Читать книгу Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra - Страница 14
1.4 Studentenzeit in Leiden: Fragen und Antworten
ОглавлениеOhne dass er selbst es wohl ahnte, spielte Großvater Lieftinck in seiner letzten Lebensphase noch eine wichtige Rolle für Visser ’t Hooft. Wim hatte großen Respekt vor ihm, aber selten die Gelegenheit, alleine, unter vier Augen, mit ihm zu sprechen. Lieftinck verteidigte begeistert die Freimaurerei, die er als eine großzügige, undogmatische Form von Religion interpretierte. Doch als Visser ’t Hooft feststellte, dass sein Großvater jede Möglichkeit einer persönlichen Begegnung mit Gott ablehnte, war er schockiert. Die Tatsache, dass Lieftinck, der einst selber Pastor gewesen war, Amt und Kirche bewusst hinter sich gelassen hatte, gab Wim viel zu denken.
»Nicht, dass er jeglichen Glauben an Gott verloren hätte. Aber er war zu dem Schluss gekommen, dass Gott so großartig und verborgen war, dass der bescheidene Mensch kein Recht habe, über ihn zu sprechen. Fürbitten, in denen Gott gebeten werde, in menschliche Angelegenheiten einzugreifen, seien falsch. Uns blieb nur übrig, auf die Stimme unseres Gewissens zu hören.«22
Lieftinck starb 1917 in Haarlem. Mit seiner Lebenseinstellung hinterließ er seinem Enkel Wim ein geistliches Erbe, das dieser als Herausforderung und Auftrag zugleich betrachtete. In dieser Phase paarte sich bei Wim Neugierde mit dem Auftauchen verschiedener persönlicher Lebensfragen. In dem Schuljahr 1917/18 erhielt er Hebräischunterricht bei dem Rabbiner von Haarlem und Katechese bei Pfarrer Dr. A. H. Haentjens (1876–1968). Echte Antworten konnte ihm der Pfarrer nicht geben, aber das hinderte Wim nicht daran, am Unterricht teilzunehmen. Haentjens vertrat einen an Hegel orientierten Kirchen- und Lebensbegriff und war ein origineller Denker. Vater Visser ’t Hooft mochte ihn und widmete ihm ein langes Gedicht.23 Aber der Pfarrer, der für einige schwer einzuschätzen war, wurde beschuldigt, insgeheim orthodox zu sein. Am Ostermorgen 1905 fasste er die Osterbotschaft mit den Worten »Der Herr ist wahrhaftig auferstanden!«24 zusammen. Das brachte ihn in Konflikt mit der Kirchenleitung, die ihn beschuldigte, die modernistische Position der Remonstranten aufgegeben zu haben und nicht freisinnig, sondern insgeheim orthodox zu sein. Haentjens trat zurück, wurde jedoch von der Gemeinde erneut angerufen und blieb bis zu seiner Pensionierung 1939 in Haarlem. Er legte großen Wert auf die Taufe als einen Moment der Heiligung durch Gott und darauf, dass das Königreich Gottes auch in der Kirche Gestalt annahm. Allerdings war nicht jeder in seiner Gemeinde dieser Meinung. Gleichwohl war er ein faszinierender Mann mit einem eigenen Urteil. Und er beeinflusste die Entwicklung von Visser ’t Hooft in einem entscheidenden Moment, denn dieser fühlte sich tatsächlich auf intellektueller Ebene von Haentjens herausgefordert. Aber er redete ihm nicht nach dem Mund.25
Sehr viel später, als er als alter Mann 1980 auf diese Zeit zurückblickte, fand er, dass er damals auf dem Weg gewesen war, ein »Synkretist« zu werden. Das war für ihn ein negativer Begriff: Jemand, der alle möglichen Einsichten aus verschiedenen philosophischen und religiösen Traditionen zusammenfügte, ohne Widersprüche in Frage zu stellen, und der nicht mehr in der Lage war, den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt der verschiedenen Religionen und Konfessionen wahrzunehmen:
»der gefährlichste Aspekt […] war, dass dies leicht zu abstrakten Überlegungen über Religion im Allgemeinen führen konnte, anstatt mich dichter an den Jesus des Neuen Testaments zu binden. Ich las alles Mögliche an religiöser Literatur, auch Bücher von Pantheisten, Mystikern und Agnostikern. Durch sie war ich auf dem Weg, ein Synkretist zu werden, der alle Arten religiöser Erfahrungen als gleichermaßen wahr und unwahr ansah.«26
