Читать книгу Die Soldatenkönigin - Julien Junker - Страница 16
ОглавлениеThoul
Drei Jahre der Ausbildung, die doch so schnell vergangen sind. Alltägliches ist wirklich effektiv, wenn es darum geht, vergehende Zeit zu verschleiern. Traurig und grausam, dass für eine junge Frau wie mich der normale Lauf der Dinge aus immer neuen Scharmützeln mit unseren Nachbarn bestand, aber ich kannte es nicht anders und litt nicht sehr darunter. Obwohl ich wusste, dass es eigentlich anders sein sollte, belastete es mich nicht allzu sehr. Damit zu leben, ständig bedroht zu werden, selbst wenn man sich lediglich seiner Haut erwehrte und eigentlich nichts wollte als seine Ruhe, war für mich damals nichts Ungewöhnliches. Außerdem war ich in diesen Jahren nie von Angesicht zu Angesicht mit den Grausamkeiten einer Schlacht konfrontiert, und so waren die Kämpfe trotz all der Berichte, die ich las, von allen Beteiligten für mich noch am weitesten entfernt. Ich lebte in einem vergleichsweise geschützten Raum. Doch vorbereitet habe ich mich, nicht zuletzt durch Elnarat. Wie wichtig dies war, wurde uns eines Tages mit einem regelrechten Paukenschlag klar, denn auch der effektivste Alltag findet irgendwann ein Ende, und manchmal ist ein solches Ende fürchterlich. In meinem Fall war dieses Ende vor allem fürchterlich laut.
Ich erwachte durch das Schrillen des Alarms. Ich saß plötzlich aufrecht in meinem Bett, aber ich war nicht verwirrt und mein Herz klopfte auch nicht mit der galoppierenden Aufregung, die man erwarten sollte, wenn ein junges Mädchen mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird und sich gleich darauf der Bedeutung des grellen Kreischens um sich her bewusst wird. Nein, ich saß einfach nur da, mir von einem Moment auf den anderen vollkommen darüber im Klaren, was man dem gesamten Stützpunkt sagen wollte und was man von uns erwartete: Attacke auf den Stützpunkt. Alle Mann bewaffnen, bereit zur Verteidigung.
Ich schlüpfte aus dem Bett, das Gesicht eine starre Maske. Es war soweit. Man griff uns an. Kein Zögern. Kein Wenn. Kein Aber. Stattdessen trat ich an meinen Schrank, zog ihn auf, griff hinein und nach meiner Kampfuniform, einer schwarzen, widerstandsfähigen Baumwollhose, einem weißen Hemd mit weiten Ärmeln und einer schwarzen Weste. Ich überprüfte den Inhalt der verschiedenen Taschen von Weste und Hose kurz auf seine Vollständigkeit, aus reiner Routine, dann nahm ich den Waffengurt. Wie immer waren meine beiden Pistolen gereinigt, ebenso wie die Macheten, die ich mir zusammen mit den Waffen um die Hüften schnallte.
Ohne einen überflüssigen Handgriff schnallte ich die Gurtbänder fest, knöpfte von unten nach oben Hemd und Weste zu, flocht mir die Haare vor dem Spiegel zu einem festen Zopf zurück, wie es sich unter den Soldaten schon in so manchem Wüstenkämpfen bewährt hatte. Dann besah ich mich mit einem halben Blick von Kopf bis Fuß, bevor ich mich Richtung Tür wandte. Was ich trug, würde für einige Überraschung sorgen, war ich doch offiziell gar keine Soldatin in dieser Armee, geschweige denn eine der Elitesoldaten, deren Uniformfarben ich mir angeeignet hatte und die nicht den Farben der Truppe im Einsatz entsprachen, hätte man sich so schließlich schwerlich im Gelb und Gold des Sandes verstecken können. Aber im Falle eines offenen Kampfes war das ohnehin hinfällig.
