Kamel umzubringen.“

„Heilige Wüste, dass ich nicht eher geschaltet habe! Wozu sonst braucht jemand das Zeug auf diesem Stützpunkt“, grollte ich düster. Ich konnte die Wand in meinem Rücken unter dem tiefen Dröhnen der Angst in meiner Grabesstimme erzittern spüren.

Clarence schlug den Blick nieder. „Es ist erstaunlich, dass er so lange durchgehalten hat. Seinen Werten nach zu urteilen muss er das Zeug gespritzt bekommen haben. Ich habe ihn gefragt und er sagt, er war irgendwann heute Morgen auf der Krankenstation und hat sich was gegen seine Migräne geben lassen. Ein junger Arzt, den er noch nicht kannte, hat ihm einen Blocker gespritzt, sagt er.“

Meine Fäuste ballten sich unwillkürlich in hilfloser Wut gegen den Fremden. Wer immer er war, ich würde mich höchstpersönlich um ihn kümmern…

„Kannst du irgendetwas für ihn tun?“, fragte ich Clarence halb tonlos.

„Ich habe ihn unter Schmerzmittel gesetzt und ihm was gegen die Übelkeit gegeben.“ Meine Kiefer malten aufeinander. Wir wussten beide, dass ich auf eine andere Antwort gehofft hatte, wissend, dass es eine eitle Hoffnung gewesen war. Ich fuhr mir verzweifelt mit den Händen übers Gesicht. Himmel, dieser Mann hätte so viel erreichen können! „Wird er...“

„Sehr bald, wenn er Glück hat. Je länger es dauert, desto mehr wird er sich quälen.“

Es ist schrecklich solche Worte von einem Arzt zu hören. So endgültig. Jenseits des Kampfes. Die Festung ist gefallen. Nichts, was man tut oder nicht tut, kann noch etwas am Schicksal der Toten ändern. Und Gileat gehörte zu ihnen. Jetzt schon. Rettungslos.

Ich erhob mich langsam. „Sollten wir Thoul –“

„Ich denke, den Anblick ersparen wir ihr besser“, unterbrach mich Clarence.

Mein Blick war hart, als er seinem begegnete. „Hol sie her.“

Thoul war im Krieg aufgewachsen. Dieses Kind hatte schon jetzt viel mehr gesehen als Kinder je sehen sollten. Sie würde uns nie verzeihen, wenn wir ihr die letzten Augenblicke mit ihrem Vater verwehrten, wenn wir ihr die Chance auf einen Abschied nähmen.

Ohne auf Antwort zu warten wandte ich mich ab, um meinem Freund auf seinem letzten Weg beizustehen.

Gedämpftes Licht, absolute Stille. Gileat lag ruhig auf seinem Totenbett, leichenblass, schon jetzt. Für einen Augenblick glaubte ich, er hätte aufgehört zu atmen, doch dann ließ er mit einem Zischen die Luft aus seinen Lungen entweichen. Es schnürte mir das Herz zusammen, ihn so zu sehen. Er hielt die Augen geschlossen, Schweißperlen standen auf seiner hohen Stirn. Dort lag die sterbende Hoffnung dieses Landes und der Welt. Ich nahm alle meine Kraft zusammen und ließ mich neben ihm nieder.

Er öffnete die Augen, sein Blick fiel auf mich und ein vertrautes Lächeln flog über seine müden Züge. „Na, alter Knabe?“, hauchte er, „So hattest du dir das nicht vorgestellt, was?“

Ich lachte mit rauer Stimme und schüttelte den Kopf. „Nein, in der Tat. Ich habe immer gedacht, ich würde mich eines Tages in eine Kugel werfen, die für dich gedacht wäre oder dich unter einem niederstürzenden Gemäuer wegstoßen. In jedem Fall dachte ich, ich würde vor dir gehen.“

Er lächelte schwach.

Ich fragte mich, wie er überhaupt lächeln konnte.

„Tja. Nun kommt es doch anders, mein Freund. Du musst alleine die Weltherrschaft antreten.“

Mein Blick flog zwischen seinen tränenden Augen hin und her. „Vergiss es, Gileat. Dafür bin ich nicht geschaffen. Ich bin Soldat. Ein Haudegen. Für Diplomatie und Politik habe ich keinen Sinn. Das kann ich nicht.“

Er nickte stumm. Nicht, dass ihm das nicht klar gewesen wäre.

„Wie soll das weitergehen ohne dich?“, fragte ich, überkommen von einem unentrinnbaren Gefühl von Hilflosigkeit und Verzweiflung. „Heilige Wüste! Wir haben uns tausendmal gegenseitig den Arsch gerettet... und jetzt… gehst du einfach?“ Ich schüttelte sachte den Kopf. „Diese Welt hätte dich so dringend gebraucht.“

„Es wird jemand anderes kommen“, antwortete er mit leiser Stimme. „Es sollte nicht sein.“

„Aber ich...“

Er hob eine zittrige Hand und griff nach meinem Arm. „Elnarat. Es geht immer weiter. Es gibt immer etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Nicht nach dem Sinn fragen – es gibt immer einen. Die Kunst ist, ihn zu erkennen.“ Seine Stimme verebbte, sein Atem flackerte. Seine Hand verkrampfte sich für Augenblicke um meinen Arm.