In dem Tagebuch, das Visser ’t Hooft 1917 führte, beschrieb er seine innere Unruhe.27 Bei den Remonstranten war es üblich, dass die Katecheten ihren Glauben in ihren eigenen Worten bezeugten. Leider ist dieser Text von Visser ’t Hooft verloren. Wir wissen nur, dass er mit diesem Text später überhaupt nicht zufrieden war. Seinem späteren Gefühl nach hatte er sich allzu sehr bemüht, sämtliche Ideen über Gott und die Menschen zusammenzubringen. Er versuchte, wie er sich später erinnerte, sowohl den Gott der Philosophen als auch den Gott Abrahams zu retten, wie auch den Philosophen Pascal. Auf diese Weise, so meinte er später, hatte er Christus auf eine Idee reduziert und leugnete damit die Ehre, die ihm in der konkreten Fleischwerdung als Sohn Gottes zukam; nämlich »als Gott, der in die Menschengeschichte hinein kommt.«28 Obwohl er während seiner Studienzeit anders darüber zu denken begann und schließlich 1923 in die Nederlands Hervormde Kerk wechselte, dachte er auch nach vielen Jahren noch dankbar an den Kontakt mit dem Remonstranten Haentjens. Er schätzte besonders, dass dieser ihn zum Nachdenken gebracht hatte.29 Vielleicht hätten Visser ’t Hoofts Tagebuch oder sein Bekenntnis seine religiöse und intellektuelle Entwicklung dieser Zeit erhellen können; sie sind aber, wie bereits erwähnt, leider verschollen.
Als es 1918 um Wims Studienwahl ging, schien ihm Theologie eine attraktive Gelegenheit zu sein, seine persönliche Suche zu vertiefen. Mit der Kirche als solcher hatte er zu dieser Zeit nicht viel zu tun. Er hatte nicht die Absicht, Pfarrer zu werden, sondern suchte Antworten auf seine eigenen Fragen. Er erlebte Theologie in erster Linie als ein »wunderbares Studienobjekt«30. Von Berufung war keine Rede. Ziel seines Theologiestudiums war, vor allem mehr »Klarheit« in geistlichen Dingen für sich selber zu finden. Seine Eltern hatten ihn immer ermutigt, an den christlichen Jugendlagern teilzunehmen. Doch sein Wunsch, Theologie zu studieren, überraschte sie und machte sie zögerlich. Ein Großvater hatte sein Pfarramt niedergelegt. Was sollte ein begabter junger Mann, der kein Pfarrer werden wollte, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Theologie? Es war kein Studium, um Karriere zu machen. Wusste Wim, dass diese Entscheidung ihn eine glänzende Zukunft kosten könnte? Sein Vater warnte ihn, fand es aber schließlich gut, dass Wim Theologie studieren wollte; vorausgesetzt, er würde parallel auch Jura studieren. Es sollte deutlich werden, dass er nicht nur einer Laune folgte.
Im Sommer 1918 legte Wim am Stedelijk Gymnasium in Haarlem sein Abitur ab; mit 17 Jahren, also noch sehr jung, um ein Studium aufzunehmen. Es waren die letzten Monate des Krieges. Die Alliierten trieben die deutschen und österreichischen Truppen mit der Hundert-Tage-Offensive zurück. Die Spanische Grippe, die sich weltweit verbreitete, erreichte auch die Niederlande. Das NCSV-Sommerlager dieses Sommers wurde daher vorzeitig abgebrochen. Am 20. September 1918 wurde Wim Visser ’t Hooft achtzehn Jahre alt. Wim folgte den Empfehlungen seines Vaters und begann im Herbst 1918 sowohl mit dem Juraals auch mit dem Theologiestudium in Leiden. Während ihn das Jurastudium von Anfang an nicht begeisterte, und er nur aus Pflichtgefühl in die Veranstaltungen ging, begann ihn die Theologie rasch zu faszinieren. Viel mehr als er erwartet hatte, spielte die Frage der Kirche bald eine große Rolle. In seiner Schulzeit hatten ihn Tolstois Einwände gegen die Kirche als Institution beeindruckt:31 Während das Neue Testament Gewalt verurteilte, gab sich die Kirche durch die Jahrhunderte hinweg als Stütze gewalttätiger Staaten; so, wie auch nun im Krieg, der Europa zerriss. Infolgedessen waren die Kirchen zu ihrer Schande zu antichristlichen Institutionen geworden.32 Dieses Bild begann Visser ’t Hooft nun zu nuancieren.