Warum ich mir damals diese Uniform besorgt habe, ist leicht gesagt: Ich sah mich von Anfang an als einen Teil dieser Armee an. Mit dieser Uniform kündigte ich an, unser Land zu verteidigen, komme, was da wolle, und wenn es Elnarat war. Gerade er würde mich mit Sicherheit nicht freiwillig nach draußen lassen, doch ich wusste, dass er im bald aufkommenden Durcheinander wohl kaum die Zeit finden würde, mich irgendwo anzuketten. Er würde mich nicht im Inneren des Komplexes halten können noch erreichen, dass ich mich irgendwo verkroch. Mit meinen fünfzehn Jahren hatte sich mein Sturkopf noch wesentlich weiter entwickelt und mein Wille war überaus stark. Ja, ich war berechnend. Ich wusste, ich würde durch mein Mitwirken draußen auf dem Feld womöglich manchen geschätzten Soldaten vor dem Tod bewahren. Berechnend zu sein ist mitunter essentiell und notwendig. Skrupel gehörten nicht zu meinen hervorstechenden Charaktereigenschaften. Ich wusste, was ich konnte und hielt die Zeit für gekommen. Längst verstand ich mehr von Politik und Taktik als die meisten der rangniederen Offiziere. Mein Ruf tat das Übrige. Viele Schranken würde es heute nicht geben: Auch die Männer kannten meine Fähigkeiten.
Rhythmisch flackerndes rotes Licht begleitete mich auf dem Weg aus meinem Quartier heraus und die Gänge entlang. Wie erforderlich standen Wachen an allen wichtigen Punkten, die mir - wie ich äußerst zufrieden feststellte - zunickten, als ich zügig an ihnen vorbeischritt. Alles lief perfekt ab. Jede Aktion rief eine Reaktion hervor. Unsere Verteidigung stand. Sehr gut.
Ich war es, die Elnarat damals vorgeschlagen hatte, unsere Reihen besser durchzustrukturieren. „Denn als wilder Haufen“, hatte ich ihm gesagt, während er nickend grinste, „haben wir gegen einen gut organisierten Angriff wenig Chancen. Und ein solcher Angriff wird kommen, das wissen wir wohl alle.“
Gut, vollkommen wild waren wir als international angesehene Militärakademie natürlich nicht, aber es war einfach noch nicht genug. Es war wichtig, das ideale Maß zwischen eigenständiger Improvisation und Ablaufprotokoll zu finden und möglichst jeden Fall abzudecken, von Standardsituationen bis hin zum Abgeschnittensein eines Soldaten. Wir hatten uns neu orientiert. Und das, wie ich nun merkte, erfolgreich. Die geänderten Drill- und Trainingseinheiten der Soldaten machten sich bezahlt. Jedem Schritt des Feindes wurde korrekt begegnet, korrekte Reaktion und vernünftige Improvisation waren den Soldaten immer und immer wieder eingebläut worden, denn ein Fehltritt im entscheidenden Moment konnte dutzende Soldaten das Leben kosten, im schlimmsten Fall uns alle. Das zu vermeiden, schulte sich jeder Einzelne. Jeder wusste, was er zu tun hatte, und tat es. In der Kommandozentrale angekommen überprüfte ich die Aufstellung der Truppen draußen, die es bereits in wenigen Augenblicken mit dem Gegner zu tun bekommen würden, sowie den Aufbau der inneren Verteidigung. Selbstverständlich wollte ich auch wissen, wer uns da die Stirn bot. Léon. Die Truppen des Niger hatten unsere äußere Abwehr durchbrochen und Soldaten ins Landesinnere geflogen. Nun, damit konnten wir umgehen. Er würde überrascht sein. Wir waren bereit.
Ich bewegte mich absichtlich so durch die Anwesenden, dass Elnarat mich nicht sofort entdeckte. Ich muss sagen, es war nicht leicht. Einerseits empfand ich mich als alt – beziehungsweise reif – genug und war vor allem willens, endlich nicht mehr nur im Hintergrund zu agieren, andererseits wollte ich trotz meiner Selbstsicherheit keinen Streit mit Elnarat anfangen. Nur war das nun mehr oder weniger nicht mehr zu vermeiden.
Er hatte mich entdeckt.
„Thoul?“
Skepsis, Ablehnung, Ärger. Und eine Hand, die sich auf meine Schulter legte. Ich holte tief Luft und drehte mich zu ihm herum. Da stand er, selbst in seine Uniform gewandet, die schulterlangen dunklen Wellen seiner Haare zurückgebunden, und sah mich tadelnd an.
„Wie steht es?“
Frontal angreifen. Manchmal half es.
„Was bitte machst du hier? Und was soll dieser Aufzug?“
Nun, nicht immer...
