Читать книгу Die Soldatenkönigin - Julien Junker - Страница 14

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Elnarat

Afar war nur der Erste. Der erste Dummkopf, der vergaß, wie unerbittlich die Wüste ist und wie gut unsere Truppen. Ich weiß nicht, welcher Teufel ihn geritten hat, als er sich entschied, von Südwesten auf unsere Stützpunkte vorzustoßen. Selbst mit genügend Truppentransportern hätte er keine Möglichkeit gehabt, mit diesen unsere luftwaffengeschützten Gebiete zu durchqueren. Ihm fehlten schlicht die Ressourcen, einen Krieg gegen uns zu führen. Da ihm die technischen Mittel fehlten, verlegte er sich auf ältere Methoden der Invasion: Er marschierte mit seinen Truppen zu Fuß und in kleinen Gruppen über die Grenze, weit verstreut, sodass es schwierig war, sie alle gleichzeitig zu bekämpfen. Das funktionierte, weil man in der Wüste schwerlich hunderte Kilometer lange Zäune oder Mauern errichten kann, die sich nicht innerhalb kürzester Zeit der Gewalt der Elemente beugen, wenn man sie nicht ständig wartet. Aber das war auch gar nicht nötig. Die Mutter aller Landschaften war der beste Wächter unserer Grenzen, den man sich wünschen konnte. Sie war unbezwingbar und die Wenigsten fähig, ihr Stand zu halten. Dort in unserem Südwesten gab es über hunderte Kilometer durch trockenste Wüste keine Quellen, keine Oasen. Wir hatten dort nicht einmal Stützpunkte. Gelegentliche Patrouillen genügten. Den Rest übernahm die Luftwaffe, übernahmen Satelliten.

Vielleicht hatte Thoul Recht, als sie sagte, Afar eifere nur seinen Ahnen nach. Das würde erklären, warum er in Kauf nahm, dass so viele seiner Soldaten auf den Märschen und Transporten durch das Erg starben. Und so etwas im dreiundzwanzigsten Jahrhundert. Sie waren nicht dafür ausgelegt. Nicht für den Sand, der jeden Schritt zu einer unüberwindlichen Kraftanstrengung macht, nicht für die Wüste, die dem Auge jeden Halt nimmt und nicht für die Hitze und den Durst, der einem die Funken in den Augen springen lässt und jeden Willen zum Weiterkämpfen nimmt. Wir mussten sie nur nah genug herankommen lassen, ihren Marsch durch die Weite mit Hilfe von Minenfeldern verlangsamen und durch die Umwege, die diese erzwangen, verlängern. Als sie schließlich nah genug heran waren, war die Truppenmoral am Boden und nur die Stärksten von ihnen übrig. Es ist eine schreckliche Erfahrung, die eigenen Kameraden verdursten zu sehen. Ein grausamer Tod ist das.

Kein Krieg war es, der dann losbrach, es war ein Gemetzel, die Zerstörung der Ruinen eines einstmals stolzen Heeres. Wir brauchten nichts weiter zu tun, als ihre Versorgungsrouten abzuschneiden, sie in Schach zu halten und zu warten. Unsere Jäger waren gut, sehr gut, und wir hatten Energiereserven.

Es brauchte nicht lange, bis Afar einknickte. Thoul hat das gewusst, genauso wie ich und auch letztlich auch meine Generäle, als sie erkannten, dass unser Satellit tatsächlich nicht gelogen hatte und Afar von Südwesten anrückte.

Irgendwann hörten wir auf, ihre Lager anzugreifen. Es begann mir in der Seele wehzutun, gute Soldaten niederzumetzeln, die das Pech hatten, einen Idioten zum Heerführer zu haben, der sich noch immer standhaft weigerte, seine Niederlage einzusehen und den Rückzugsbefehl zu geben. Wir beschränkten uns darauf, ihre Versorgung weiterhin zu unterbinden, indem unsere Jäger diese Routen unter Beschuss nahmen. Keine sonderlich aufwändige und nicht sehr risikoreiche Kriegsführung. Folglich war ich anstatt an der Front selbst fast nur noch in der Kommandozentrale in Faya zu finden, wo ich die Angriffe koordinierte.

Eines Morgens, wir waren die ganze Nacht über Angriffe geflogen und die Wetterkarten sagten einen der frühjährlichen Sandstürme voraus, gab ich den Piloten Befehl, reinzukommen. Wenn der Sturm die Jäger erfasste, hatten wir wenig Chancen, sie lebend wiederzufinden. Entweder sie starben durch die gefährliche Trudelbewegung, durch den Aufprall oder sie wurden so weit in die Wüste hinaus verfrachtet, dass sie tot waren, bevor wir sie fanden. Selbst mit Satelliten… die wenigsten machen sich eine Vorstellung davon, wie weit die Sahara ist. Da auch die feindlichen Versorgungstrecks mangels Orientierung nicht vorankamen, solang der Sturm tobte, holte ich die Jäger rein.

Wenige Minuten nach meinem Befehl, als die meisten der Piloten schon wieder sicher im Hangar gelandet waren, nahm einer der Funker seine Kopfhörer ab und drehte sich zu mir um.

„Kommandant?“

„Hm?“

„Einer der Jäger gibt keine Bestätigung und macht auch keine Anstalten, dem Befehl Folge zu leisten.“

„Wer sitzt im Cockpit?“

„Ich weiß es nicht, Sir, er gibt keinen Erkennungscode durch.“

Ich runzelte die Stirn. Warum sollte… oh nein. Adrenalin ergoss sich in meine Adern und ließ mein Herz einen schmerzhaften Satz tun, bei dem Gedanken, der mir durch den Kopf schoss. Ich weiß bis heute nicht, wie ich so schnell darauf gekommen bin. Wahrscheinlich war es Instinkt oder, einfacher, reines Glück. Wäre meine Leitung ein paar Minuten länger gewesen, hätte ich nichts mehr ausrichten können und ich würde diese Geschichte heute nicht erzählen.

Meine Hand schnellte zu einem Kom-Icon auf dem großen Taktikrundtisch. „Quartier des Kommandanten“ stand auf dem Label darunter. Solche Direktverbindungen sind lebenswichtig auf einem Militärstützpunkt.

