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2.8 Ein »Nein« zur Mission

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In dieser Zeit hätte Visser ’t Hooft fast eine führende Position in der Mission angenommen. Das Thema faszinierte ihn. Ost-Indien stand an der Schwelle einer neuen Ära, und seiner Meinung nach konnte Mission eine wichtige und konstruktive Rolle im Entkolonialisierungsprozess spielen. Sowohl im WSCF als auch in der Familie wurde viel über Mission gesprochen. Einer der Cousins von Jetty, Steven C. Graaf van Randwijck (1901–1997), war von 1929 bis 1942 Missionskonsul in Batavia, der Hauptstadt von Niederländisch-Indien. Auch Conny L. Patijn (1908–2007), ein weiterer Cousin von Jetty, erwog 1937 nach seiner Promotion in Rechtswissenschaft in Utrecht in die Mission zu gehen. Darüber wurde auf Spaziergängen auf dem Anwesen Het Roode Koper in der Veluwe, das der Familie von Connys Frau, Mariët Patijn-van Citters gehörte, gesprochen, wo auch Wim und Jetty zu Gast waren. Conny Patijn war auch mit Steven van Randwijck verwandt. Aber von Visser ’t Hooft erhielt Patijn den nüchternen Rat, in den Niederlanden zu bleiben:

»Es ist erstaunlich, dass dieser Kommentar von mir stammt, und es kann sein, dass ich zu sehr in der Vorstellung gefangen bin, dass du und andere Leute aus deiner NCSV-Generation eines Tages helfen können, die neuen Niederlande in Gang zu bringen […] Eine Sache würde ich nicht so schwer gewichten, nämlich die Frage des ›Rufes‹. Für viele von uns ist es nun einmal nicht immer so, dass die Berufung auf eine unmittelbar offensichtliche Weise zu uns kommt. Wir müssen dann auf sachliche Weise die Informationen akzeptieren, die vor uns liegen und die ebenso Gottes Führung beinhalten wie ein direkter Ruf. Tatsächlich hilft eigentlich immer mehr der Gedanke, dass es eine Wirtschaft des Reiches Gottes gibt und dass man dort stehen muss, wo man nach menschlicher Berechnung am besten dienen kann.«117

Conny Patijn entschied sich schließlich für die Niederlande. Nach dem Krieg machte er Karriere, unter anderem als Abgeordneter der Tweede Kamer (des Parlaments) der Partij van de Arbeid (Sozialdemokratische Partei der Niederlande) und als hoher Beamter in verschiedenen Ministerien.

In der christlichen Jugendbewegung war Mission in den 1930er Jahren mehr oder weniger selbstverständlich, und der Ruf, Missionar zu werden, wurde regelmäßig erhört. Eine der Schlussfolgerungen der Weltmissionskonferenz von 1928 in Jerusalem war, dass angesichts der Säkularisierung nicht nur protestantische Kirchen, sondern die Religionen im Allgemeinen keine Konkurrenten, sondern Verbündete seien, die mehr zusammenarbeiten sollten. Unter der Leitung des amerikanischen Idealisten und Philosophen W. E. Hocking wurde in den Jahren 1930 bis 1932 eine große Studie durchgeführt, die die Missionsarbeit von sechs protestantischen Konfessionen in Ost-Indien, Birma, China und Japan untersuchte. In ihrem Bericht Rethinking Missions plädierte die Studienkommission für ein Umdenken bei Missionen: mehr Aufmerksamkeit für Bildung und Wohlstand, Übertragung von Führungsaufgaben auf lokale Gruppen und Institutionen, weniger Evangelisation und mehr Respekt für die indigenen Religionen.118 Solche Empfehlungen mochte Visser ’t Hooft jedoch nicht. In seinen Augen ging es dabei um »Religion«, und das meinte er nicht als Kompliment. Hier ging es um menschliche Arbeit, die sich ohne Gott zusammenbastelte. So konnte das Evangelium nicht gepredigt werden. Angeregt durch Barth plädierte er dafür, den Inhalt der Offenbarung Gottes aufrechtzuerhalten, auch wenn sich die Mission formell an die lokale Kultur anpassen müsste. In The Student World lehnte Visser ’t Hooft Hockings Empfehlungen als »Mission ohne Rückgrat« ab.119