„Gileat...“

Sein Körper schüttelte sich. Er stöhnte, tapfer, und ich konnte spüren, wie viel Schmerz sich hinter dem dünnen Laut verbarg. Ich hasste es, ihm nicht helfen zu können. Mein Freund lag vor mir und starb.

Plötzlich sog er keuchend die Luft ein. „Elnarat?!“

„Ja?“ Ich versuchte ruhig zu klingen, ihm eine Stütze zu sein, in diesen Augenblicken der Angst. Meine Hand fasste nach seiner und er klammerte sich mit plötzlicher Kraft daran fest. Unruhe fuhr in seine geschwächten Glieder. Der verzweifelte Kampf eines Sterbenden. Und dann: plötzliche Angst in seinen Zügen. „Elnarat... meine Tochter... meine Tochter. Thoul... versprich mir, dass du dich um sie kümmerst.“ Sein Körper hob sich aus den Kissen, kämpfte noch einmal für diese Hoffnung, diese Bitte, dass sein Herz sicher sein sollte. Seine Tochter. „Versprichst du mir das, pass auf sie auf, hörst du? Pass auf sie auf...“

Er begann wieder zu krampfen.

„Ich verspreche es dir“, erwiderte ich ernst und in der Hoffnung, ihn zu beruhigen.

Gileat lächelte und nickte angestrengt. „Guter Junge, Elnarat. Ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen.“ Sein Atem wurde schneller, schneller, er keuchte. „Scheiße, ich wünschte, ich wäre wenigstens… gestern Abend sturzbetrunken gewesen. Dann… könnte ich wenigstens einsehen, warum… ich mich jetzt so elend fühlen muss…“ Seine Stimme kippte, brach sich im Sturm eines erneuten Krampfes, seine Hand klammerte sich um meine.

Clarence kam in diesem Augenblick herein und zwang Gileats Arm in die Streckung, um ihm eine Injektion zu verabreichen. Dann warf er mir einen zweifelnden Blick zu. Ich blickte hart zurück.

Er nickte, während Gileat neben mir etwas ruhiger wurde. Aufatmend lächelte er dünn. „Worüber streitet ihr euch, Jungs? Denkt ihr, ich bekomme nicht mit, wenn ihr hinter meinem Rücken zankt? Noch bin ich nicht tot.“

Clarence seufzte tief und ging zur Tür und öffnete sie für eine Thoul, die unter Clarences besorgten Blicken mit großen Augen und schmalen Lippen eintrat, sich vor dem Lager ihres Vaters auf die Knie niederließ. „Pa…“, sagte sie leise, ein leises Flehen in der Stimme, das ich nur allzu deutlich als Echo meines stummen Gebetes an die heilige Mutter Wüste wiedererkannte, ihn zu retten. Bitte, das darf nicht wahr sein. Lass es nicht wahr sein. Rette ihn…

Gileat ließ meine Hand los und strich seiner Tochter sachte übers Haar, wie ich es ihn so oft hatte tun sehen. Eine Geste voll unendlicher Liebe und dem Versprechen, die Welt für sie zu ändern. Sie in einen Ort der Gerechtigkeit, der Wahrheit und gegenseitigem Respekt zu verwandeln. Für sie. Ich sah all das in seinen Augen, sah all die Liebe und die Stärke, die sie ihm bedeutet, mit der sie ihn durch jeden langen Tag der Verantwortung getragen hatte. Ich konnte es sehen, dass diese seine Liebe seinen Tod im Herzen seiner Tochter überdauern würde. Sie würde ihn niemals loslassen, sein Andenken in ihrer Seele tragen, solange sie lebte und es füllte meine Augen mit Tränen, mit ansehen zu müssen, wie sie sich an seine Hand klammerte, tapfer gegen die eigenen Tränen kämpfend, in der Hoffnung, ihm ein Lächeln mit auf seinen letzten Weg zu geben. Kindliche Tapferkeit gehört zu den schrecklichsten Bildern dieser Welt, weil sie nicht nötig sein sollte. In einer perfekten Welt wäre sie nicht nötig.