„Thoul, melde dich! Wo steckst du?“

Einen Augenblick lang wartete ich. Aber natürlich würde sie sich nicht melden. Thoul war nicht da. Verstört fuhr ich herum und richtete meinen Finger auf einen der jüngeren Offiziere. „Sie! Sehen Sie nach, ob Thoul in ihren Räumen ist. Und wenn nicht…“, ich ballte die Linke und klickte im Kom-Verbindungsfenster meines Rundtisches auf das Symbol des Towers. „Flugleitung, ich brauche Starterlaubnis in zwei Minuten.“

„Aber… Sir! In zehn Minuten ist da draußen die Hölle los!“

„Räumt die verdammte Runway!“

Sie war natürlich nicht in unserem Quartier. Wie auch. Hätte ich mir ausrechnen können.

Also schwang ich mich in die Lüfte.

Als ich vier Kilometer vom Stützpunkt entfernt war, fiel mir auf, warum sie auf Befehl nicht reingekommen war. Mein Funk fiel aus. Natürlich. Elektromagnetische Interferenzen. Thoul war ja schließlich nicht dämlich. Auch ihr musste klar sein, dass sie einem Sandsturm nichts entgegenzusetzen hatte. Nur, dass man aus einem Cockpit ein äußerst geübtes Auge haben muss, um einen Sandsturm von Ferne zu erkennen. Das Tückische ist, dass die elektromagnetischen Interferenzen eines Sandsturmes in der Atmosphäre viel, viel weiter reichen als seine unmittelbaren Ausläufer.

Ich kam in Sichtweite als sie gerade im Tiefflug zum Angriff auf einen der Trecks überging, der in Ermangelung des entsprechenden Wissens noch nicht geschnallt hatte, was da vom Horizont her auf ihn zu kam und einfach weiterzog.

Meine Finger rasten über die Kontrollen. Ich versuchte verzweifelt, Thoul zu rufen, doch ihr Gleiter hatte absolut überhaupt kein Netz. Das wusste ich so genau, weil meiner auch keins hatte. Also klebte ich mich an ihre rechte Flanke und versuchte, sie mit Lichtzeichen auf mich aufmerksam zu machen. Ob nun vorsätzlich oder unbewusst – sie sah nicht hin. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, dass sie es nicht sah. Nicht bei Thouls Wahrnehmungsvermögen.

Na schön. Dann eben anders. Ich brach seitlich weg und drehte einen Loop, um mich ihr kopfüber zu nähern. Als mein Schatten ihr die Sonne nahm, sah sie auf. Unsere Blicke trafen sich. Ich gab ihr das Zeichen, mir zu folgen. Sie schüttelte den Kopf und deutete auf den Treck, dann drehte sie ab. Ich stöhnte auf und verfluchte ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein. Sie saß da in einem Kampfflugzeug, verdammt!

Ich blickte besorgt in Richtung Horizont. Doch bis dahin konnte ich gar nicht mehr sehen. Der Sturm kam näher. Eine schmutzig gelbe Wolke, die mit rasender Geschwindigkeit auf uns zukam. Blitze zuckten darin, die Luft lud sich elektrostatisch auf. Nun… Thoul brauchte sich eigentlich gar nicht mehr um den Treck zu kümmern. Diese Wüstenstürme schmirgeln einem buchstäblich den Lack von der Karosserie. Und wenn man sich nicht versteckt… es gibt Stürme, die einem das Fleisch von den Knochen fressen.

Thoul hatte ihr Manöver beendet und zog erneut nach oben, um dem Gewehrfeuer zu entgehen, das die Trucks auf sie richteten. Immerhin hatte sie ihren Vogel unter Kontrolle. Noch. Aber der Sturm war nicht mehr weit weg. Mir lief die Zeit davon. Wieder näherte ich mich ihr von oben und sah auf sie nieder. Sie blickte auf. Zuerst zeigte ich in Richtung des herannahenden Sturms, dann tippte ich auf meine eigenen Kontrollen und deutete dann auf ihre. Fuhr mir mit den Fingern über die Kehle. Das weltweite Zeichen für tot. – und Madame zuckte die Schultern um dann erneut für einen weiteren Angriff auf den Treck abzudrehen! … Ich spürte sehr deutlich, wie mein Geduldsfaden riss. Meine Kiefer wurden hart, während meine innere Kesseldruckkontrolle den Dienst quittierte. Die Lady wollte nicht hören. Also bitte.

Ich machte die Waffen scharf und feuerte ihr eine gut gezielte Salve vor den Bug. Nicht um sie zu treffen. Es war die Fernvariante einer saftigen Ohrfeige. Thouls Gleiter bockte im Feuersturm, der ihren Rumpf beinahe harmlos umhüllte. Sie brach ihren Anflug ab und zog nach oben, bis sie mit mir gleich auf war, klappte ihr Visier hoch und starrte mich an, mit einer Mischung aus Schock und Wut. Ich klappte meines ebenfalls hoch und funkelte sie über die zwei Flügelspannen, die uns trennten, hinweg an. Dann streckte ich den Arm in Richtung Stützpunkt aus. „Nach Hause. Jetzt“, grollte ich. Und natürlich konnte sie meine Stimme nicht hören, aber Thoul hat mich zu lesen gelernt. Ihre Lippen waren schmal und bleich, doch nach einem Augenblick des wütenden Zögerns und einem Blick in Richtung Sturm nickte sie knapp, klappte ihr Visier wieder runter und drehte ab.

„Na warte, Mädchen, du kannst was erleben“, brummte ich rau, mein Zorn noch immer ein wildes Brennen in meinen Adern. Ich folgte ihr und bewegte mich auf ihre Fünfuhrposition zu, um einen engen Anflug auf den Stützpunkt durchführen zu können. Der würde nötig sein. Ein Blick nach draußen ließ meinen wütenden Puls härter werden. Das da draußen war ein Monstrum. Und es war schnell. Ich konnte nur hoffen, dass wir schneller sein würden als der Sturm. Wenigstens schien Thouls Wut ihr buchstäblich Flügel zu verleihen. Mit massiver Beschleunigung jagten wir auf den Stützpunkt zu, Thoul wenige hundert Meter voraus.

Wir waren trotzdem nicht schnell genug. Der Sand holte uns ein. Mich zumindest. Es war wirklich nicht mehr weit, doch die wütenden Elemente streckten die langen gelben Finger nach mir aus, gerade als Thoul in einen schnellen, aber kontrollierten Landeanflug ging.

Ein raspelndes, widerlich reißendes Geräusch ging mir durch Mark und Bein, als sich das linke Triebwerk festfraß. Der Jäger ruckte herum und kippte. Ich fluchte. „Dreck, verdammter!“

Einmal mehr wurde mir klar, warum ich die Flieger bei Sturm reinholte: Selbst der beste Pilot – sprich Mikoras – konnte nicht mit Sand im Getriebe fliegen. Selbst ein normaler Sandsturm ist einfach zu stark, dagegen kommt niemand an.

