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2.7 Eine »deutsche Revolution«?

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Visser ’t Hooft fand, dass man das schnelle Wachstum der nationalistischen Jugendbewegungen um 1930 nicht politisch erklären könne. Es war der deutsche Schriftsteller Thomas Mann, der ihm durch seine Analyse von »geistlichen Werten, die in sich verteidigbar seien und eine gewisse logische Notwendigkeit« hätten, half, dies zu erkennen. Vor allem in Deutschland und Italien, aber nicht nur dort, hatten junge Männer, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, in den 1920er Jahren eine »Rückkehr zur Sinnlosigkeit« erlebt. Ihre Tendenz zum Faschismus, der sich zu einer »neuen Religion« entwickelte, war eine Reaktion auf billigen Individualismus und auf eine leere Demokratie. Trotz des Verständnisses, das man dafür haben konnte, meinte er, dass der Faschismus als Götzendienst abgelehnt werden müsse.

»Die Aufgabe der Kirche ist es, die prophetische Stimme des Alten Testaments wieder zum Klingen zu bringen, um wieder zu den Völkern zu sprechen, so wie es Amos und Jeremias taten, um das Wort des Herrn der Völker zu predigen.«89

Er betonte, dass das Evangelium mehr als ein schöner, aber überflüssiger Anhang zum internationalistischen Ideal ist.

In seinen Erinnerungen erzählte Visser ’t Hooft, dass er, als Hitler 1933 in Deutschland die Macht ergriff, in den Vereinigten Staaten war. Während in der amerikanischen Presse heftige Reaktionen zu lesen waren, blieb Visser ’t Hooft lakonisch: »Reg dich nicht auf, diese Nazis müssen viel Wasser in ihren Wein geben, wenn sie Verantwortung tragen wollen.« Aber »ein paar Wochen später« musste er sein Urteil drastisch revidieren, als er begriff, was eine Regierung unter Hitler bedeuten könnte. Seltsamerweise machten diese Entwicklungen bei den amerikanischen Studenten wenig Eindruck:

»Februar und März – Monate mit großen Ereignissen in der Weltgeschichte! Eines Tages werden mich meine Enkel fragen: ›Sie* waren doch auch in dieser großen Krise von 1933, als niemand Geld hatte und Roosevelt das Land rettete? War das nicht sehr aufregend?‹ Und dann muss ich ehrlich sagen: ›Nun, das Seltsame war, dass von diesem Moment an fast allen Universitäten, an denen ich zu dieser Zeit war, nur sehr wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde.‹ ›Aber‹, so würden sie dann weiterfragen, ›waren die amerikanischen Studenten nicht sehr nervös wegen der deutschen Revolution und des chinesisch-japanischen Krieges?‹ Und dann muss ich sie noch einmal enttäuschen und sagen, dass diese Dinge diskutiert wurden, aber dass der amerikanische Student sein erstaunliches Gleichgewicht nicht verlor.«90

Es ist falsch, dass Visser ’t Hooft seine Vision einige Wochen nach seiner Amerikareise überarbeitet habe. Er blieb mehrere Monate der Ansicht, Hitler habe Deutschland vor dem Untergang bewahrt und sprach selber von einer »deutschen Revolution«. Er stimmte mit vielen seiner deutschen Kontakte überein, die glaubten, dass Hitler Deutschland daran gehindert habe, auseinanderzufallen, obwohl sie selber die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und ihre Methoden ablehnten. Visser ’t Hooft warnte vor voreiligen Interpretationen von Journalisten und Urteilen von Pazifisten und christlichen Führern und machte sich an eine ernsthafte Untersuchung der nationalsozialistischen Vorstellungen über Kirche und Staat. Er war besorgt, dass die neuen Entwicklungen die antideutschen Ressentiments mit ihren Wurzeln im Ersten Weltkrieg wieder beleben würden.91

Als kurz nach dem Antritt der demokratisch an die Macht gekommenen Hitler-Regierung der Reichstag am 27. Februar 1933 brannte, ergriff der Reichskanzler seine Chance und setzte das Parlament außer Kraft. Aber in einem Artikel im Algemeen Weekblad voor Christendom en Cultuur, der im Mai 1933 erschien, urteilte Visser ’t Hooft noch immer sehr mild über die Machthaber in Deutschland und bat um Verständnis, dass im neuen Deutschland nun zwischen Jude und Nichtjude unterschieden wurde.