In Leiden unterzog er sich, wie üblich, dem Aufnahmeritual der Leidener Studentenverbindung (Leids Studenten Corps), bevor er dort Mitglied wurde und ins Verbindungshaus, die Rapenburg 129, einzog. Es war üblich, sich gegenseitig Beinamen zu geben. Wims Beiname blieb sein Leben lang hängen, wogegen er nichts hatte: Seine Brüder und seine Eltern nannten ihn »Maus«, weil er als Kind ein etwas spitzes, eigenwilliges Gesicht hatte. Diesen Spitznamen gebrauchten auch seine Studienfreunde und seine Frau Jetty33 ebenso wie einige Freunde, etwa Frederik M. van Asbeck, Hermann Rutgers, Nico Stufkens und Conny Patijn.
In dieser aufregenden Zeit fiel es Wim zunächst schwer, sich auf das Studium zu konzentrieren. Am 11. November kapitulierten die Deutschen und erklärten den Waffenstillstand. Als er zusammen mit drei Freunden aus der Leidener Studentenverbindung in der Kneipe saß, beschlossen sie, nach Brüssel zu fahren, um dort die Ankunft des belgischen Königs Albert zu erleben. Um Zugang zu den offiziellen Feierlichkeiten zu erhalten, fragten sie in den Städten, aus denen sie stammten, bei den lokalen Zeitungen nach Presseausweisen. Mit dem Zug fuhren sie nach Breda, von wo aus sie problemlos mit dem Fahrrad nach Brüssel fuhren. Dabei durchfuhren sie Gebiete, aus denen sich die deutsche Armee gerade zurückgezogen hatte. Die belgischen Truppen waren noch nicht eingetroffen. Am 25. November wurde der erste Bericht von Visser ’t Hooft über die Ankunft des belgischen Königspaares in Brüssel in der Rubrik »Ausland« in der städtischen Ausgabe von »Haarlem’s Dagblad« veröffentlicht.
»Unter unbeschreiblichem Jubel der Brüsseler Bevölkerung betrat am Freitag König Albert, der geliebte Prinz der Belgier, die belgische Hauptstadt. Es war prächtiges Wetter. In der Nähe des Parlaments hatten sich viele Menschen versammelt. Zahlreiche belgische und alliierte Truppen machten sich für eine Parade bereit. Viele Vereinigungen hielten vor dem Parlament Transparente in die Höhe. Aus den Fenstern und von den Balkonen verfolgten viele Menschen das Schauspiel und die militärischen Aktivitäten. Viele fremde Soldaten und Rote-Kreuz-Schwestern waren zu sehen. In der Zwischenzeit rollen die Autos der Minister, anderer Würdenträger und des diplomatischen Korps an. Eine Staffel belgischer Flugzeuge trifft in V-Formation ein und umkreist den Park, das Parlament und den Palast. Das Publikum ist begeistert. Die Menschen fühlen sich wieder frei, befreit von den niederdrückenden Tagen der fremden Herrschaft und der fremden Gewalt. Das Volk genießt die Freiheit.«34
Wim begann, an der Reiseberichterstattung Gefallen zu finden. 1919 unternahm er eine Reise nach Nordfrankreich und Paris. Er war tief beeindruckt von den Gräben in der Nähe von Reims, die aussahen, als hätten sie die Soldaten gerade am Vortag verlassen. Die stark beschädigte Kathedrale von Reims bildete den Hintergrund für eine Landschaft voller Zerstörung. Er schrieb:
»Falls Du Dir immer noch einen Rest von Militarismus bewahrt hattest, so wird er Dir hier an dieser Stelle endgültig vergehen.«35