Krampfhaft versuchte ich den Jäger zu stabilisieren. Ich drosselte die Hecktriebwerke und zog nach links. Unter mir hatte Thoul sich durch die Deckentore gerettet. Sie war schnell gewesen, und das Bremsmanöver dürfte eine Menge Staub aufgewirbelt haben, doch die Chancen standen gut, dass sie in Sicherheit und unverletzt war. Höchstens etwas schwindlig. In meinem Fall konnte sich das etwas interessanter entwickeln. Ich ging in Schräglage auf Landeanflug. Der Gleiter begann heftig zu rucken und schüttelte mich durch. Meine Hände verkrampften sich ums Steuer, während mein Blick sich starr auf die geöffneten Hangartore heftete. Ich riss das Steuer herum, um nicht mit den Flügel hängen zu bleiben – schwerer Fehler. Auf dem kurzen Weg bis zum Boden, beziehungsweise der Rückwand, hatte ich keine Zeit mehr, den Flug wieder zu stabilisieren. Immerhin schaffte ich es, in einem sehr flachen Winkel aufzusetzen. Ich schlitterte. Der Hangar ist aber für Punktlandungen vorgesehen… Vor mir sprangen die Soldaten aus der Bahn, duckten sich unter meinen Tragflächen weg, das Metall kreischte auf dem Untergrund, die Männer schrien sich aufgeregte Warnungen zu. Ich krachte gegen die Rückwand. Der Stützpunkt erbebte. Danach war es still.

Ich öffnete die Augen – und blickte in Richtung Dach. Dann fiel mir auf, dass ich auf den Kontrollen lag. Nicht so sehr, weil ich auf dem Rücken lag und das Hangardach anstarrte, sondern viel mehr, weil mir die vielen kleinen Hebel der Kontrollen zum Teil im Fleisch steckten. Ich stöhnte. „Oh… my…“ Meine Bauchmuskeln spannten sich und hoben mich aus den dutzenden winzigen Speerspitzen. Gott, wie ich es hasste, wenn mein Rücken zu leiden hatte! Ich kletterte von den Kontrollen runter und fädelte mich wieder in den Pilotensitz, drückte die manuelle Kontrolle für das Verdeck und griff nach oben um mich ins Freie zu ziehen. Dort kraxelte ich den abschüssigen Weg über die Hülle meines schrägliegenden Vogels und rutschte ächzend über die Tragfläche nach unten. Die Halle war stumm. Überall hoben sich vorsichtige Köpfe und Soldaten kamen aus der Deckung hervor. Ich stemmte kurz die Hände auf die Knie, um dem leichten Schwindelgefühl zu trotzen, dann richtete ich mich auf und schritt in Richtung Thouls Gleiter, der ordentlich geparkt zwischen den anderen stand. Sie kam mir entgegen und ich konnte an ihren Bewegungen erkennen, dass sie unverletzt war. Ein Stein fiel mir von Herzen.

„Tolle Landung“, meinte sie. „Sehr elegant.“

Jep, der ging’s gut. Definitiv unverletzt. Die Sorge verschwand. Was blieb, war… Ärger.

„Diese hoch elegante Landung war nur notwendig, weil du es für nötig gehalten hast, in einen Gleiter zu steigen und draußen Angriffe zu fliegen, Schätzchen!“, fuhr ich sie an.

Oh! Ich war sauer.

„Ich – “

„Schnauze! Ich will wissen, wie du auf die BESCHISSENE Idee gekommen bist, da draußen Kampfpilot zu spielen! Das da draußen ist Krieg, Schätzchen, kein Platz um sich dem gutgemeinten Ratschlag seines Mentors möglichst demonstrativ zu widersetzen!“

Sie sah mich wütend an.

„Seit wann kannst du überhaupt fliegen?!“

„Na rate mal, Elnarat! Ich weiß doch, wie die Dinger funktionieren! Ich repariere sie ständig – auf deinen Wunsch hin!“

„Oh! Sehr gut! Dann kannst du dich gleich um das bedauernswerte Stück Technik kümmern, mit dem ich fast die verdammte Hangarrückwand durchschlagen habe, weil ich längerfristige Auswirkungen deines monumentalen Leichtsinns verhindern musste!“

„Ist ja gut“, meinte sie genervt, „Ist doch nichts passiert!“

Das nennst du nichts passiert?!“, donnerte ich, mit dem Finger auf mein Flugzeugwrack deutend. „Weißt du, was die Dinger wert sind?“ Mein Blick taxierte sie, grub sich in ihren, hielt ihn in Ketten. „Gar nichts ist gut, Thoul!“, schrie ich sie an. „Du hättest draufgehen können, da draußen! Mach dir das klar, Grünschnabel!“ Ich hätte ihr am liebsten ein paar gefeuert und vergrub stattdessen die Hände in meinem Haar, ballte sie darin zu Fäusten. „Scheiße!“

Sie sah mich ein wenig betreten und doch mit einer guten Portion Trotz in den grünen Augen an. Mir fiel auf, dass sie ihr Haar wachsen ließ. Sie schob es mit einer kleinen, beiläufigen Geste hinters Ohr. Ich schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Thoul hatte sich darauf verlegt, keine weitere Widerrede zu versuchen, die dem Feuer meiner Wut nur weitere Lunte geben würde. Ihr großer, kluger und so wenig kindlicher Blick schien mir zu sagen: Du weißt, dass ich es kann.

Dass sie fliegen konnte, hatte ich gesehen. Nur woher war mir ein Rätsel. Wahrscheinlich war, dass ihr einer der Jungs, die im Hangar arbeiteten und mit denen sie öfters gemeinsam an der Jägern herum baute, heimlich Flugstunden erteilt hatte. Wenn ich den erwischte!

Ich schüttelte den Kopf und blickte erneut zur Decke.

„Geh. Und lass dir besser nicht einfallen, mir heute noch mal unter den Augen zu treten. Keine Lust, dass ich noch einen Tobsuchtsanfall kriege und mir… ach, keine Ahnung.“

Sie stand noch immer da und blickte mich an.