»Es ist hier nicht der Ort, um dieses Phänomen zu analysieren – es gibt Gründe, darauf hinzuweisen, die erklärbar und zum Teil sogar vertretbar sind; zum anderen ist diese Entwicklung einfach auf Vorurteile und Ignoranz zurückzuführen – aber es muss gesagt werden, dass dieses Thema viel komplizierter ist, als dass es der Außenstehende zu erkennen vermag.«92

Zur Erklärung nannte Visser ’t Hooft zwei Aspekte. Es gäbe erstens Juden, die ein getrenntes Volk innerhalb des deutschen Volkes sein wollten. »Dies stellt ein Land, das aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und innerer Spaltung auseinanderzufallen droht, vor besondere Schwierigkeiten.« Zweitens erwartete Visser ’t Hooft, wie schon bei seiner ersten Reaktion in den Vereinigten Staaten, dass die NSDAP nun ernsthafte Regierungsverantwortung tragen und deshalb integrieren müsse. Der radikale und blinde Antisemitismus würde verwässert und auf »die weniger harte Haltung der Unterscheidung zwischen antinationalen und pro-nationalen Juden« zurückgebracht werden. Er bat um Geduld. Gegen den Artikel von Visser ’t Hooft erhob der Chefredakteur des Algemeen Weekblad voor Christendom en Cultuur, H. Th. Obbink, in einer Fußnote Einwände; meinte jedoch, dass er diese mit vollem Namen unterzeichnete Meinung nicht ablehnen könne.93

Während in der WSCF-Föderation deutsche Mitglieder wegen ihrer unbeugsamen Haltung oft kritisiert wurden, stellte Visser ’t Hooft bei dem Versuch, die »deutsche Revolution« zu deuten, fest, dass genau diese Eigenschaft es ihnen erlaubte, in dieser unsicheren Zeit für das Evangelium zu kämpfen.94 Nach Ansicht von Visser ’t Hooft widersetzte sich die deutsche Jugend entschieden jeder Scheinsicherheit, die zur bürgerlichen Mentalität früherer Generationen gehörte.

»Die neue Primitivität der Jugend bedeutet, dass sie weniger geneigt ist, Religion im Namen von ›Fortschritt‹, ›Philosophie‹ oder ›Wissenschaft‹ abzulehnen, als vielmehr, sie nach ihren eigenen Verdiensten zu beurteilen. […] Wenn die Jugend etwas im Christentum sucht, dann sucht sie darin eine Botschaft von Autorität und Macht.«95

Nach Ansicht von Visser ’t Hooft wollten junge Menschen keine intellektuelle christliche Apologie, sondern Glauben.

»Aber ein Glaube, der von der absoluten Autorität seines eigenen Objekts lebt und der sich als die Wahrheit und nicht als eine Wahrheit darstellt, hat wenigstens die Chance, ernst genommen zu werden. Dies impliziert natürlich, dass die Jugend keinen Glauben braucht, der seine Gültigkeit auf nur einen Lebensbereich beschränkt. Das wäre seltsam: eine Autorität, die die höchste Autorität für das innere Leben ist und doch nichts mit äußeren Taten, mit sozialem und politischem Leben zu tun hat. Die Jugend verlangt zu Recht, dass sich der Wahrheitsanspruch der Prophetie sowohl im Leben (im ganzen Leben) als auch in Worten beweist.«96

Im Juni 1933 bekam er jedoch zunehmend Vorbehalte gegen den Charakter des neuen Regimes in Deutschland und beschloss, den Artikel »Jugend 1933« nicht zu veröffentlichen.