Unabhängig von all diesen Ablenkungen machte Wim 1919 seine Zwischenprüfung in Theologie. Dafür schrieb er eine Hausarbeit über Satan, bei A. J. Wensinck, Professor für semitische Sprachen. 1920 legte er die juristische Prüfung ab, doch das war das Ende seines Jurastudiums. Er hatte bewiesen, dass er es konnte, aber dieses Studium interessierte ihn nicht.36
Der Student, der er nun war, blieb fasziniert von den NCSV-Sommerlagern, die er seit 1915 besuchte. Bis 1924 war Wim jeden Sommer in einem Lager irgendwo in den Niederlanden. Er war jetzt Adjutant, dann Zeltoffizier und schließlich einer der jüngsten »Sommerlagerkommandanten«, der ein Lager mit hundert Schülern leitete. Es waren auch einfache Jungen aus dem Volk, die an den Lagern teilnahmen, so dass hier etwas von der elitären und individuellen Entwicklungsatmosphäre, in der er aufgewachsen war, aufgebrochen wurde. Man musste miteinander kooperieren und gemeinsam Abenteuer in der Natur bestehen. In den Sommerlagern herrschte eine ganz andere Atmosphäre als in Leiden während der Vorlesungen, in der Leidener Studentenverbindung oder zu Hause in Haarlem.
Später blickte Visser ’t Hooft auf seine ersten zwei Studienjahre in Leiden als eine Zeit des oberflächlichen Studentenlebens zurück. Einen großen Teil der Nächte verbrachte er in der Minerva Society. Das war gesellig, aber er sehnte sich nach etwas anderem. Die große Veränderung kam 1920, als er und sein Freund Herman Hoogendijk beschlossen, drei Monate im Woodbrooke Quaker Study Center in Selly Oak bei Birmingham zu verbringen. Die Universität Leiden hatte zu dieser Institution seit 1903 Kontakt, also seit der Zeit, als der Neutestamentler J. R. Harris einen Lehrstuhl in Leiden abgelehnt hatte, zugleich aber zu verstehen gegeben hatte, dass Leidener Theologiestudenten in Woodbrooke willkommen seien.37 Für Wim Visser ’t Hooft wurden diese Monate geistlich sehr bereichernd. In Woodbrooke herrschte ein ökumenischer Geist, der die offene Diskussion über den Glauben förderte.
Unter den Quäkern gab es zahlreiche Anhänger der Social Gospel-Bewegung, die großen Wert darauf legten, um den Glauben im Alltag praktisch erfahrbar zu machen. In Birmingham hörte Visser ’t Hooft berühmte Redner wie den einflussreichen Neutestamentler H. G. Wood. Später bezeichnete er die Zeit in Woodbrooke als eine wichtige Zeit von Vertiefung, mit der sein Leben eine Richtung erhielt.38
Visser ’t Hooft und Hoogendijk besuchten auch andere britische Städte. In Cambridge hörten sie den Schriftsteller George Bernard Shaw und den Ökonomen John Maynard Keynes. Shaw war eine Sensation. In einem Artikel der Zeitschrift der Leidener Studentenverbindung drückte Visser ’t Hooft seine Bewunderung für den berühmten Schriftsteller aus, der als Redner scheinbar mühelos alle faszinierte, ob sie nun Kapitalisten oder Sozialisten waren.
»Der graue Lehrmeister der sauberen Vernunft an der Leidsche Hoogeschool würde ernsthaft seinen nachdenklichen Kopf schütteln. Was passiert mit der Polarisierung der Realität, wenn jemand auf der Welt Recht hat? Und doch: Vielleicht hat er noch nie einen so verwandten Geist entdeckt wie Shaw. Allerdings macht es Shaw psychologischer. Wie? Das ist das unlösbare Geheimnis des Volksredners, das wir mit dem schönen Namen der Massenpsychologie bezeichnen, aber nicht erklären können.«39
Dies war das Engagement, das er in Leiden vermisste.