Ich erwiderte seinen harten Blick ohne ein einziges Mal zu blinzeln.
„Wonach sieht es denn aus?“
„Denk nicht mal dran! Ich muss nach draußen, ich hab‘ keine Zeit, mich um dich zu kümmern-“
„Das musst du auch nicht.“
„Thoul!“
Es war fast ein Schrei. Geschlossene Augen, geballte Fäuste.
„Wir haben keine Zeit für den Quatsch. Du wirst hier drin bleiben, klar? Du gehst auf gar keinen Fall nach draußen.“
Ich sagte gar nichts. Legte nur die Hand an meinen Gürtel.
„Ich gehe jetzt. Und wehe-“
„Ich werde dich nicht begleiten. Reicht das?“
Der Alarm schrillte in diesem Augenblick wieder los, der Aufruf zur Gegenattacke. Elnarats letzter Blick auf mich war zornig, aber gerade jetzt blieb ihm keine Zeit, mich fortzuschicken. Genauso hatte ich es mir vorgestellt. Elnarat deutete mit dem Finger auf mich.
„Wehe!“
Damit verließ er mit weit ausgreifenden Schritten den Raum, letzten Trupp seiner Soldaten folgend.
Du meine Güte! In einer für mich untypischen Geste verdrehte ich die Augen. Ich war halb wütend, halb enttäuscht, dass Elnarat in mir immer noch nichts als ein kleines Mädchen sah. Immer schon hatte ich es verabscheut, mehr als unbedingt notwendig geschont zu werden. Und gerade Elnarat –
Über die vergangenen vier Jahre hinweg hatte seine Meinung für mich immer mehr an Wichtigkeit gewonnen. Dass er mir jetzt verwehrte, was mir längst zustand, war bitterer, als mir lieb war.
Mit geballten Fäusten wartete ich einige Minuten, dann verließ ich ebenfalls die Kommandozentrale. Mein Ziel war der Hangar und damit die offene Wüste. Was ich nicht sah, war, dass Elnarat lediglich versuchte, mich vor dem zu schützen, was mich da draußen auf dem Schlachtfeld erwartete.
Ich hatte meine Kindheit mitten unter Horden von prahlenden und groben Kerlen verbracht, die mir ein – wie ich feststellen sollte – vollkommen verzerrtes Bild einer Schlacht vermittelt hatten. Mein Vater hatte einst eine Rebellion begonnen und als er noch lebte waren die Männer motiviert, aber dennoch nicht frei von einer nervösen bis angstvollen Spannung gewesen. Verständlich, sieht man sich im Nachhinein ihre Gegner an. Diese Nervosität trugen sie jedoch nie nach außen. Vielmehr klopften sie vor Kämpfen enorm große Sprüche, die durchaus derb ausfallen konnten. Ich hatte also unterbewusst begonnen, Schlachten beinahe als aufregendes Vergnügen zu sehen, ihnen völlig selbstverständlich mit jener draufgängerischen Art entgegenzutreten, die mich die Soldaten gelehrt hatten, ohne es selbst zu merken.
Eine im Nachhinein beinahe beeindruckende Kurzsichtigkeit.
Ich hatte wirklich keine Ahnung vom wahren Charakter eines Gefechts dieser Größenordnung. Das ist das Problem bei Kriegsberichten: Die der Sieger sind überzogen, die der Verlierer verstecken sich hinter nichtssagenden Bergriffen wie „heftige Gegenwehr“ oder „zahlreiche Verluste“. Die Zahl der Toten ließ mich zwar verständlicher Weise nicht kalt, aber wie viel Blut in Wirklichkeit hinter diesen Begriffen geflossen war, das sollte ich erst verstehen, als ich es erlebte.
Das Haupttor war selbstverständlich geschlossen und ich hütete mich, irgendwie zu veranlassen, dass man es öffnete. Nur wenige hundert Meter weiter stand der Feind unseren Leuten gegenüber und ein einziger Saboteur konnte die reine Hölle auf den Stützpunkt loslassen. Ich hielt auf einen der von außen getarnten Nebenausgänge zu, ein schmaler Tunnel, geschaffen von meinem Vater und in eben solchen Momenten für Ausfälle vorgesehen. Meine Absicht war der erste Ein-Mann-Ausfall in der Geschichte unserer Basis.