Visser ’t Hooft war in diesem Monat auf der Konferenz der deutschen christlichen Studentenbewegung in Neu-Saarow in Bayern. In seinen Erinnerungen beschreibt er, nicht ohne Humor, wie die Menschen noch nicht wussten, wie sie sich jetzt im neuen Deutschland verhalten sollten. Zu Beginn eines chaotischen Treffens machte jemand neben Visser ’t Hooft einen übermäßig enthusiastischen Hitlergruß, wobei er Visser ’t Hooft mit der Faust ins Auge schlug. Als der neu gewählte Reichsbischof Friedrich von Bodelschwingh durch das von Hitler unterstützte Mitglied der Deutschen Christen, Ludwig Müller, als Reichsbischof abgelöst zu werden drohte, gab es heftige Diskussionen unter den Studenten über dieses Thema. Einige Wochen später erlebte Visser ’t Hooft während eines Treffens des Internationalen Studentendienstes, der Hilfsorganisation des WSCF, in einem Kloster bei Oberammergau im Ettal, wie plötzlich eine Gruppe von Nazis einmarschierte und der zu diesem Zeitpunkt den meisten ausländischen Gästen unbekannte SA-Führer Ernst Röhm eine Rede hielt. Für Visser ’t Hooft waren die schwarzen und braunen Uniformen ein neues Phänomen bei den Studententreffen. Er wollte Röhm fragen, ob die Nationalsozialisten tatsächlich die nationalen Traditionen anderer Länder respektieren würden, wie Röhm in seiner Rede behauptet hatte. Als sie die Straße vom Kloster zum Hotel hinuntergingen, versuchte er, Röhm diese Frage zu stellen. Dieser war aber vor allem am lauten Jubel um ihn herum interessiert, so dass es zu keinem Gespräch kam. Auch später am Abend, auf einem vom Bürgermeister veranstalteten Fest, waren die uniformierten Nationalsozialisten sichtbar anwesend. Visser ’t Hooft saß am Tisch neben SS-Führer Heinrich Himmler (1900–1945). Doch 1933 sagte ihm der Name Himmler nichts. Er fragte Himmler nach der Bedeutung von Röhms Worten, wurde aber durch die Antworten, die er erhielt, nicht klüger. Visser ’t Hooft sagte etwas über die niederländische Tradition der Toleranz, die auf Wilhelm den Schweiger (Willem de Zwijger) zurückging. Himmler erklärte jedoch, dass die Niederländer Niederländisch-Indien als Kolonie verlieren würden, wenn sie sich nicht bald von den Juden befreien würden. Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, wurde Visser ’t Hooft nicht klar. So ging es weiter. Visser ’t Hooft fand die Geschichten der Nazis inkohärent, und es dauerte mehrere Jahre, bis ihm klar wurde, wie gefährlich sie tatsächlich waren.97 Im Nachhinein fragte er sich noch oft, ob er nicht etwas von den späteren schrecklichen Taten Himmlers in diesem Gespräch hätte ahnen können. Aber ihm fiel nichts ein. »Er schien mir nur ein kleinbürgerlicher, engstirniger Mann zu sein.«98 Und doch sollte ihm dieses Treffen noch nützlich werden.99

Ein großes Projekt, für das sich Visser ’t Hooft in dieser Zeit einsetzte, war die Gründung eines ökumenischen Seminars in Genf. Er selbst war einer der Dozenten der kleinen ökumenischen Sommerkurse für Theologen.100 Als der Bonner Professor Karl Barth im Dezember 1934 auf Befehl der Nationalsozialisten aus seinem Amt entlassen wurde, setzte sich Visser ’t Hooft dafür ein, ihn nach Genf zu holen; allerdings vergeblich.101 Pierre Maury und er besuchten Barth zu dieser Zeit regelmäßig in seinem Wochenendhaus am Bergli am Zürichsee, wo sie lange Gespräche führten. Wofür Barth allerdings in diesem Jahr nach Genf kommen wollte, war eine Reihe von Gastvorträgen über Johannes Calvin an der Evangelischen Fakultät Genf. Schließlich entschied er sich für einen Lehrstuhl in Basel, in der Nähe von Deutschland, weil er einen guten Kontakt zu den Führern der deutschen Kirchen halten wollte.