„Na los! Zisch ab!“

Ihre Lippen wurden schmal. Eine unruhige Spannung lief durch ihren Körper, so als kämpfte sie innerlich gegen ihre eigene Wut. Dann, wie mit einem inneren Ruck, setzte sie sich in Bewegung und schritt durch die Halle davon, vorbei an den Soldaten, vorbei an den Technikern, vorbei an den Lotsen, die uns umsichtig von Weitem beobachtet hatten. Ich fuhr mir erneut mit den Händen durchs zerzauste Haar, aus dem leise hellbrauner Sand rieselte, und spürte, wie mein Blut mir langsam den Rücken herunter sickerte. Dann setzte auch ich mich in Bewegung – auf die Fluglotsen zu, die bei jedem Schritt, den ich mit grimmiger Miene auf sie zukam, kleiner wurden. Die sechs standen in einer Reihe nebeneinander und wechselten unheilschwangere Blicke.

„So“, sagte ich mit rauer Stimme. „Und jetzt sagt mir bitte jemand, welcher von euch…“, ich biss die Kiefer aufeinander und blickte für eine halbe Sekunde zur Seite, „… INKOMPETENTEN IDIOTEN sie in diesen verdammten Flieger hat steigen lassen!“

Betretene Stille. Sekundenlang hörte man nur den oben über das Hangardach fegenden Sand, bevor sich einer von ihnen doch zu einer Antwort ermannte. „Ich… äh… sage es nur ungern, Sir, aber wir kontrollieren nicht jeden Soldaten, der ins Cockpit steigt.“

„Großartig!“, donnerte ich. „Dann sagt mir mal, wer ihr Starterlaubnis erteilt hat! Ich nehme an, die muss nach wie vor jeder Pilot erbitten, bevor er durch dieses Tor startet?“ Ich hob meine von der Schulter her blutüberströmte Hand und deutete nach oben. Mein Blick musterte einen nach dem anderen. „Also?“

„Sir, in dem allgemeinen Durcheinander…“

„Durcheinander! Durcheinander? Das war noch nicht einmal eine Stresssituation, verdammt! Was soll das werden, wenn hier in ein paar Monaten tatsächlich die Hölle los ist, weil unsere Nachbarländer sich alle zum Angriff entschließen? Am besten alle auf einmal? Wenn zweihundert weitere Piloten hierher versetzt werden und aus diesen Hallen starten? Was wird dann? Durcheinander! Da draußen waren höchstens ein paar dutzend Gleiter unterwegs, verflucht!“

Einer der sechs Fluglotsen trat vor und sah mir todesmutig ins Gesicht. Sein Rücken war so hart und grade, als hätte er einen Stahlträger verschluckt. Oha. Rückgrat? „Es ist meine Schuld, Sir, sie ist einfach reingekommen und hat sich in den Gleiter gesetzt. Nach einer Starterlaubnis hat sie nicht gefragt. Sie ist einfach losgeflogen. Da konnte ich die Tore schließlich schwerlich geschlossen halten…“

Oh… dieses kleine, berechnende Miststück!

„Wie zum Henker ist sie denn überhaupt in diesen scheiß Gleiter gekommen, Sergeant?!“, herrschte ich ihn an, „Solange hier Flugverkehr herrscht, hat – sie – hier – keinen – Zutritt!“ Mein Herz schlug schwer und hart in meiner Brust. „Und es ist natürlich auch niemandem von euch Schlappschwänzen in den Sinn gekommen, mir Bescheid zu geben, dass mein Mündel soeben abgehoben ist, um sich in einen verfluchten Luftkampf einzumischen!“ Ich schluckte. „Sie hätte tot sein können!“ … und das hätte ich mir vor allen anderen nicht verziehen. Mit einem leichten Kopfschütteln drehte ich mich um und hielt für einen Augenblick inne, weil Schmerz durch meinen Rücken brandete. „Seht zu, dass sowas nicht noch mal passiert. Habt ihr verstanden?“

„Ja, Sir.“

Mit einem leichten Nicken ging ich davon. Es hatte keinen Sinn, die Männer weiter zu beharken. Es war jedem von ihnen klar, worum es mir ging. Thoul hatte einfach die Situation für sich genutzt und alle Regeln in den buchstäblichen Wind geblasen.

Ich spürte den Sand in meiner Kleidung auf meiner Haut reiben, während ich davon schritt und zog meine Pistole aus dem Gürtel, um zu sehen, wie es ihr ergangen war. Ich spannte sie. Sand rieselte aus den Fugen, der Schlitten blockierte. Die wäre dann wohl reif für die Wartung.

„Meint ihr, er weiß, dass Gileat sie hat fliegen lassen, wenn er dabei war?“, murmelte einer der Lotsen.

Ich blieb wie angewurzelt stehen und pfefferte mit aller Gewalt meine Waffe vor meine Füße zu Boden. Sämtliche Gespräche im Hangar verstummten. Ich konnte die Augen der Männer auf meinem Rücken spüren. Am liebsten hätte ich einen Wutschrei gen Himmel geschickt. Gileat hatte es mir wirklich nicht leicht gemacht! Die Hände in die Seite stemmend rang ich um Fassung. Man konnte nicht gerade sagen, dass er an dem Kind viel Erziehungsarbeit geleistet hatte. Aber einen Gleiter fliegen, na klar, keine Frage!

Auf dem Weg zu meinem Quartier fing Clarence mich ab – wohl von Mikoras dazu instruiert, der mich, als ich die Halle verließ, mit einem knappen Nicken gegrüßt hatte – und beförderte mich auf die Krankenstation. „Dein Rücken sieht aus, als wärst du auf einem Nagelbrett zu liegen gekommen, Junge.“

Ein Lächeln flog über meine Lippen. „Nicht ganz. Aber das heilt.“

„Lass mich wenigstens die Stoffreste aus den Wunden sammeln.“

Mit einem tiefen Seufzen ergab ich mich der sicheren Bestimmtheit meines Freundes und ließ mich auf einer der Liegen nieder.

Am Abend saß ich über den vielen Nachrichten und Funksprüchen der letzten Tage und versuchte, mich auf die Planung der Flugrouten zu konzentrieren. Vergeblich. Noch immer summten der Zorn und der Schock in meinem Blut, immernoch Angst um Thoul, um diese unvernünftige, vorlaute Göre, die sich mir und meinen Befehlen widersetzte und sich in Gefahr brachte, jeden Mann auf diesem Stützpunkt eiskalt berechnete…

Frische Wut kam in mir auf, als ich an ihr trotziges Gesicht dachte und wie es mir zu sagen schien, dass ich sie unterschätzte. Das tat ich nicht. Ein gutes halbes Jahr hatte voll und ganz ausgereicht, um mir ihrer Fähigkeiten bewusst zu werden. Sie war talentierter als so mancher Soldat unserer Elite.