Die Wache vor der am weitesten links gelegenen kleinen Pforte runzelte bei meinem Anblick die Stirn.
„Miss?“
„Öffnen, bitte.“
Ich ruckte den Kopf in Richtung der Tür.
„Miss, ich habe Anweisung, niemanden passieren zu lassen.“
„Das ist mir bewusst. Aber alle Bodentruppen haben den Befehl zum Gegenangriff bekommen; ein Befehl wiegt sicher schwerer als bloße Anweisungen.“
Der Soldat musterte mich kurz, nickte dann.
Er musste mich kennen. Niemand würde mich nur wegen meines Äußeren oder meines vollkommen einfallslosen Spruches so einfach auf ein Schlachtfeld lassen. Also musste er mich kämpfen gesehen haben.
„Da Ihre Ausrüstung vollständig ist…“
Er tippte einen Code in das Sicherheitsfeld ein und die Tür öffnete sich zischend. Geräusche, die die Zwischentür gedämpft hatte, drangen plötzlich an mein Ohr. Mein Körper spannte sich, doch noch lag eine Tür zwischen mir und der Schlacht, und vor dieser äußeren Tür stand eine Wache, die ich diesmal leider nur allzu gut kannte. Das Gesicht des Mannes verhärtete sich bei meinem Anblick. Da er ab und an mit Elnarat feierte, kannte er mich und – betrachtete man den säuerlichen Ausdruck auf seinen Zügen – wohl auch Elnarats Einstellung bezüglich meiner Rolle in diesem Krieg. Mein Zorn flammte heiß auf, als das erste Wort dieses Mannes an mich ein scharfes „Nein.“ war.
Oh, es gab nur eine Person, die so mit mir reden durfte, und er dort war es wirklich nicht.
Mein Lächeln wurde eine Spur frostiger, während mein Inneres kochte.
„Captain. Was wollten Sie sagen?“
„Sie werden den Stützpunkt nicht verlassen, Miss, unmöglich.“
Sekunde um Sekunde verstrich, während ich dem Mann starr in die Augen blickte und schwieg. Mein Starren konnte schrecklich enervierend sein, immerhin hatte ich es von Elnarat gelernt.
„Captain.“
Schweigen.
„Bitte, Captain. Treten Sie zur Seite. Sie und ich möchten doch sicher eine Szene vermeiden.“
„Miss, Elnarat-“
„Wird nicht erfahren, wie ich nach draußen gelangt bin, Captain.“
Ich zog beide Brauen in die Höhe.
Da nach zehn weiteren Sekunden immer noch keine nennenswerte Reaktion eingetreten war, beschloss ich, es einfach darauf ankommen zu lassen. Ich trat einen Schritt vor, zwei, drei... und war an dem Mann vorbei.
Ein leichter Ton des Missfallens drang noch an mein Ohr, dem aber keine weitere Handlung folgte. Das war auch gut so. Ich hätte in diesem Moment für nichts garantiert. Die Geräusche der Schlacht traten jetzt schneidend in mein Bewusstsein, gaben mir das Gefühl, unter Strom gesetzt worden zu sein. Es war wie an den Tagen endlosen Lernens, in denen ich irgendwann nicht mehr sitzen konnte und auch stehen und gehen nicht half und nichts anderes wollte als rennen, rennen, rennen bis mein Herz raste und meine Lunge von der sengenden Hitze der Wüstenluft brannte, bis ich jeden Muskel im Körper spürte und die Kraft, die in meinen Gliedern schlummerte, mich immer weiter über den Sand trieb, weiter und weiter und weiter ohne Pause. Elnarat hatte gesagt, ich solle das Töten denjenigen überlassen, die dafür ausgebildet waren. Nun – jetzt war ich es selbst. Ich war bereit für diese Schlacht.
Als sich die Tarnung der äußeren Tür abschaltete, diese sich öffnete und mir Weg und Blick auf das Schlachtfeld freigab, dachte ich längst nicht mehr nach. Unerwartet war ich mir plötzlich aller Details um mich herum bewusst. Trockene Luft, die eine metallene Note mit sich trug, strich über mein Gesicht. Kämpfer in zwei unterschiedlichen Uniformfarben rangen überall um ihr Leben. Ich erinnere mich noch an die Schreie und das Knallen und Klirren der Waffen. Dicht neben meinem Kopf schlug eine Kugel in den Felsen, ein Ton, den ich nie mehr vergessen werde. Und dann war da das Blut.