Das wollte Visser ’t Hooft auch. Er versuchte, sich über Entwicklungen in der deutschen Kirche so gut wie möglich in deutschen, schweizerischen, englischen und anderen Zeitungen zu informieren. Im Februar 1934 unternahm er eine Deutschlandreise und besuchte zahlreiche Vertreter insbesondere der lutherischen Kirche. Viele kannte er persönlich; so präsentierte er sich nicht zu Unrecht als Kenner der deutschen Kirchenpolitik. Während Hitler in Mein Kampf religiös vage geblieben war und vom »positiven Christentum« sprach, ohne zu erklären, was er damit meinte, griff der NSDAP-Ideologe Alfred Rosenberg in seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts102 sowohl die römisch-katholische als auch die protestantische Kirche an. Es war zwar keine offizielle nationalsozialistische Politik, doch Hitler schien dem zuzustimmen. Trotz seines Versprechens, die Kirche zu respektieren, wurde die gesamte Kirche nun rasch von innen heraus von den Hitler-Anhängern, den Deutschen Christen, übernommen. Eine Kirchenspaltung drohte. Doch die kirchliche Opposition zerfiel bald in eine gemäßigte Gruppe um den lutherischen Bischof August Mahrarens und in eine radikalere Gruppe um den reformierten Pastor Martin Niemöller und den sogenannten Bruderrat. Für Visser ’t Hooft lag die eigentliche Herausforderung darin, die deutsche Kirche für Gott zu bewahren. Solange das Evangelium in dieser Kirche noch gepredigt werden konnte, war Kirchentrennung keine Lösung. Typisch für Visser ’t Hooft zu dieser Zeit war, dass er eine Lösung nur von einem prinzipiellen theologischen Ansatz erwartete, also es ging darum, das Bekenntnis selbst in der deutschen Kirche zu bewahren. Er war ein Gegner sowohl der Einmischung von außen als auch des Abbrechens der Verbindungen zur deutschen Kirche.103

Das Schicksal der Juden im Allgemeinen führte nicht zu einer größeren Debatte in der Kirche. Aber als aufgrund des Arierparagraphen jüdisch-christlichen Pfarrern die Ausübung ihres Amtes in der Kirche untersagt wurde, kam es zu einem heftigen Konflikt. Der Staat brach in kirchliches Hoheitsgebiet ein, indem er sein Recht auf eigene Führer geltend und das Funktionieren anderer unmöglich machte. Vom 29. bis zum 31. Mai 1934 fand in Barmen eine »freie Synode« deutscher lutherischer und reformierter Kirchen statt. Hier wurde die Barmer Theologische Erklärung angenommen, deren Hauptverfasser Karl Barth war und die sich gegen den absoluten Machtanspruch der Nationalsozialisten über die Kirche wandte. Visser ’t Hooft sah in der Barmer Theologischen Erklärung ein wichtiges Bewusstseinselement; ihre Unterzeichner fühlten sich direkt in ihrem Bekenntnis getroffen, für sie drohte die kirchliche Gemeinschaft auseinanderzubrechen (status confessionis). Die Bekennende Kirche, die nun am Entstehen war, erlebte in seinen Worten nun keine Kirchentrennung, »sondern eine doleantie (Abspaltung)«, es drohte Märtyrerschaft. Doch die Regierung beeindruckte das nicht. Im September war Ludwig Müller, Hitlers Vertrauter und Mitbegründer der Deutschen Christen, bereit, als Reichsbischof uneingeschränkt mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Dies war ein weiterer Schritt zur Gleichschaltung der evangelischen Kirche. Die Spannungen mit der internationalen ökumenischen Bewegung nahmen zu. Visser ’t Hooft fertigte auch eine Studie über die römisch-katholische Kirche in Deutschland an, in der er feststellte, dass diese Kirche weit davon entfernt war, so viele Schwierigkeiten ertragen zu müssen wie die protestantischen Kirchen. Er untersuchte auch die evangelische Jugendarbeit. Zu seinem Leidwesen stellte er fest, dass die Nationalsozialisten nach und nach die gesamte Jugendarbeit übernommen oder aufgelöst hatten. Dies galt schon für die international ausgerichteten deutschen Abteilungen des YMCA, für die er selbst so lange mitverantwortlich war.104 Ihnen sollten bald die Studentenorganisationen, einschließlich des WSCF, folgen.