Das Problem war, dass sie das wusste und dass sie dabei aus den Augen verlor, dass sie erstens nicht fertig ausgebildet und zweitens trotz allem noch ein Kind war – zumindest rein physisch und, was noch viel wichtiger war, in den Augen aller anderen. Ein großer Nachteil, wenn die unerbittliche Maschinerie des Krieges zu arbeiten beginnt. Das ist der Moment, in dem man besser nicht schwach wirkt. Kinder sind Opfer und diese Überzeugung des Feindes macht sie angreifbar.

Mir war klar, dass sie nichts mehr wollte, als hinaus und für das Land ihres Vaters kämpfen. Wie auch anders. Sie wuchs zwischen Soldaten auf, die nach außen nur ihre Stärke und nie ihre Angst zeigten. Ihre Mutter war eine Kriegsheldin, ihr Vater eine Legende von einem Heerführer gewesen. Wie sollte sie wissen, was da draußen ablief? Wie sollte sie es nicht als Normalität ansehen, zu töten? Was für einen Welt!

In mir wuchs die Entschlossenheit, sie so lange wie möglich von da draußen fernzuhalten – auch wenn mir klar war, dass das im Laufe der nächsten Jahre zu einem nahezu aussichtslosen Unterfangen werden würde. So viel stand fest: Gileat war ein guter Heerführer gewesen. Aber kein besonders verantwortungsbewusster Vater, auch wenn er dieses Kind über alles andere geliebt hatte. Vermutlich hatte er das gewusst. Und wahrscheinlich war ihm auch klar gewesen, was er verlangte, als er mir auf seinem Sterbebett ihre Vormundschaft angetragen hatte.

Ich erhob mich seufzend und ging hinüber zu meinem Spirituosenschrank, öffnete nachdenklich dessen Glastür und schenkte mir einen Cognac ein.

In diesem Augenblick öffnete sich Thouls Zimmertür und sie trat heraus, offensichtlich auf dem Weg in die Küche. Als sie mich dort stehen sah, hielt sie inne und warf mir einen missbilligenden Blick zu, der gleich darauf zu meinem überquellenden Schreibtisch wanderte.

„Meinst du nicht, es wäre besser, einen klaren Kopf zu behalten, wenn Afar da draußen lagert?“

Ich musterte sie finster und stürzte trotzig den Inhalt meines Glases hinunter, woraufhin ich von Neuem nach der Cognacflasche griff. „Lass das meine Sorge sein, Schätzchen. Solange ich nicht irgendwelche Möchtegernpiloten retten muss, läuft die Sache schon.“

Sie stieß den Atem aus und setzte ihren Weg zur Küche fort.

„Sag mal…“, meinte ich, „rein interessehalber…“

Der Zeigefinger der Hand, in der ich mein Glas hielt, richtete sich lässig auf Thoul als sie sich mir zuwandte. „Du bist sehr schnell runter gegangen. Bist du bei der Notlandung nicht verletzt worden?“

„Trägheitsdämpfer, Elnarat. Nicht weiter schwer. Und dann gibt es da so eine nützliche Erfindung namens Sicherheitsgurt. Den solltest du auch mal benutzen. Dann leidet dein Rücken nicht so sehr.“

Für einen Augenblick herrschte Stille. Dann begann ich zu lachen. Ihr Gesicht hellte sich auf.

„Trägheitsdämpfer, was? Nicht schlecht.“ Ich sah sie mit einem leichten Lächeln an. „Du bist gut geflogen, Schätzchen. Nur – tu mir den Gefallen und überlass die Kampfeinsätze noch ein paar Jahre den Soldaten. Mir ist klar, dass du dich als erwachsen genug betrachtest. Aber das bist du nicht. Lass dir das gesagt sein. Im Augenblick macht es einfach niemandem nennenswerte Probleme, dich an die Wand zu klatschen, wenn du verstehst, was ich meine.“

Zu meiner Überraschung nickte sie. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Ich schüttelte leicht den Kopf und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Manchmal wurde ich nicht schlau aus dem Mädchen. Eigentlich so gut wie nie. Damals. Aber zumindest schien sie zwischenzeitlich so etwas wie den Ansatz von Vernunft entwickelt zu haben. Vielleicht hatte ich Glück und die in dieser Hinsicht offensichtlich erstaunlich latenten Gene ihres Vaters würden ihren Einfluss mit den Jahren doch zu entfalten vermögen.

Ich war hundemüde, als ich ein paar Tage später in den frühen Morgenstunden zurück in unser Quartier kam. Der Grund dafür war, dass ich über Nacht (äußerst ordnungswidriger Weise) bei einer unserer jungen Technikerinnen gewesen war und folglich wenig geschlafen hatte. Seit Thoul bei mir wohnte, vermied ich es, diese gelegentlichen nächtlichen Aktivitäten in meine Räume zu verlegen.

„Thoul?“

Sie war nicht da.

„Na großartig.“

Ich stapfte stirnrunzelnd wieder hinaus und in die Kommandozentrale.

„Ist Thoul hier?“, fragte ich in die Runde. Die Offiziere schüttelten den Kopf.

Hä?

Als nächstes machte ich mich auf den Weg zum Hangar. Letzte Anlaufstelle.

„Hat einer von euch Thoul gesehen?“, fragte ich einen Techniker, der mir entgegen kam. Er nickte und deutete ganz ans andere Ende der Halle. Mikoras spähte unter einem der Gleiter hervor, die er liebevoll seine Babys zu nennen pflegte. „Sie repariert den abgestürzten Gleiter“, informierte er mich grinsend.

„Sie… was?! Das sollte ’n Scherz sein!“

Ich ging nach hinten und fand Thouls Füße unter dem flachen Rumpf des Fliegers. Lächelnd ging ich in die Hocke, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und sah, die Finger ineinander verschränkend, unter den Bauch des Jägers. Sie hantierte mit irgendwelchem Werkzeug an den Treibstoffleitungen herum.

„Das sollte ’n Scherz sein.“

Sie sah nicht einmal zu mir auf.

„Du musst das Ding nicht reparieren“, beteuerte ich. „Das ist ’ne ziemlich knifflige Sache. Bei so ’nem Sturz wirken Kräfte, die kannst du dir kaum vorstellen.“

„Ach“, war ihre ganze Antwort.