„Es tut mir Leid, Thoul. Ich wäre entsetzlich gern bei dir geblieben. Ich hätte dich gern erwachsen werden sehen. Ich hätte gern deinen Weg begleitet, deine Siege gefeiert, deine Kinder in den Armen gehalten…“ Seine Lippen bebten, während er seine Tochter anblickte, verloren in den Bildern seiner Träume für dieses Mädchen, die nun niemals wahr werden würden. „Ich hatte nur so wenig Zeit mit dir.“ Er stockte und ich sah wie er gegen die Übelkeit anschluckte, gegen die Schwäche kämpfte, die bleiern auf seinen Gliedern lag. „Vergib mir, mein Kind. Bitte vergib mir, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen kann. Diesmal nicht…“

Thoul schluckte, zog seine Hand zu sich und presste fahle Lippen auf seine Finger, die durch ihre geflochten lagen. Sie hätte ihn bitten wollen, zu bleiben und tat es nicht, weil sie wusste, weil sie viel zu genau wusste... Es stand so deutlich auf seinen Zügen geschrieben, auf seiner blassen Haut, in den schimmernden Tränen seiner Augen.

„Elnarat wird für dich da sein“, sagte er sanft. „Vertrau ihm. Er wird sich um dich kümmern.“

Ihre Augen schlossen sich, Trauer, Verzweiflung pressten ihre Lider zusammen, machten ihre Lippen schmal, während sie ihr Gesicht gegen seine Hand lehnte, sie gegen ihre Wangen presste. „Pa… bitte…“ Sie schüttelte langsam den Kopf, verzweifelt. „Ich liebe dich. Ich liebe dich, Pa!“ Ihrer Blicke verschränken sich ineinander, er lächelte warm und müde. „Ich weiß, mein Kind. Ich weiß.“ Er zog sachte an ihren Händen und Thoul erhob sich, ließ sich auf seinem Bett nieder und legte ihre Hände mit seiner Rechten darin in ihren Schoß.

Gileat sah zu mir auf. „Pass auf euch beide auf. Ich fürchte, ich bin ab jetzt auf die Ersatzbank verwiesen und kann euch nicht mehr helfen.“ Seine Lider waren schwer. Er blinzelte langsam. Das Atmen fiel ihm schwer, doch Clarences sanfte Drogen hatten letztlich gegen das Unwohlsein gesiegt.

„Ich tue mein Bestes“, versprach ich.

Er nickte leise lächelnd, dann kehrte sein Blick zu seiner Tochter zurück. „Ich bin entsetzlich… müde, mein Schatz. Ich fürchte, ich werde bald einschlafen.“ Sein Daumen streichelte sachte ihren Handrücken. „Pass auf dich auf, versprichst du mir das? Und mach Elnarat das Leben nicht allzu schwer.“ Ein Schmunzeln.

Sie lächelte liebevoll zurück. „Vergiss es. Du weißt, ich werde ihm jeden Tag zu Hölle machen, aus reinem Protest, dass du gegangen bist.“

Er lachte leise. „So habe ich mir das vorgestellt, ja. Genau so.“

Sie beugte sich über ihn und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. „Sag Mama, dass ich sie lieb hab‘, ja?“

Ein Lächeln, langsames Blinzeln. „Sag‘ ich ihr. Weißt du, ich freue mich darauf, sie wiederzusehen. Ich vermisse sie immer noch so schrecklich…“ Seine Stimme war leise geworden, beinahe ein Flüstern. Mein Herz raste, während ich auf meinen sterbenden Freund nieder sah, wissend, dass ich seinen letzten Worten auf dieser Erde lauschte, dass sein Leben mir zwischen den Fingern hindurch rieselte wie feiner Sand. Bald würde nur noch die Erinnerung an das Gewicht und die Wärme in einer hohlen Hand zurück bleiben. Ich rieb mir übers Gesicht, spürte die Feuchtigkeit meiner Tränen und sah auf, um Gileat seinen letzten liebenden Blick auf das vertraute Gesicht seiner Tochter werfen zu sehen, bevor er mit einem Lächeln die Augen schloss und der Müdigkeit nachgab, die ihn einhüllte und mit sich fort trug wie die gleichgültigen Wellen des Meeres, das ich in Tripolis hassen gelernt hatte, vor Jahren, am Ende einer Jugend.

„Ich liebe dich“, waren seine letzten geflüsterten Worte an seine Tochter.

Bis heute bin ich fasziniert von diesem letzten Gespräch zwischen Thoul und ihrem Vater. Die Luft war schwer mit all den Worten für die keine Zeit mehr war und die doch jeder der beiden im Herzen trug. Sie mussten nicht gesagt werden. Sie wussten beide um die Gefühle des anderen und als ihre Stimmen verstummten, war irgendwie nichts ungesagt geblieben. Das Ergebnis, erkannte ich, all der Momente in denen Gileat sich Zeit genommen hatte, um Thoul zu sagen, dass er sie liebte, dass er stolz auf sie war, dass sie nicht allein war… So konnte er nun friedlich gehen, wissend, dass sie wusste… dass nichts mehr eilig gesagt werden musste, damit sie nicht würde zweifeln müssen.