Rot, stechend rot rann es über die Steine, versickerte im Sand, trocknete auf Haut und Uniformen, gerann zu einem alten, toten Braun.
Ich kann den Geruch kaum beschreiben. Süß, scharf, schwer, bitter ist er mit nichts zu vergleichen und brennt sich doch so sehr ins Gedächtnis ein wie kaum etwas anderes, durchdringend und Übelkeit erregend. Das sich mir bietende Bild war eine Ausgeburt des Horrors, doch ich begann weder zu zittern noch zu verzweifeln, selbst dann nicht, als ich einige der Toten als geschätzte Männer wiedererkannte. Ich zog lediglich meine Macheten und trat mitten unter die Kämpfenden. Alles Folgende war wie ein Reflex. Kaum dass ich einem feindlichen Soldaten nah genug war, dass er mich als einen Gegner erkennen konnte und angriff, lag er auch schon am Boden, mit Überraschung in den Augen und ohne einen Ton des Leids.
Es heißt in so vielen Geschichten, nichts sei schrecklicher als der Blick in die Augen eines Sterbenden – doch ich war viel verblüffter von der Tatsache, dass es mich nicht im Geringsten berührte. Ich lief über das Feld, nicht denkend, nur handelnd. Und ich war mir voll bewusst, wie ich zu handeln hatte. Weder die Schreie noch die Bilder noch meine Taten riefen irgendeine Art von Zögern in mir hervor, gerade so, als hätte ich schon viele Schlachten geschlagen, hunderte Kameraden bluten und dutzende sterben sehen.
Erst später begann ich, mich über meine Kälte und Berechnung zu wundern, doch damals und in allen folgenden Schlachten fühlte ich gar nichts. Nicht, als ich einem Mann mit der Linken den Schädel spaltete, noch als ein anderer, wohl ob meiner Jugend, stutzte, innehielt und mit zerfetzter Kehle gurgelnd vor mir zusammenbrach. Ich arbeitete. Es gibt kein besseres Wort, ich arbeitete perfekt. Kein Hieb traf mich. Es war nicht anders über dieses Feld zu wandern, als jede andere alltägliche Arbeit zu verrichten. Dass ich dort war, hatte beinahe eine unnormale Natürlichkeit an sich. Ich war einfach da und tat, was ich zu tun hatte.
Dann kamen die Granaten. Zu allen Seiten begann plötzlich ein entsetzliches Sirren, das sich bis an die Grenze des Hörbaren steigerte, um dann mit ohrenbetäubenden Schlägen tiefe Wunden in Sand und Fleisch zu reißen. Die Schreie wurden lauter. Rauchschwaden verdunkelten die Sonne. Es krachte zu meiner Linken und eine Druckwelle trieb mir Sand wie Schleifpapier über die Haut. Ich kauerte mich zusammen, um dem Schlimmsten zu entgehen, und hoffe darauf, dass die Explosionen mich verfehlten. Kein Laut schlüpfte zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Plötzlich hörte ich einen Mann wenige Meter neben mir panisch um Hilfe schreien und sah auf. Ein Soldat zog wie von Sinnen an den leblos ausgestreckten Händen eines Kameraden, dem die Granate beide Beine weggerissen hatte. Er war bereits jenseits jeder Rettung.
„Hilfe! Irgendjemand!“
„Ist gut. Ich bin da. Kommen Sie...“
Ich legte meine Macheten griffbereit in den Sand und prüfte mit gezieltem Griff, ob der Verletzte vielleicht doch noch lebte, aber meine erste Ahnung bewahrheitete sich. Sein Kamerad jedoch ließ nicht von dem Toten ab.
„Helfen Sie mir. Er braucht einen Arzt. Er braucht-“
„Hören Sie auf, er ist tot. Kommen Sie.“
Als der Mann nicht reagierte, packte ich ihn an der Schulter. Um uns herum zischten immer noch die Kugeln umher. Wenigstens der Granatenhagel hatte aufgehört.