Im Januar 1921 nahm er mit der NCSV-Delegation an einer Konferenz der Student Christian Movement (SCM), des britisch-irischen Zweigs des World Student Christian Federation (WSCF) und somit einer Schwestervereinigung der NCSV in Glasgow teil. Es war sein erstes großes internationales Treffen und beeindruckte ihn sehr. Rund 2.000 Studenten aus 38 Ländern nahmen teil und wurden von Prominenten wie Edward Grey, dem britischen Außenminister bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, angesprochen. Grey betonte vor den jungen Menschen, dass der Untergang der Zivilisation nur durch die Wiederherstellung der geistigen Werte des Christentums verhindert werden könne. Glasgow öffnete Wim Visser ’t Hooft die Augen dafür, welche Möglichkeiten internationale Begegnungen boten, um die Not der Welt zu lindern. Hier wurde der Beziehungscharakter der Glaubenssprache für Visser ’t Hooft konkret. Er hörte Redner wie William Temple (1881–1944), den damaligen anglikanischen Bischof von Manchester, und den Schotten Joseph H. Oldham (1874–1969), Missionar in Indien und Mitglied der United Free Church, die Gott als höchste Realität hervorhoben. Es beschäftigte ihn, dass diese nicht über Gott als Idee oder unpersönliche Kraft sprachen, sondern über den lebendigen Gott, der Initiative ergriff und persönlich mit den Menschen sprach. Später sollte er noch viel mit Temple und Oldham zu tun haben. 1938 waren es gerade diese beiden, die ihn als Generalsekretär des entstehenden Ökumenischen Rates der Kirchen vorschlugen.
Kurz darauf machte ihn die Stimme des calvinistischen Schweizer Theologen Karl Barth (1886–1968) nachdenklich. Sein Freund Nico Stufkens (1892–1964), Studiensekretär des NCSV, machte ihn auf Barths Werk aufmerksam, insbesondere auf die zweite Auflage seines Römerbriefes von 1922.40 Visser ’t Hooft war nicht sofort überzeugt. Er fand das Buch schwer zugänglich. Was ihn jedoch ansprach, war, dass Barth das Ringen mit der historisch-kritischen Methode und den Fragen der modernen Philosophie ernst nahm. Barth kannte Nietzsche und Dostojewski und ließ die existentiellen Fragen, die sie stellten, zu. Gleichzeitig respektierte Barth die Bibel weiterhin als das Wort Gottes, womit er Visser ’t Hooft Respekt abnötigte. Nach Barth war die Stimme Gottes sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene zu hören, eine Heilserklärung war möglich. In Barths Herangehensweise vermutete Visser ’t Hooft die Antwort, die er suchte; ein angemessenes Gegengewicht zur Skepsis seines Großvaters Lieftinck. Es dauerte jedoch noch einige Jahre, bis er das Gefühl hatte, Barth wirklich verstanden zu haben.41
1921 wurde Wim Visser ’t Hooft Vorsitzender des NCSV-Studentenhilfskomitees, das in den vom Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe betroffenen Ländern Gelder für die Unterstützung von Studenten sammelte, insbesondere für Lebensmittel und Kleidung. Kurz darauf wurde er auch gebeten, den Vorsitz im Hilfskomitee der Nationale Studenten Organisatie (NSO) zu übernehmen, dem nicht nur protestantische Christen, sondern alle niederländischen Studentenorganisationen angeschlossen waren. Visser ’t Hooft sah seine Chancen und sagte ja. Doch merkte er bald, dass er eine komplexe Kombination von Funktionen erhalten hatte. Die NCSV-Arbeit gehörte zum European Student Relief, dem größten Projekt des WSCF. Sie stand unter amerikanischer Leitung und wurde von dem Multimillionär John D. Rockefeller unterstützt. Visser ’t Hooft tanzte also sozusagen auf zwei Hochzeiten und verbrachte zusätzlich zu seinem Studium viel Zeit damit, Geld zu sammeln, Dinge zu regeln und zu koordinieren.