Ich lachte. Meine schlechte Laune von vor ein paar Tagen war verschwunden. „Jetzt komm schon da unten vor! Wie lange arbeitest du überhaupt schon daran?“

„Na, immer, wenn du nachts weg bist.“

Ich biss mir auf die Lippen. Scheiße. Na toll. „Soll das heißen, du arbeitest nachts im Hangar? Wie wär’s mal mit Schlafen?“

An dieser Stelle sah sie mich dann doch an. Ihr ölverschmiertes Gesicht zierte ein breites Grinsen. „Das. Von dir?“

Ich lachte. „Das ist was anderes.“

Ohne ein Wort wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gleiter zu. Sie hob das Werkzeug, setzte es an und zog. Irgendetwas rastete ein. Thoul legte ihr Hilfsmittel klirrend zur Seite und klatschte sich den Staub, den der Sturm in den Tiefen des Gleiters versenkt hatte, von den Händen, dann kam sie vor und grinste mich an. Ich mochte dieses Grinsen.

„So“, meinte sie. „Dann wollen wir mal sehen…“

Sie ging zum Cockpit, während ich den Blick über den Jäger schweifen ließ.

Diese Dinger sahen aus wie große Falken. Ihre Tragflächen waren in Ankerstellung angebracht, sodass sie, die Schwerkraft nutzend, im lautlosen Segelflug große Geschwindigkeiten erreichen konnten. Allerdings konnten sie auch die thermischen Windverhältnisse der Wüste nutzen, wenn man die Flügelstellung mechanisch veränderte. Sie waren flach, sehr flach, und silbrig glänzend, sodass sie die Hitze der Wüstensonne wegreflektierten. Für zwei Piloten ausgelegt flogen sie sich dennoch am besten allein, da man im Cockpit, das mit etwas Phantasie der Schnabel eines Raubvogels hätte sein können, einen annähernden Rundumblick hatte. Sie waren brennstoffzellenbetrieben, konnten jedoch optional auch ihre Heckdüsentriebwerke verwenden, wenn es einmal schnell gehen musste. Ansonsten kamen sie mit den normalen Triebwerken aus, die links und rechts je zu zweit an den breiten Flügeln angebracht waren.

Ich liebte diese Gleiter. Gute Maschinen. Und sie waren ein herrlicher Anblick.

In diesem speziellen Fall unterlag die Ästhetik allerdings einigen kleineren Mängeln: Der Lack wies lange, üble Kratzer auf und das Metall des aufgeklappten Unterbodens zeugte mit tiefen Rillen von der Schlitterpartie in Richtung Rückwand.

Doch wenn ich es genau bedachte… Der Rest war… einwandfrei in Ordnung! Und das nach der Landung? Selbst das Triebwerk, das nur noch an einem einzigen Kabel an der Tragfläche gehangen hatte, als wir den Vogel wieder aufgestellt hatten, sah wieder tiptop aus.

Ein leises Surren lief plötzlich durch die Maschine und ich sprang im letzten Moment hinter dem Triebwerk hervor, bevor es sich einschaltete und mich beinahe mit dem heißen Abgasstrahl versengt hätte – die Dinger waren trotz der Brennstoffzellen nötig, wenn man zwischendurch mal Fersengeld geben musste.

Thoul sprang mit einem zufriedenen Lächeln aus dem Cockpit und trat neben mich. Ihrer Miene war mit keinem Zeichen anzusehen, dass sie mich soeben beinahe lebensgefährlich verletzt hätte. Ich schüttelte den Kopf. Ihr war offenbar ganz selbstverständlich klar gewesen, dass ich rechtzeitig reagieren würde. Ihr Blick schweifte zufrieden über den fauchenden Jäger. „Klappt!“, freute sie sich. „Jetzt brauche ich nur noch die Kratzer neu zu lackieren, dann habe ich ihn wieder auf Vordermann.“ Sie bedachte mich mit einem trotzigen Seitenblick. „Zufrieden jetzt?“

Ich vergaß das Triebwerk. Überrascht stand ich und starrte auf den Gleiter. Himmel! Das war… „Gute Arbeit!“ Ich hob die Hände und ließ sie wieder fallen. „Wirklich gute Arbeit, ich bin…“

„Stolz?“

„Angenehm überrascht.“

Thoul legte den Kopf leicht schief.

Ich lachte. „Nein, ich bin stolz!“, gab ich zu. Mein Arm legte sich um ihre Schultern und drückte sie leicht an mich. „Ich bin stolz“, wiederholte ich mit einem weiteren Blick auf den Gleiter. Dann blickte ich auf sie nieder und lächelte. „Das mit dem Lackieren kannst du auch später machen. Hast du schon gefrühstückt? Nein? Gut. Ich nämlich auch nicht.“

Jetzt war sie an der Reihe, zu lachen.

Afar kapitulierte. Selbst der hartgesottenste Soldat hält in der Wüste nicht ohne Wasser durch. Wir eskortierten ihren Rückzug mit unseren Gleitern, gelegentlich Versorgungspakete für die durstenden Soldaten abwerfend.

Dennoch – wir machten uns keine Illusionen. Afar war nur der erste. Der erste in einer langen Reihe von Feldherren, die uns angreifen sollten, weil sie einem trügerisch sicheren Weg folgten. Mir war klar, dass Thoul den Rest ihrer ernsten und schweren Kindheit im Krieg verbringen würde.

Sie wuchs heran. Ihre schlanke Gestalt streckte sich weiter, ihr blondes Haar wurde länger und ihre Silhouette weiblicher. Mittlerweile trainierte sie mit dem Rest der Soldaten und stand ihren älteren Kameraden in nur wenigen Dingen um etwas nach, das sie auf anderen Bereichen mehr als wett machte. Sie war schnell und ausdauernd im Laufen, stark und entschlossen im Kampf, ihre Reflexe stellten jeden einzelnen von ihnen in den Schatten und was ihr in Disziplinen wie Gewichtheben gegenüber den anderen fehlte, glich sie durch ihre Cleverness und ihr unerschütterliches Selbstvertrauen aus. Ich war stolz auf sie und ich glaube, so ging es auch vielen anderen. Wir mochten unsere ungestüme, raue und freche Göre, selbst in Anbetracht dessen, dass sie sich ihren Hang zur Gewalt nicht abgewöhnt hatte. Es kam vor, dass sie einem der Jungs beim Stockkampftraining die Nase oder irgendetwas anderes brach. Diesem Umstand verdankte sie wohl den Bedacht, mit dem man ihr begegnete. Hinzu kam, dass man unwillkürlich dazu neigte, ihr eine Autorität zuzuerkennen, die jungen Mädchen normalerweise abgeht. Vermutlich kam es daher, dass sie erstens Gileats Tochter war – Gileat hatte in den Köpfen eines jeden einzelnen der Jungs bleibende Eindrücke hinterlassen – und zweitens meine Schülerin, drittens, weil sie das so selbstverständlich erwartete, dass es uns schon wahrhaft unnatürlich erschien, uns ihr zu verweigern. Und viertens, weil die allermeisten ihre Kampfkraft kannten, oder sie gar am eigenen Leib zu spüren bekommen hatten, eine Erfahrung, die angesichts des jungen Mädchens, mit dem sie in Zusammenhang stand, ebenfalls bleibenden Eindruck machte. Mit fünfzehn Jahren hatte sie ihren Ruf als Kämpferin weg. Sie war die neben mir bekannteste und berüchtigtste Person auf dem ganzen Stützpunkt und ob ihres sich aus eigenem Antrieb immer weiter ausdehnenden Tätigkeitsfeldes auch bald darüber hinaus.