Wir saßen stumm an seiner Seite und lauschten dem kaum hörbaren Fließen seines Atems, blickten auf sein blasses, klammes, wenn auch friedlicheres Antlitz nieder, versuchten ihn in unsere Erinnerung einzubrennen, unauslöschlich, unbesiegbar. Es war ein kleiner Sieg, dass er mit einem Lächeln ging, in der stillen Gewissheit, dass die Welt sich ohne ihn weiterdrehen würde, dass er Menschen zurückgelassen hatte, die sie sich nicht sich selbst überlassen würden, die stark waren, ihren Weg kannten…

Sein Atem wurde bald zu flach, um ihn zu hören, ich konnte die Bewegung nur noch ahnen, mit der sich seine Brust hob und senkte und dann begann Thoul leise zu weinen und ich wusste, dass er fort war. Ihre Finger lagen um sein Handgelenk, wo sie seinen Puls bis zuletzt hatte spüren können. Nun lagen ihre Augen groß und trostlos auf seinen stillen Zügen. Ihre Lippen bebten im Sturm einer Trauer, wie ihn nur Kinder spüren können, wenn sie ganz plötzlich mutterseelenallein sind. Sich in einer endlosen Welt wiederfinden, die ihnen gleichgültig gegenübersteht und sie wissen es, sehen sich mit großen, verlorenen Augen um und finden nur Einsamkeit inmitten von Menschen.

Sie blickte nicht auf um mich anzusehen und so saßen wir nur dort, wortlos, und weinten um einen Vater, einen Freund, eine Zukunft. Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen. Irgendwann erhob ich mich und beugte mich über ihn, küsste seine Stirn mit der letzten Berührung und dem Segen der Wüste, bevor ich den kleinen Raum so leise verließ, als könnte ich ihn versehentlich aufwecken. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, Gileats Tochter von seiner Seite zu zerren und so trat ich allein hinaus in das kalte Licht der Krankenstation und ließ sie mit ihm allein.

Ich habe in meinen Leben so selten geweint, dass ich es an den Fingern abzählen kann. Um Gileat weinte ich. Es waren Tränen der Wut und Tränen der Trauer und Tränen des Hasses auf diesen feigen Attentäter und mich selbst, weil ich nicht mehr hatte tun können, weil mir nicht eher klar geworden war, was vor sich ging. Alte, zügellose Wut schrie in mir, ließ mich die Fäuste gegen die Wand schlagen. Sie dellte sich ein und die Plastikverkleidung brach unter dem ungehaltenen Tritt, den ich hinterher setzte. Clarence erschien aus dem Nirgendwo und griff nach meiner Schulter, zog mich sachte in Richtung seines Büros, fort vom Gang, von den Menschen, die hier draußen beunruhigt und besorgt ihrer Arbeit nachgingen. Ich schüttelte seine Hände ab, riss mich los und wandte mich um, fegte mit einer einzigen Handbewegung sämtliche auf seinem Schreibtisch befindlichen Gegenstände zu Boden. Ich schrie die Wut und das Verlangen nach Rache heraus, vergrub hilflose Hände in meinen Haaren, ballte sie zu Fäusten, die wüteten und nicht wussten, gegen wen, die kein Ziel hatten, noch nicht. „Ahhh!“

„Elnarat!“ Clarences Stimme klang warm und vertraut, wenn auch alarmiert. Er legte mir seine Hand auf die Schulter und zwang mich mit sanfter Gewalt auf seinen Schreibtischstuhl. Ich musste mich beherrschen, sie nicht beiseite zu schlagen.

„Du kannst nichts dafür.“

„Oh doch“, grollte ich. „Kann ich.“

„Nein.“

„Du musst es ja wissen.“

„Ich weiß es.“ Er seufzte und öffnete eine Schublade, aus der er eine Spritze hervorholte.

„Was ist das?“

„Ein Beruhigungsmittel.“

„Vergiss es!“ Ich sprang auf und sah ihm in die Augen.

Clarence seufzte erneut und schüttelte den Kopf. Von Neuem legte er mir die Hand auf die Schulter und wollte mich niederdrücken. Ich leistete Widerstand. Dann plötzlich spürte ich, wie er die Finger in einer schraubstockartigen Umklammerung um meine Schulter schloss. Ich ächzte und gab dem unüberwindlich gewordenen Druck seiner Hand nach. Am Rande meiner Gedanken entsann ich mich, dass seine Rechte eine technische Prothese war. Die Wenigsten wussten das. Sukos‘ Schuld. Dieser feige Sohn einer Hyäne hatte sie ihm im Rahmen einer „Befragung“ einfach abgeschnitten. Seitdem hat Clarence diese Prothese, der man nicht ansieht, dass sie ursprünglich nicht zu ihm gehört hatte.

Jetzt sah er mich eindringlich an und legte den Kopf schief. Ein Nicken.

Ich ließ es zu, dass er mir die Spritze setzte und spürte beinah augenblicklich die Wirkung der Droge, die meine ganze Wahrnehmung in eine dicke Decke zu hüllen schien.

„Leg dich hin, Elnarat. Geh in dein Quartier und leg dich hin. Wenn du wieder aufwachst, wirst du ruhiger sein. Ich kenne dich.“

Ich nickte.