Nicht nur die Kirchen liefen Gefahr, ihre Identität bei der totalitären Machtübernahme zu verlieren. Obwohl Visser ’t Hooft schon früher vor dem sterilen Wissenschaftsansatz gewarnt hatte, stellte sich jetzt paradoxerweise heraus, dass es nicht zu einer wertfreien Wissenschaft kam. Die Universitäten zeigten sich verwundbar, wurden nun zum Ziel schädlicher politischer Einmischung und zu Orten sozialer, politischer und wirtschaftlicher Unruhe. Aufgeregte Studenten mischten bei Krawallen ganz vorne mit. Sie waren nach Visser ’t Hooft in keinem Land dem Militarismus zugeneigt, jedoch über ihre Chancen in der Gesellschaft enttäuscht, unsicher über ihre Zukunft und voller Sehnsucht nach Veränderung. So waren Studenten leicht zu verführen. In ihrem Verlangen sah Visser ’t Hooft einen religiösen Unterton.105

Was war der eigentliche Reiz der Massenbewegungen für junge Menschen? Das war die Frage, die sich Visser ’t Hooft im Mai 1934 in seiner Rede für die Glasgow University Union stellte, als er fünfzehn britische Universitätsstädte besuchte. Er erinnerte daran, wie er bereits 1921, kurz nach dem Krieg, in Glasgow gewesen war, und an die hoffnungsvolle Sehnsucht der jungen Menschen nach einer anderen Zeit. Jetzt fühlten sich die Studenten in einer »kranken Welt« von den Geistern der Arbeitslosigkeit und des Krieges bedroht. In Osteuropa mussten die Universitäten wegen Unruhen regelmäßig geschlossen werden. Die Studenten hatten das Gefühl, dass niemand auf sie wartete, außer, wenn sie sich gegen ihren Willen in Soldaten verwandelten. Laut Visser ’t Hooft wurden die Menschen von den totalitären Massenbewegungen abgeschreckt. Eine Wahl war notwendig – und diese war entweder Christus oder ein Führer wie Mussolini, Hitler oder Stalin. Das Christentum konnte sich keine entschuldigende Haltung mehr leisten. Es musste jetzt deutlich bekennen, dass es mit vollem Herzen und Loyalität zu Christus stünde. Intellektuelle konnten es sich nicht mehr leisten, das Leben ohne Verpflichtung zu betrachten.106 Visser ’t Hooft sah, dass christliche Studenten auf der ganzen Welt diese neue Dringlichkeit erkannten und deshalb mutig jeden Kompromiss ablehnten. Eine radikale Entscheidung für Christus war die Antwort.

Echte Evangelisation war authentische »Teamarbeit«, also nicht gegenüber dem anderen predigen, sondern neben ihm und im Gespräch mit dem anderen, wobei das Gebet und eine gemeinsame Offenheit für Gott bedeuten konnte:

»Keine Anmaßung. Nicht ich habe es, nicht du. Evangelisiere dich selbst, bevor du den anderen evangelisierst. Stell dich mit ihm unter den Ruf und das Versprechen. Solidarität. Nur wenn wir geben, erhalten wir.«107

Er wollte eine Alternative anbieten. Während einer speziellen NCSV-Evangelisierungskonferenz 1933 an der internationalen Schule La Châtaigneraie in Genf unterstrich er, dass die Entscheidung für Christus eine ernste Angelegenheit sei. Die Studenten seien die geistlichen Führer von morgen und hatten die Verantwortung, ihre Gaben zu entwickeln. Sie waren ein Mittel gegen Defätismus, Kommunismus und Faschismus. Einige Jahre lang beschäftigte sich der NCSV, teilweise unter dem Einfluss von Visser ’t Hooft, mit verschiedenen Aspekten der Volkseinheit. Ein wichtiger Beitrag dazu kam von dem berühmten – und nicht kirchlichen – niederländischen Kulturwissenschaftler Johan Huizinga. Er hielt im Mai 1934 einen Vortrag mit dem Titel Niederländische Geistesformen in Woudschoten vor dem NCSV.108