Eine internationale Diskussion über die Arbeit des European Student Relief mit 80 Studenten aus 29 Ländern fand 1922 in Turnov in der Tschechoslowakei statt. Sie stand unter der Leitung von Conrad Hoffmann (1884–1958), dem amerikanischen Sekretär der Young Men’s Christian Association (YMCA); einem Mann, der sich seelsorgerisch um Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Studenten in Europa gekümmert hatte. Er bat Visser ’t Hooft, den Dienst als Sekretär der Konferenz zu übernehmen, die in einer angespannten Atmosphäre stattfand und aufgrund verschiedener Gegenüberstellungen zu scheitern drohte. Aber sie verlief gut.
»Herr Visser ’t Hooft erklärte, er könne sich nicht vorstellen, dass jemand in den letzten Tagen an der Konferenz teilgenommen habe, ohne die Bedeutung des Konferenzgeistes zu begreifen. Für ihn persönlich war es eine beeindruckende Erfahrung, und er wusste, dass das auch viele andere so sahen.«42
Visser ’t Hooft begann aufzufallen. Sein Zupacken und sein persönlicher Stil wurden als tatkräftig und kreativ erlebt. Er ging energisch vor und warb viel Geld für die Studentenhilfe ein, wobei das niederländische Komitee eine relativ große Summe beitrug.43 Später im Jahr nahm der Generalsekretär des NCSV, Herman Rutgers, Visser ’t Hooft auf eine große Reise für die Studentenbewegung nach Österreich, in die Tschechoslowakei und nach Deutschland mit. Die Hyperinflation der Jahre 1922 und 1923 machte das Leben für die Studenten in den mitteleuropäischen Ländern besonders schwer. Erneut erwies sich Visser ’t Hooft als äußerst geeignet für diese Arbeit. Er genoss die Kontakte und entwickelte ein Verständnis für junge Menschen in Deutschland und den aus der Donaumonarchie hervorgegangenen Ländern. Er ärgerte sich über die in seinen Augen allzu leichten Karikaturen und Urteile, die er manchmal in anderen Ländern über die Verlierer des Ersten Weltkriegs sehen und hören musste. In dieser Zeit muss sich sein starkes Interesse für Deutschland und Mitteleuropa entwickelt haben. Er widersetzte sich Vorurteilen und in seinen Reaktionen fiel zunehmend eine Haltung auf, die man als deutschfreundlich bezeichnen kann. Dagegen war sein kritischer Blick auf England möglicherweise schon früh durch Gespräche mit seinem Vater genährt worden, die sich immer wieder um den Auftritt der Engländer gegen die Buren in Südafrika drehten.
1923 wurde er während eines Treffens der Europäischen Studentenhilfe in Parad in Ungarn gebeten, den Vorsitz im Programmkomitee zu übernehmen. Trotz aller internationalen politischen Spannungen, wie der französischen Besatzung des Ruhrgebiets und des zunehmenden Antisemitismus, blieb die Atmosphäre unter den Teilnehmern auf der Konferenz gut. In den Augen Visser ’t Hoofts lag das an den christlichen Glaubensüberzeugungen, auf die jeder Teilnehmer ansprechbar war. Es ist bezeichnend, dass er 1923 auch Vorsitzender des niederländischen Hilfskomitees Deutsche Universitäten wurde, das eine Sonderhilfe für deutsche Universitäten organisierte. 1924 war der notwendige Bedarf gedeckt; das Hilfskomitee wurde aufgelöst. Daraufhin wurde im folgenden Jahr die Hilfsorganisation European Student Relief in die Organisation International Student Service (ISS) umgewandelt. Sie konzentrierte sich auf Studentenkonferenzen und Studentenreisen, bot in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auch Flüchtlingshilfe an. 1950 verlor diese Organisation ihren christlichen Charakter und wurde in World University Service umbenannt.