Aber ich konnte mich jetzt nicht hinlegen, konnte jetzt nicht schlafen, ganz gleich, welche Drogen Clarence mir auch immer spritzen wollte. Die Wände der Korridore drangen auf mich ein, die Rufe der Männer auf den Gängen, die flackernden Beleuchtungen.

Ich musste raus. Raus in die Wüste, die uns von allen Seiten umgab.

Niemand hielt mich auf, als ich auf den Ausgang zustrebte. Vereinzelte Blicke trafen meinen Rücken und wandten sich wieder ab. Dann stand ich draußen und ich begann zu rennen. Ich rannte so schnell mich meine Füße trugen durch den Sand, zwischen den Dünen entlang. Die gedämpften Schritte meiner schweren Stiefel trommelten über die spitzen Körner, deren Meer sich tausende von Kilometern rings um mich her erstreckte. Mein rasendes Herz wollte nicht ruhiger werden. Der innere Schmerz suchte den leiblichen Bruder und trieb mich, zwang mich zum Rennen. Immer weiter, ich weiß nicht wie lang.

Irgendwann begann meine Lunge von der trockenen Luft der Wüste zu brennen. Meine Füße in den Stiefeln scheuerten und Sand spritzte mir ins Gesicht. Ich rannte. Rannte, rannte... Blutgeschmack im Mund, Tränen in den Augen, blendende Sonne, ich rannte. Einen Dünenkamm hinauf, auf der anderen Seite hinunter, trockene Lunge, aufgeplatzte Lippen, ich rannte.

Ich rannte, bis ich zusammenbrach. Meine Beine knickten einfach ein, als ich die Leeseite eines Barchans hinunter lief. Sand umfing mich, spritze mir in die Augen, in die Ohren, rieselte mir in den Kragen meiner Uniform. Rutschend und rollend kam ich unten an und blieb liegen. Mein Herzschlag hämmerte durch meine Ohren, trocknender Schweiß brannte auf meiner Haut und salzige Tränen verklebten mit dem Sand auf meinem Gesicht. Tiefe Erschöpfung erfasste mich und ließ die Welt um mich her schwanken und gefährlich trudeln. Ich blieb einfach liegen. Irgendwo zwischen den Dünen übermannte mich der Schlaf meiner Erschöpfung. Mir blieb nicht einmal mehr genug Zeit, darüber nachzudenken, dass ich vermutlich sterben würde, wenn ich hier liegen blieb. Die Wüste ist unerbittlich. Auch mit ihren Kindern.

Ich erwachte irgendwann vom Pochen meiner Adern in der Schläfe, die auf dem Sand lag. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel eines neuen Tages, der unvorstellbarer Weise auch ohne Gileat angebrochen war, und brannte auf mich nieder. Inzwischen fiel es mir schwer, Luft zu holen. Die flirrende Hitze über dem weiten Dünenmeer hatte meine Lunge völlig ausgetrocknet.

Ächzend und gegen den Schwindel, der mit dem Durst einher geht, ankämpfend erhob ich mich und sah mich um.

Ich hatte nie Schwierigkeiten, mich in der Wüste zu orientieren. Schließlich bin ich hier aufgewachsen. Allerdings war mir bewusst, dass ich vermutlich sehr weit ins Dünenmeer hineingelaufen war. Weiter, als es intelligent gewesen wäre. Es würde mich höchst wahrscheinlich mehrere Stunden kosten, zum Stützpunkt zurück zu kommen.

Es kostete mich vier. Vier quälende Stunden voller Durst und einer ewigen Weite, die dem Auge keinen Halt bietet und die Gedanken immer wieder auf das eigene Selbst und das Schicksal lenkt. Das ist eine der grausamsten Tücken der Wüste. Sie bietet den Gedanken keinen Ausweg. Man ist gefangen in einer entsetzlich kleinen unendlich großen, unverständlichen Welt.

Als ich die Tore des Stützpunktes erreichte, hatte ich Schwierigkeiten, gerade zu laufen. Schwindel ließ meine Sicht immer wieder aus der Horizontalen kippen. Zum Glück kannte Clarence mich viel zu gut, um tatsächlich anzunehmen, ich sei in meinem Quartier. Darum war er auch da, als ich schließlich direkt vor der Tür zum Hauptkomplex niederging.

Stunden später erwachte ich in meinem Quartier. Alles um mich her war ruhig und dunkel. Mit der ersten Bewegung stellte ich fest, dass in meinem linken Arm eine Kanüle steckte – Clarence hatte offensichtlich dafür Sorge getragen, dass meinem dehydrierten Zustand abgeholfen wurde. Ärgerlich zog ich die Nadel heraus, dann erhob ich mich, um Licht zu machen. Seufzend sah ich mich um. Er hatte wieder einmal Recht behalten. Ich war tatsächlich ruhiger. In der Tat war ich mehr als ruhig. Ich war leer. Alle Gefühle, auch dieser grauenhafte, sengende Schmerz, der mich innerlich zerrissen hatte, als Gileats Löwenherz verstummt war, waren verschwunden. Und mit ihm alles, was ich ansonsten gefühlt hatte. Leere

... Thoul.