Visser ’t Hooft selbst konnte jedoch in seinem Führungsstil und im Eifer seiner »aggressiven« Evangelisation durchaus autoritär sein. Manchmal verwendete er Begriffe, die nicht jeder schätzte. Beispielsweise sprach er 1935 über die Notwendigkeit eines »totalitären Christentums« und schrieb dem wahrhaften Christentum absolute Werte zu.109 Hierauf kam auch Kritik aus seinen eigenen Kreisen. Eric Fenn, Leiter des britischen SCM, lehnte diese Art von Sprache für die Kirche oder das Christentum ab. Es sei falsch, den Anschein einer zentralen Verkörperung objektiver göttlicher Autorität zu erwecken. Visser ’t Hooft gab das zu. In seinem WSCF-Bericht über den Zeitraum von 1931 bis 1935 tauchten diese Ausdrücke nicht mehr auf.110 Er hatte die Briten von ihrem manchmal zu bequemen Christentum, das auf einer natürlichen Theologie basierte, abbringen wollen; sie sollten nicht ausblenden, was jetzt in Deutschland geschah.111

Visser ’t Hooft wollte mit christlichen Führern in Deutschland in Kontakt bleiben. Aber wie? Seinem Vorschlag, aus dem WSCF einen ständigen ökumenischen Beobachter nach Deutschland zu schicken, begegnete man in Deutschland mit Skepsis. Das Schreiben von Briefen wurde durch die Zensur immer schwieriger. Die befreundeten Deutschen baten ihn ausdrücklich darum, »zwischen den Zeilen ihrer Briefe zu lesen.«112 Niederländer, die dicht an der deutschen Grenze lebten, rief er auf, bei Hilfeersuchen zur Verfügung zu stehen und den Kontakt aufrecht zu erhalten.

1938 gab das Hitler-Regime für Visser ’t Hooft jeglichen Anschein von Vernunft auf. In der Nacht des 9. November sah er, während einer seiner Deutschlandbesuche, Synagogen in Tübingen und Stuttgart brennen.113 Zusammen mit Henry-Louis Henriod, dem Generalsekretär des Weltbundes für Freundschaft der Kirchen und Adolf Keller, dem Direktor des europäischen Büros für die zwischenkirchliche Hilfe und Flüchtlinge, InterchurchAid, schickte er am 16. November 1938 einen Brief an eine große Anzahl von Kirchen, um sie an frühere ökumenische Verabredungen gegen Antisemitismus und die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge zu erinnern.114 Man fühlte sich jedoch in erster Linie für die zum Christentum konvertierten Juden und insbesondere für die Pfarrer unter ihnen verantwortlich. Visser ’t Hooft hatte eine Liste von dreißig »nicht-arischen« Pfarrern, von denen viele nun Deutschland verlassen wollten. Er bat J. C. Wissing vom Ökumenischen Rat in den Niederlanden, einige dieser Pfarrer in den Niederlanden oder in Niederländisch-Indien als »Bruderpflicht« aufzunehmen.115 Wissing selbst saß im Vorstand des Protestantischen Hilfskomitees für Flüchtlinge wegen Rasse oder Glauben (Protestants Hulpcomité voor Uitgewekenen om Ras of Geloof), das in den Niederlanden gegründet wurde und eng mit dem Flüchtlingskomitee des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf zusammenarbeitete. Sie versuchten auch, Flüchtlinge nach Südamerika auswandern zu lassen. Es war eine schwierige Arbeit, weil sich die deutsch-jüdischen Pfarrer nicht leicht vermitteln ließen. Aber Visser ’t Hooft meinte zu Wissing, er finde, dass die Niederlande stark und klar auf die jüngsten Ereignisse in Deutschland reagierten. Im Frühjahr 1938 setzte sich der von Visser ’t Hooft ermutigte NCSV für den deutschen Pfarrer Martin Niemöller ein, der aus Protest gegen den Arierparagraphen in der Kirche den Pfarrernotbund gegründet hatte. Er wurde wegen seiner Kritik an den Nationalsozialisten 1937 auf Hitlers persönlichen Befehl inhaftiert. Visser ’t Hooft forderte den NCSV auf, Niemöller nicht als Politiker oder Mann der Redefreiheit zu präsentieren, sondern als einen Mann der Kirche.116 Die »Deutsche Revolution« war in einem Albtraum für Kirche und Gesellschaft gemündet. Nur von einem kirchlich bekenntnisorientierten Christentum, das Opfer bringen und die Einheit aufrechterhalten konnte, erwartete Visser ’t Hooft noch etwas.

Willem Adolf Visser 't Hooft

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