„Sehen Sie mich an. Sehen Sie mich an!“ Mit festem Blick fixierte ich den heftig atmenden Mann vor mit. „Er ist tot. Sie können ihm nicht helfen.“
Weit aufgerissene Augen sahen verständnislos in mein Gesicht. „T-tot?“ Er machte ein hilfloses, klagendes Geräusch tief in der Kehle. „Aber, aber-“
„Sie können ihm nicht helfen. Begeben Sie sich zurück in den Komplex.“
„A-aber-“
„Das ist ein Befehl, Soldat. Los! Sofort!“
Das half. Der Mann rappelte sich auf.
„Ja.“ Er sah mich wieder an und Erkennen lag dieses Mal in seinem Blick. „Ja, Miss.“
„Gehen Sie rein. Waschen Sie sich.“
Das Blut seines Freundes mischte sich auf seiner Haut mit Tränen des Schocks. Ich wusste, er brauchte eine Aufgabe, irgendetwas, und das sofort. Andernfalls würde er sich einfach töten lassen, ohne es überhaupt wahrzunehmen. Er war in diesem Moment absolut keine Hilfe mehr.
„Ja, Miss.“
Er rannte geduckt davon und ich hob die Klingen, meinen rauchenden Zorn an etlichen Gegnern auslassend. Ich half und tötete im gleichen Maß und meinen wenigen Worten wurde erstaunlich bereitwillig Folge geleistet. Ich war aktiv und ließ mich nicht beirren.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Trotzdem ich ständig in Bewegung war, fühlte ich keine Erschöpfung. Irgendwann bemerkte ich, dass sich ein schmales, bitteres Lächeln auf meine Lippen gelegt hatte. Die Schlacht war beinahe gewonnen, die Gegner hatten sich zurückgezogen und ich, trotzdem ich regelrecht in Blut getränkt und mit Sand und Staub überpulvert war, befand mich in einer surrealen Art von Hochgefühl. Die meisten Soldaten kehrten dem Schlachtfeld bereits den Rücken, die Haupttore waren wieder geöffnet, wie ich feststellte. Seufzend richtete ich mich auf und blickte um mich, über die aufgelösten Reihen der Männer. Einige nickten mir zu. Ich hatte ihre Achtung.
Schräg über mir lag der Stützpunkt in seinem steinernen Schutzmantel. Für die Männer bestand keine nennenswerte Gefahr mehr, also lenkte ich meine Schritte erleichtert auf die Basis zu. Auf halbem Weg über die befleckten Felsen blickte ich auf – und direkt in Elnarats Gesicht, der vom Eingang aus das Feld überblickte. Den Schock in seinen Augen würde ich an diesem Tag nicht mehr teilen, das spürte ich. Alles Entsetzen und alle Angst, die ich bei anderen Soldaten beobachtete hatte, waren bei mir ausgeblieben und blieben es auch jetzt und Stunden darauf.
Den Grund dafür sollte ich erst später erfahren. Im Moment galt meine Aufmerksamkeit etwas anderem. Elnarat.
Ich kam neben ihm an und konnte mir das Bild vorstellen, das ich ihm bot.
Innerlich bereitete ich mich auf eine zweite Schlacht ganz anderer Art vor, als er zum Sprechen ansetzte. Auch für diese war ich bereit, mochte er schreien, wie er wollte.
Ich sah ihn an. Blut tropfte langsam aus einem Schnitt an seiner Stirn und lief über seine Wange. Nur ein einziger Satz kam unter leichtem Kopfschütteln leise über seine Lippen.
„Was hast du getan?“
Ich zuckte zusammen. Da war keine Wut – oder noch nicht. Nur Entsetzen und – und das tat weh – Enttäuschung. Kein Schrei, Schlag oder Stich hätte mich tiefer treffen können. Gefühle stürzten wieder auf mich ein. Lähmende Schuld, die Zufriedenheit über eine gewonnene Schlacht, Trauer ob seiner Enttäuschung, ein Anflug von Trotz... ich konnte nicht mehr sprechen. Da war so viel, das ich sagen wollte, nur um den Blick in seinen jetzt so erschreckend leeren Augen weicher werden zu sehen, doch ich brachte kein Wort mehr heraus. Mein Herz pochte unter Schmerzen. Ein einziger Satz Elnarats hatte genügt, um mich völlig außer Gefecht zu setzen. Stumm ließ ich mich von ihm am Arm fassen und in den Hangar führen.