Der Gedanke an seine elfjährige Tochter durchzuckte mich wie der Reflex auf einen plötzlich auftretenden Schmerz. Thoul. Ich hatte es ihm versprochen. Das letzte Versprechen an einen sterbenden Freund.

Versprich mir, dass du dich um sie kümmerst, hatte er gesagt, Pass auf sie auf.

Er hätte genauso gut eine Wüstenspringmaus damit beauftragen können, auf die Jungen einer Klapperschlange aufzupassen. Ich hatte keine Ahnung von Kindern. Ich konnte nicht mit ihnen umgehen. Doch ich hatte es ihm versprochen.

Als ich anklopfte und durch die Tür in Thouls Zimmer trat, hörte ich nur das leise Klicken und gleich darauf spürte ich den Wurfpfeil in meine Schultermuskulatur eindringen. Ich zuckte nicht einmal. In einer Geste beiseitegeschobener Wut schloss ich die Augen und hob die Hand, um den Pfeil herauszuziehen.

Thoul saß auf ihrem Bett, die Knie an den Körper gezogen, und blickte mir mit mäßigem Interesse entgegen – der gleiche Ausdruck, den sie im ersten Augenblick jedem zeigte, der sich ihr näherte.

Ich warf das Geschoss in eine Ecke des Zimmers, blickte einen Augenblick zu Boden und versetzte dann der Tür einen leichten Impuls mit dem Mittelfinger, sodass sie ins Schloss fiel. Mit bedächtigen, langsamen Schritten ging ich zu ihr hinüber und blickte auf sie nieder.

Sie sah auf, der Blick ihrer grünen Augen sprang zwischen den meinen hin und her, merkwürdig gefasst und sehr distanziert. Ich hätte mich damals gewundert, wäre ich nicht selbst so entsetzlich leer gewesen. Das war nicht die Art eines Kindes, mit der sie mich ansah. Oder vielleicht doch. Aber die Art eines Kindes eben, das auf einem Militärstützpunkt im Krieg aufwuchs. Kein Wort kam über ihre Lippen. Thoul erhob sich und trat an mir vorbei an ihren Schreibtisch, wandte mir den Rücken zu. Ihre Finger ordneten die Stifte von einer Ecke der Tischplatte in die andere. Ich hörte ihren ruhigen Atem. Sie war groß, fiel mir auf. Schon jetzt reichte sie mir fast bis an die Schulter und ich bin knapp eins neunzig groß. Ihre Hände stemmten sich in die Hüften, dann ließ sie sie wieder hängen. Sie stützte sich mit durchgedrückten Ellenbogen auf den Tisch, fuhr sich durch das kurze blonde Haar. Verzweiflung, Einsamkeit, das Ringen um Stärke und Fassung. Seltsam unkindlich.

Irgendwann wandte sie sich zu mir um und sah mir in die Augen. Keine Tränen. „Wer... übernimmt jetzt die... Armeeleitung?“, fragte sie mit leicht brüchiger Stimme.

„Ich“, antwortete ich milde überrascht. Diese Frage war wohl die letzte, die ich von einem jungen Mädchen erwartet hatte, dessen Vater kürzlich gestorben war.

„Gut.“

Ich blickte zu Boden. Es war, als wären all meine Worte in der Grabesstille, die Gileats Tod in mir zurückgelassen hatte, verhallt. Ich konnte nicht mit ihr über seine Bitte sprechen. In ihrem Leben an seine Stelle zu treten schien mir so falsch, so unmöglich. Wie hätte ich ihn jemals ersetzen können? Zu unvollkommen fühlte ich mich und anmaßend, einfach seinen Platz einzunehmen, als wäre er nicht mein Freund, mein Vertrauter, und mein Anführer gewesen. Als hätte ich ihm nicht zigmal mein Leben geschuldet, als wäre ich nicht bereit gewesen, für ihn zu sterben, um eben das hier zu verhindern.

„Was geschieht jetzt mit mir?“

Kein Entkommen.

„Er hat mich gebeten, deine Erziehung zu übernehmen. Für dich zu sorgen.“ Ich sah sie an und verzog ein wenig die Mundwinkel. „Ich bin von heute an wohl so etwas wie dein Vormund... Ziehvater... irgend so etwas.“ Heilige Wüste, es hörte sich so lächerlich an, das zu sagen. So falsch.

Ihre Augen musterten mich, sie blinzelte mehrmals. „So viel hatte ich mitbekommen. Ich frage, was du jetzt mit mir vorhast.“

Meine Hilflosigkeit lastete auf meinem Herzen. Es fühlte sich an, als wollte es im nächsten Augenblick in der Mitte auseinander springen wie die großen Granitblöcke draußen in der Wüste, wenn die Sonnenhitze dem Nachtfrost oder einem Regenguss weicht. Ich fühlte mich entsetzlich einsam. So einsam wie ich mich selten in meinem Leben gefühlt hatte. Irgendwie hatte ich immer für irgendetwas gekämpft, mit irgendjemandem an meiner Seite. Doch nun stand ich allein, mitten in der Wüste, mit unzähligen treuen Männern in meinem Rücken – und niemandem, der mir sagte, wohin ich sie führen sollte.