Sitz des NCSV war von 1917 bis 1932 das prächtig gelegene Schloss Hardenbroek in der Nähe von Driebergen-Rijsenburg. Als Generalsekretär Herman Rutgers 1922 nach Peking reiste, um an einem internationalen Treffen der WSCF teilzunehmen, wurde Visser ’t Hooft gebeten, ihn vorübergehend als amtierenden Sekretär zu ersetzen. In der ersten Hälfte des Jahres 1922 war er vier Monate lang Gastgeber von Schloss Hardenbroek. Das lag ihm. Während der Woche war es ruhig; er hatte viel Zeit, die Natur zu genießen. Aber am Wochenende wurde es dann in Hardenbroek voll. Große Gruppen von Studenten, die heftige Diskussionen führen konnten, bevölkerten dann das Gebäude und die Gärten. Regelmäßig gab es besondere Referenten. So hatte Visser ’t Hooft zum Beispiel Dr. Georg Michaelis als Gast, der 1917 für kurze Zeit Bundeskanzler und nun Vorsitzender der deutschen Außenstelle der WSCF war. Michaelis’ Glauben war pietistisch geprägt, das schlug bei Visser ’t Hooft eine emotionale Saite an. Gleichzeitig wuchs bei diesem Treffen seine Überzeugung, dass mehr als ein intensiver persönlicher Glaube erforderlich sei, um Menschen in einer christlich orientierten Bewegung zu sammeln und zu vereinen, die Einfluss auf die Welt haben sollte. Es waren nicht nur einzelne Christen, sondern auch die Kirchen, die organisiert und zusammengeführt werden mussten. Sie standen mit dem Rücken zur Welt. Das musste sich ändern.
Viele europäische Zeitgenossen erachteten die christliche Jugendarbeit nach dem Krieg als wichtig; in der 1844 von George Williams in London gegründeten Weltunion der Christlichen Vereinigungen junger Männer (YMCA) sahen viele amerikanische und britische Führer neue Möglichkeiten. Mit ihr sollte verhindert werden, dass junge Menschen, die in Ländern aufgewachsen waren, die unter Krieg oder Revolution gelitten hatten oder auseinandergefallen waren, in Zynismus verfielen. Die Freude, mit der Visser ’t Hooft die NCSV-Sommercamps zuerst als Student und Teilnehmer und später als Student und Betreuer besuchte, machte sich nahtlos in seiner Begeisterung für internationale Konferenzen bemerkbar. Im Sommer 1923 wurde er Mitglied der niederländischen Delegation während einer YMCA-Konferenz. Gemeinsam mit seiner Verlobten Jetty trieb er die neuen Initiativen des YMCA im österreichischen Pörtschach voran. Er hoffte, hier neue Ideen für die Arbeit des NCSV aufgreifen zu können.44 In Pörtschach hörte er eine Rede von John R. Mott (1865–1955), den berühmten amerikanischen Missionar und Führer der YMCA und der WSCF, den er auch in England einmal gehört und in den Niederlanden einmal persönlich getroffen hatte.45 Visser ’t Hooft kritisierte den in seinen Augen naiven optimistischen Ansatz der Amerikaner, die die europäische Jugend mit einem emotionalen Appell bekehren wollten. Doch in John Mott, der über »Kindheit – der größte Wert einer Nation« sprach, sah er einen tiefgläubigen Mann mit einer weiten Vision, die ihn berührte.46
Herman Rutgers von der Niederländischen Christlichen Studentenvereinigung sah besondere Qualitäten in ihm. Er wollte, dass Visser ’t Hooft einen christlichen Verlag gründete, der dem NCSV angeschlossen war, vergleichbar mit der britischen SCM-Presse. Was Rutgers nicht wusste, war, dass Conrad Hoffmann, der 1922 die Turnov-Konferenz geleitet hatte, Visser ’t Hooft nicht vergessen hatte und ihn gerne für eine neu einzurichtende Stelle im socialdepartment des WSCF haben wollte.47 Nach einer Organisationskrise 1923, in der eine Reihe von Sekretären zurückgetreten war, suchte der WSCF nach jungen Menschen, die einen neuen europäischen Ansatz verfolgen sollten. Zunächst liebäugelte Visser ’t Hooft mit Rutgers’ Ideen zur Gründung eines Verlags. Mittlerweile war aber in der Person von Jetty Liebe in sein Leben gekommen und das wog schwer. In einem Brief an Rutgers stellte er klar, was ihn motivierte.