Rekordverdächtig.

Thoul war nicht nur in meinen Augen das bemerkenswerteste Kind, das sich denken ließ.

Aber ich greife vor. Schon wieder.

Sie war dreizehn. Seit einem guten viertel Jahr trainierte sie mit dem Rest der jungen Soldaten, die ich immer noch persönlich für unsere Elite ausbildete. Ausdauertraining, für Thoul ein etwas eingeschränktes Krafttraining, Nahkampf.

Die Jungs atmeten noch immer schwer vom anfänglichen Dauerlauf, mit dem wir unser Training jedes Mal eröffneten, während schon die ersten Stöcke durch die weite Halle klapperten. Ich blickte mich erstaunt um und sah Thoul mit einem jüngeren Rekruten kämpfen. Die beiden wirbelten die armlangen Stöcke gekonnt um sich herum und ließen sie gegeneinander schlagen. Ein unglaublich dynamischer Anblick. Er rief mir in Erinnerung, warum ich im Stockkampf immer eine der schönsten Kampfsportarten gesehen hatte – und eine der martialischsten Arten, zu töten. Traditionell waren all unsere Truppen in einer Mischung aus dieser Kunst und dem altbewährten Krav Maga unterrichtet. Dafür gab es einen einfachen Grund: Der Krieg ist eine Materialschlacht und man muss sich etwas überlegen, für den Zeitpunkt, da einem selbiges ausgeht. Man kann schließlich nicht einfach nach Hause gehen, wenn einem die Kugeln ausgehen, oder sich hinter dem nächsten Dünenkamm verstecken und hoffen, dass dem Gegner zuerst das Wasser ausgeht. Darüber hinaus haben die handelsüblichen Handfeuerwaffen einen recht begrenzten Wert, wenn es um Nahkampf geht, da man im allgemeinen Gemenge nicht sicher sein kann, nicht auch einen Kameraden zu erschießen, wenn jeder durcheinander ballert. Aus diesem Grund hatten wir die uralte Stockkampfkunst der Philippinen übernommen und zusammen mit dem israelischen Krav Maga zur Perfektion getrieben, was sich neben der genialen Koordinationsfähigkeit, die sie mit sich brachte, in der Konzentration und dem Reaktionsvermögen bezahlt gemacht hatte. Wer sich mit unseren Truppen auf Augenhöhe begab, konnte sich auf einiges gefasst machen.

„Also schön, Jungs!“, rief ich. „Nehmt euch ein Beispiel an den beiden Jungspunden, schnappt euch eure Stöcke und fangt an!“

Die Rekruten stützen noch immer die Hände auf die Knie und atmeten schwer. Ich klatschte in die Hände.

„Na los, los, los, los, los!“

Sie richteten sich keuchend auf und gehorchten. Mit einem Lächeln und kaum verhohlenem Stolz blickte ich zu Thoul und ihrem Trainingspartner hinüber. Dann schnappte ich mir einen der Fortgeschrittenen und begann mit ihm zu trainieren. Er war gut, sehr gut und es machte mir Freunde, unsere koordinierten Bewegungen zu spüren, die harten Schläge der Stöcke, die bis in unsere Schultern hineinfederten, der Blick, der die Reaktionen des anderen maß, seine Angriffe in dessen Augen voraussah…

Ein wuterfüllter Aufschrei gellte durch die Halle. Ich trat einen Schritt zurück, um dem Stock meines Rekruten zu entgehen, und fuhr herum.

Thouls Trainingspartner hatte seine Stöcke fallen lassen und hielt sich beide Hände vor die Nase. Blut troff von seinen Handgelenken. Thoul, die Waffen unter die Arme geklemmt und selbige ineinander verschränkt, musterte ihn mit jenem mäßigen Interesse, mit dem man einem Wüstenklopferkäfer bei seinem seltsamen Treiben zusieht. Ich rollte mit den Augen und eilte durch die Halle zu den beiden hinüber. „Was ist hier los?“

„Sie hat mit die Nase gebrochen!“, jaulte der Verletzte. Auf seinem Namensschild stand Talek. „Verdammte Scheiße, Mann, sie hat mir die Nase gebrochen!“

„Das kann ich sehen, Soldat. Beruhigen Sie sich.“

Er wurde stiller und hielt sich nur noch schützend und mit schmerzverzerrter Miene die Hände vors Gesicht.

Ich sah Thoul an, die nicht grinste. Kleines Miststück. An drei Fingern konnte ich mir abzählen, dass sie das mit Absicht getan hatte.

„Gehen Sie zum Krankenflügel und lassen Sie das richten, Talek.“

Er verschwand, während ich mich Thoul zuwandte. „Und du... was genau sollte das?“

„Seine Deckung war miserabel.“

„Und weiter? Du vor allen anderen solltest deine Stöcke bremsen können, wenn du siehst, dass seine Deckung sie nicht hält. Deine Reflexe sind die besten in diesem ganzen Haufen hier!“

„Dann lernt er es aber nie“, wandte sie ein.

Ich hielt inne und sah sie überrascht an. „Ach... und du glaubst, es ist deine Aufgabe, ihm eine bleibende Erinnerung daran zu verschaffen, seine Deckung oben zu halten?“

Sie lachte. Sie lachte! „Er wird’s überleben.“

Er wird’s überleben? Was glaubte dieses Gör eigentlich, wer sie war?

„Ja, zum Glück!“, donnerte ich. „Allerdings hättest du rabiates Reptil auch genauso gut seine Stirn treffen können und das hätte er mit Sicherheit nicht überlebt! Hundertzwanzig Stundenkilometer an der Spitze, meine Liebe! Das hält kein Knochen!“

Sie zuckte die Achseln. „Das hatte ich nicht vor. Du weißt, dass ich meine Stöcke genau berechnen kann. Das wäre nicht passiert.“

Allmählich wurde mir die Sache zu bunt. Ich klemmte meine Stöcke unter den Arm und tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Also schön, Schätzchen. Lass dir eins gesagt sein: Wenn du noch einmal einen meiner Jungs absichtlich verletzt, kannst du was erleben. Hast du mich verstanden?“

Sie rollte mit den Augen.