Und dann sah ich die Tränen in Thouls Augen. Ich erinnerte mich an stille Abende mit Gileat, an denen ein kleines Mädchen leise weinend in seinen Armen gelegen hatte. „Wo ist Mama, Papa? Warum kommt sie denn nicht wieder?“ Mit einem Schlag wurde mir klar, dass es ihr ähnlich ging wie mir. Wir beide trauerten um einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Menschen in unserem Leben, um den Wegweiser in einer unsicheren Welt und einer noch ungewisseren Zukunft, einen Freund, einen Vater, Beschützer, Halt. Plötzlich tat sie mir entsetzlich leid. Ihre Mutter und nun auch Gileat. Sie mochte nicht so wirken, sich völlig anders verhalten. Aber sie war ein Kind und inzwischen Vollweise und damit war sie vermutlich noch einsamer, als ich es war.

Ich streckte die Hand nach ihrer Schulter aus und legte den Kopf ein wenig schief.

Sie senkte den Blick und folgte der Einladung meiner Geste. Ich nahm sie in die Arme und sie ließ es zu. Ihre in ihrem Achselshirt bloßen Schultern waren völlig ruhig, zuckten nicht. Doch während ihr noch jugenddünner Körper an meiner Seite lehnte und sie ihr Gesicht an meiner Schulter barg, spürte ich wie ihre Tränen in den Stoff meiner Uniform sickerten. Es waren keine Sturzbäche. Kein verzweifeltes Schluchzen entwischte ihren Lippen. Aber ihre warmen Tränen an meiner Schulter jagten mir Schauer über den Rücken.

„Wir werden schon miteinander zurechtkommen“, murmelte ich.

Sie antwortete nicht darauf. Was hätte es auch darauf zu sagen gegeben? Klar, Mann, bist ja die meiste Zeit nur ‘n halber Idiot.

Irgendwann machte sie sich von mir los und wischte sich ärgerlich mit dem Handrücken übers Gesicht. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, verschränkte die Hände im Nacken, sodass die hellen Handflächen im Kontrast zur dunklen Haut ihres Halses standen, und nickte, den Blick zu Boden gerichtet.

Ich musste lächeln. Was sie da machte, war eine von Gileats ureigensten Gesten gewesen. Oh, sie war ihm in so vielem ähnlich, wenn auch nicht in ihrem Äußeren. Auf einmal war ich mir beinahe sicher, dass wir tatsächlich gut miteinander auskommen würden – ich hatte ja gar keine Ahnung!

Thoul blickte auf und lächelte leicht zurück. Ihr Blick fiel auf meine Schulter, aus der ich mir Minuten zuvor den Pfeil gezogen hatte und die schon wieder aufgehört hatte, zu bluten. „Du hast sicher viel zu tun“, meinte sie ruhig.

Ich nickte nur und versuchte nicht, an all die Komplikationen und die Panik zu denken, die sich mit der Nachricht von Gileats Tod im ganzen Land entwickeln würden.

„Dann solltest du dich darum kümmern“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich komme zurecht.“

„Sicher?“

„Sicher.“

Ich nickte. „Gut. Wenn irgendwas ist, du weißt…“ Ein letztes Lächeln, dann wandte ich mich um und ging zur Tür. Als ich mich noch einmal umdrehte, stand Thoul mit verschränkten Armen da und sah mir nach. Ich nickte ihr zu, dann verschwand ich.

Ich unterschätzte sie damals gewaltig. Aber wer erwartet auch von einem elfjährigen Mädchen die Fähigkeiten, über die Thoul, wie sich bald herausstellen sollte, bereits verfügte? Gileat hatte mich über Vieles, was seine Tochter anging, im Unklaren gelassen. Damals konnte ich nicht ahnen, welche Zukunft uns erwartete. Im Augenblick war sie für mich vor allem ein Kind, wenn auch ein sehr außergewöhnliches, und mit Kindern konnte ich eigentlich nicht umgehen. Vielleicht lag es an meiner eigenen, nicht ganz unkomplizierten Kindheit. Auf jeden Fall fühlte ich mich mit dieser Aufgabe zu diesem Zeitpunkt völlig überfordert. Noch.

Vor Gileats Quartier fand ich meinen engsten Freund, den ich bis jetzt in meiner Erzählung schmählich vernachlässigt habe, lässig gegen die Wand gelehnt, die Beine an den Knöcheln gekreuzt. Seine dunkelbraunen Augen maßen mich abwägend, während ich die Tür hinter mir schloss.