»Der Grund, warum ich weiter Theologie studiert habe und nicht, wie die Leute dachten, zur Rechtswissenschaft überwechselte, ist nur der, dass ich glaube, allein in solcher Arbeit das Gefühl zu haben, dass ich das tue, was Gott von mir fragt. Du musst dann auch keine Angst davor haben, dass ich ein getarnter Beamter sein könnte – ich glaube, dass ich in einer ganz anderen Richtung vorsichtig sein sollte. Ich neige nämlich dazu, dass ich den Gehalt meiner Arbeit so sehr über meine eigene soziale Situation stelle, dass ich auf der sozialen Seite gefährdet bin. Bevor ich verlobt war, machte das nichts aus – jetzt aber, wo ich nichts lieber will als so schnell wie möglich heiraten, muss ich aufpassen. Und wenn ich deshalb in unserer weiteren Zusammenarbeit manchmal über diese Seite spreche, dann bitte ich Dich zu bedenken, dass das gegen mich selbst geschieht. Jetty ist bereit, diese Arbeit mitzutragen. Ich werde daher nie mehr verlangen, als dass wir in finanzieller Hinsicht so leben können, dass es Jetty keine zusätzliche Mühe kostet. Wie Du vielleicht bemerkt hast, sind Jettys Kräfte nicht unbegrenzt – und dies ist der einzige Punkt, an den ich manchmal ein Fragezeichen setze. Aber weiter will ich jede Arbeit, die ich leisten kann, uneingeschränkt akzeptieren, die dem großen Ganzen dient, und indirekt oder direkt dem Königreich Gottes dient.«48
Visser ’t Hooft stieß jedoch bald auf zahlreiche Schwierigkeiten. Das Unangenehmste war, dass es der Verlegerverband ablehnte, den von Visser ’t Hooft neu zu gründenden Verlag als Mitglied aufzunehmen, weil sie nur kommerziell interessiert waren.
Es waren wirtschaftlich schwierige Zeiten. In dieser Zeit war es auch nicht einfach, Gelder für den NCSV einzuwerben. Aber manchmal hatte er großen Erfolg, zum Beispiel im Juni 1924, als er von der Firma Van Schaardenburg in Rotterdam eine Zusage für 1.000 Gulden erhielt: »Du verstehst, dass ich da tanzend auf der Maasburg aufgefunden wurde.«49
In der Zwischenzeit hatte Conrad Hoffmann 1924 den Namen Visser ’t Hooft an den Kanadier Edgar M. Robinson weitergegeben, den Organisator der Pörtschacher Konferenz und in Genf ansässigen Jugendsekretär des Internationalen Komitees für die Vereinigten Staaten und Kanada des YMCA. Er war derjenige, der Visser ’t Hooft im Frühjahr 1924 bat, für einige Jahre als internationaler Sekretär für das neue europäische Jungenwerk des YMCA nach Genf zu kommen. Rutgers, von dem Robinson Informationen über Visser ’t Hooft erhielt, reagierte zurückhaltend. Visser ’t Hooft sei nicht nur wegen der Verlagsplanungen nicht verfügbar, er sei auch mit 23 Jahren zu jung.50 Aber Robinson ließ sich nicht abschrecken. Er war nämlich davon überzeugt, dass es gerade das Frische war, das Visser ’t Hooft für die internationale Arbeit auszeichnete, während eine Funktionärsstelle in den Niederlanden dafür nicht hilfreich gewesen wäre. Unter dem Motto »Fange sie jung ein und bilde sie in der Art von Arbeit aus, die sie leisten sollen« (»catch them young, and train them in the type work they are expected to do«) und »Jugend ist eine Bereicherung« lud er Visser ’t Hooft ein, vom 25. bis 28. April 1924 zu Gesprächen nach Genf zu kommen.51 Dieser kam und trat kurz darauf seine erste bezahlte Stelle an. Visser ’t Hoofts Mutter hatte schon, als sie 1923 den Amerikaner John R. Mott, damals Leiter des YMCA, in den Niederlanden traf, die prophetischen Worte gesprochen: »Sie sind wie eine große Spinne: Zuerst haben Sie ihn jetzt in Ihrem Netz gefangen, nun werden Sie ihn völlig darin verwickeln.« Mott soll daraufhin geantwortet haben: »Aber gnädige Frau, Sie unterschätzen das große Geschenk, das Gott uns in Ihrem Sohn gemacht hat.«52