„Na gut“, meinte ich. „Wie du willst.“ Madame wollte offensichtlich eine Lektion. Ich sah in die Runde. „Wir machen weiter!“

Die Rekruten nahmen ihr Training wieder auf. Alle außer meinem Trainingspartner, denn ich blieb vor Thoul stehen. „Nimm deine Stöcke“, brummte ich. Sie sah mich an und lächelte. Und dann flogen die Fetzen.

Das Holz unserer Stöcke klapperte und knallte unter unseren Schlägen, die Angriffe kamen ohne jede Ordnung und völlig willkürlich. Kein Training. Dies war ein Kampf. Unsere Schritte umkreisten einander. Thouls Blick heftete sich auf mich. Angestrengte Konzentration stand darin zu lesen. Sie versuchte, den Vorteil meiner Erfahrung mit ihren schnellen Reflexen wett zu machen.

Ihr Angriff kam tief. Ich machte einen Ausfallschritt nach hinten und hämmerte mit voller Wucht in der Verlängerung ihres ausgestreckten Armes. Der feste Griff auch ihrer Finger gab nach und sie ließ die Waffe fallen. Überraschung stand in ihren Augen. Sie hatte meine Kraft unterschätzt. Ich warf meine eigenen Stöcke zur Seite und griff Thoul an. Sie versuchte zu kontern, doch drei schnelle Bewegungen mit einer unerbittlichen Hebelwirkung entrangen ihr ihre verbliebene Waffe, die ich an mich nahm und mit einem festen Schlag auf ihren Hals zu zog. Millimeter bevor ich sie berührte, stoppte ich jedoch ab und schlug erneut aus der anderen Richtung zu. Wieder stoppte ich ab. Dann ging ich in eine Drehung und rammte das hintere Ende der Waffe auf ihre Brust zu. Ich hielt inne, richtete mich auf und sah ihr in die Augen. Kaum zwei Sekunden, nachdem ich ihr den Stock entrungen hatte, war sie rein theoretisch schon dreimal tot. Sie starrte mich mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut an.

„Merk dir das, Schätzchen. Du musst noch viel lernen, bevor du dich hier als Ausbilder aufspielen kannst“, grollte ich.

Sie ballte die Fäuste. Die Geste war neu. „Du hast ja-“, fing sie an.

„Runter“, unterbrach ich sie, bevor sie ihren verbalen Angriff zu Ende führen konnte.

„Was?“

„Runter. Liegestützen. Fünfzig.“

Sie kochte vor Wut, doch sie gehorchte. Vor meinen Füßen ging sie in den Stütz und fing an. Ich zählte stumm mit, während ich sie mit langsamen Schritten umkreiste. Als sie bei fünfzig angekommen war, stellte ich ihr meinen linken Fuß auf die Schulter. „Und jetzt“, raunte ich dunkel, „Runter. Und halten.“

Sie ächzte unter dem Druck meines Fußes, doch sie tat, wie ich verlangte. Ihre Arme zitterten.

„Wer hat die Ausbildung der Rekruten inne?“, fragte ich.

„Du“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Und wer hat seine Kameraden nicht zu verletzen?“

„Ich.“

„Genau so ist es. Merk dir das.“

Ich nahm meinen Fuß von ihrer Schulter und sah zu, wie sie sich stolz wieder in den Stütz drückte.

„Noch einmal“, drohte ich, während sie sich langsam erhob. „Noch einmal…“, wiederholte ich mit festem Blick in ihre lodernden Augen.

Dann geschah es.

Sie schlug zu. Sie holte nicht einmal aus, sie schlug einfach zu, den Weg nutzend, den ihre Hand aus ihrer Höhe bis zu meinem Gesicht brauchte. Mein Kopf ruckte herum. Schmerz brandete durch meinen Kiefer und der metallische Geschmack meines Blutes machte sich in meinem Mund breit – wie gesagt: Die Kleine hatte Kraft.

Den Blick noch immer auf die Wand zu meiner Rechten gerichtet, schmeckte ich meinem Blut nach und hob meinen Handrücken zu den Lippen, um einen Tropfen abzuwischen, der daraus hervor sickerte. Oh! Wenn sie nicht die gewesen wäre, die sie war...

Meine Eingeweide zogen sich zusammen, meine Fäuste ballten sich. Mit einem tödlich wütenden Blick richtete ich meine Augen wieder auf Thoul. Oh, die wenigsten wissen wirklich, mit welchen Dämonen ich in solchen Momenten kämpfe! Sie stand einfach da und starrte mich an, ohne jedes Zeichen von Angst. Einzig die Wut war in ihrem Blick zu lesen. Um uns her war es still, totenstill. Die Jungs starrten uns abwartend an. Sie kannten mich. Und sie kannten meine Wutausbrüche.

„Weißt du, was du jetzt machst?“, sagte ich mit ganz leiser, grabestiefer Stimme. „Du gehst auf dein Zimmer. Jetzt sofort.“

Sie bewegte sich nicht.

„BEVOR ich meinen Wutanfall kriege!“, donnerte ich.

„Warum sollte ich gehorchen?“, fauchte sie zurück.

Ich leckte mir über die Lippen und legte den Kopf ein wenig schief. Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen.

„Weil ich dich im Augenblick noch am ausgestreckten Arm verhungern lassen kann, Schätzchen“, grollte ich. „Also geh jetzt, bevor ich das in die Tat umsetze!“

Thoul kniff die Augen zusammen, schoss noch einen letzten, vernichtenden Blick auf mich ab und ging.

Ich stand da und blickte zu Boden. Irgendwo am anderen Ende der Halle fiel die Tür hinter ihr zu und ließ mich und die Jungs in absoluter Stille zurück. Alles, was zu hören war, war mein schwerer Atem. Schließlich hob ich den Blick und sah in die Runde. „Na los, worauf wartet ihr?“, ich schluckte meinen blutigen Speichel, anstatt der Versuchung nachzugeben, ihn auszuspucken. „Weitermachen.“

Leise fluchend hob ich meine Stöcke auf und wandte mich meinem Eliterekruten zu, heilfroh, dass Thoul außer Reichweite war.

Die Soldatenkönigin

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