„Mikoras.“

Er lächelte traurig. „Hey, Alter. Da ist man mal ein Wochenende auf Heimaturlaub und schon geht hier alles vor die Hunde.“ Ein Kopfschütteln. „Clarence sagte mir, dass ich dich hier finden würde.“

Woher der sowas immer wusste. Ich seufzte tief und wandte mich den Gang hinab. Mikoras stieß sich von der Wand ab und folgte mir. „Und jetzt?“

Ein unwilliges Brummen entwischte mir. „Jetzt darfst du mich mit ‚Kommandant‘ ansprechen“, meinte ich.

„Aber wir machen weiter, oder?“

„Natürlich machen wir weiter.“

„Und Thoul?“

Ich warf ihm einen Blick zu.

„Ok“, sagte er überrascht. „Das wird n Stück Arbeit für dich.“

Was gab es darauf zu antworten?

„Clarence will dich sprechen“, informierte mich Mikoras.

„Was willer?“

„Sehen wie es dir geht. Er sagt, du bist ohne Frühstück Rennen gewesen.“

„Weißt du, wie oft ich unter Hannibals Fuchtel ohne Frühstück Rennen war?“

„Sie haben rausgefunden, wer der Kerl ist, der Gileat die Spritze gesetzt hat.“

Das ließ mich auf dem Absatz kehrt machen und meine Schritte in Richtung Krankenstation lenken. „Warum sagst du das nicht gleich?“, grollte ich.

„Das ist er“, sagte Clarence, indem er auf den Bildschirm deutete. Sein Blick war grau wie der Stahl meiner Macheten. „Die Überwachungskameras identifizieren ihn eindeutig als den Mann, der Gileat umgebracht hat. Er hat gestern Vormittag versucht, den Stützpunkt zu verlassen, wurde auf Grund deiner Anordnung aufgehalten und ist durchgedreht. Er dachte, wir wären ihm auf die Schliche gekommen und hat den Wachmann, der ihn aufhalten wollte, schlicht niedergeschossen, hat versucht zu fliehen. Dummerweise haben wir gute Schützen. Ist nicht weit gekommen.“

Meine Kiefer waren hart. „Wo ist er jetzt?“

Clarence deutete den Gang des Krankenflügels hinunter. Zwei Soldaten standen vor einer Tür Wache. „Ich war so frei, ihn ans Bett zu fesseln.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich wissend an.

Ich wandte mich wortlos um und schritt den Gang hinab, Mikoras auf meinen Fersen. „Hey, hey, Alter, warte mal ‘n Moment! Was genau hast du vor?“ Er holte mit schnellen Schritten auf und legte mir eine schwere Hand auf die Schulter, zwang mich, stehen zu bleiben.

Ich wandte mich ihm zu, unwirsch, unwillig auf Vernunft zu hören.

Er musterte mich mit diesem ehrlichen, offenen Blick, der bis auf die Seele geht. Die wilden Korkenzieherlocken des Korsen, die immer widerspenstig in alle Richtungen abstanden, ganz gleich was er dagegen unternahm, waren mal wieder lang geworden und fielen ihm zu Teilen in die Stirn. Sie sprangen wild hin und her während er sachte das Haupt schüttelte. „Bei allen Winden, Elnarat, du musst dich abregen. Versprich mir, dass du dich abregst, bevor du dem Kerl gegenüberstrittst. Sonst wirst du als Mörder bekannt und nicht als General.“

Meine Augen wurden schmal. „Glaubst du im Ernst, ich könnte mich abregen?“ Ich spürte die Wut in mir an ihren Ketten reißen. Alte Wut, ein Sporn so alt wie die Menschheit, der nur auf den richtigen Moment wartete, hervorzubrechen. „Denkst du, ich werde mich zügeln, wenn mir Gileats feiger Mörder gegenübersitzt? Glaubst du, ich will mich zügeln? Ein feiges Aas wie diese Giftqualle verdient genau das. Rache.“

Mikoras sah mir fest in die Augen. „Das hier ist mehr für dich als Gileats Mörder zu richten. Du weißt das. Es ist leicht, gewisse Grenzen zu überschreiten. In die eine Richtung.“

Mein Blick ruhte sekundenlang auf seinen Zügen, während ich abwägte. Ich wusste, wenn ich jetzt in diesen Raum ging, würde nur einer ihn lebend verlassen. Mikoras kannte mich. Kannte mich besser als die meisten. Beinahe so gut wie meine Mutter mich kannte. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der unsere Blicke ineinander verschränkt lagen. Mikoras hatte Rückgrat. Es gab nicht viele, die das Recht oder die Fähigkeit hatten, mich zurückzupfeifen. Ganz zu schweigen, mir gegenüberzutreten, wenn ich in dieser Art von Laune war. Doch dieser Mann wusste um meine dunklen Punkte. Er wusste, was er tat, als er nun nickte und mich mit einer sanften Berührung im Rücken in Richtung Ausgang schob. „Gehen wir.“

Die Soldatenkönigin

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