Persönlich fühlte er sich sehr von Indien angezogen. Nach seiner Promotion 1928 dachte er das erste Mal daran, nach Niederländisch-Indien zu gehen. Es gab einen ernsthaften Plan, beim Aufbau einer theologischen Fakultät mitzuwirken, aber seine Ernennung zum WSCF hinderte ihn daran, diesen Plan weiter zu verfolgen.120 Immerhin machte er 1933 zusammen mit Jetty und zwei Mitarbeitern eine große Reise nach Indien, als dort der chinesische Missionar T. Z. Koo eine Konferenz für die südostasiatischen Abteilungen des WSCF organisierte. Cees L. van Doorn und seine Frau engagierten sich besonders für eine javanische Studentenabteilung. Visser ’t Hooft war begeistert – das hier war der einzige Ort, an dem sich Christen aus allen »indonesischen Gruppen« treffen konnten. Der damalige Generalgouverneur war B. C. de Jonge, für Jetty Onkel Bonne, der sie im Palast von Batavia empfing. Visser ’t Hooft gewann dabei den Eindruck, dass die niederländischen Administratoren nicht wussten, wie weit sich der indonesische Nationalismus bereits entwickelt hatte. Er merkte, dass die meisten Niederländer, einschließlich des Generalgouverneurs, davon ausgingen, dass sie in dieser paternalistischen Atmosphäre noch sehr lange die Kontrolle über Indien ausüben würden. De Jonge sah zwar innenpolitische Probleme, führte sie jedoch hauptsächlich auf die Weltkrise zurück und nicht auf die niederländische Führung. In den Augen von Visser ’t Hooft vernachlässigten die Niederländer jedoch Indien. Große Chancen wurden verpasst. Geistliche Vertiefung und »aggressive Evangelisierung« waren nötig. Doch ein Machtkampf bahnte sich an. Davor konnten Regierung und Mission noch einiges für die Entwicklung in Indien tun. Allerdings blieben die Kirchen gespalten und die Jugendarbeit fragmentiert.121

»Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich in Indien erschrocken bin über die große Unsicherheit, mit der sich die Niederländer und die Ureinwohner gegenüberstehen, und über die tiefe Kluft, die sie voneinander trennt. Mein Haupteindruck ist, dass Holland, nachdem es jahrelang versucht hat, bei der Stärkung der Macht der Ureinwohner fair zusammenzuarbeiten, plötzlich in Gefahr ist, seinen Kurs zu ändern und den Weg einer reinen Machtpolitik einzuschlagen.«122

Obwohl die Niederlande seiner Ansicht nach gerade dabei waren, »ihre moralische Rechtfertigung als Kolonialmacht einzubüßen«, rechnete er nicht mit einem Aufstand, weil er in der nationalen Bewegung mehr Bestrebungen als Gewalt sah. Zurück in den Niederlanden hielt er 1934 beim niederländischen WSCF-Verbandstag einen Vortrag über Indien, in dem er seine Besorgnis den Studenten gegenüber äußerte.123 Der Jurist Frederik van Asbeck, ein enger Freund von Visser ’t Hooft, übernahm die Aufgabe, das Indien-Thema für den NCSV weiter auszuarbeiten.

Visser ’t Hoofts Einstellung zur Politik Niederländisch-Ostindiens wurde immer negativer. Der niederländische Premierminister H. Colijn galt zu dieser Zeit als Autorität in der Kolonialfrage. In den späten 1930er Jahren musste er einmal vor dem Völkerbund in Genf sprechen. Gerade in diesem Moment wohnte der Missiologe Hendrik Kraemer bei Visser ’t Hooft. Kraemer (1888–1965) war ein Kenner der indischen Kirchen, der lange Zeit in der Kolonie blieb. Er war davon überzeugt, dass die Niederländer die Bevölkerung in Niederländisch-Indien aktiv auf die Unabhängigkeit vorbereiten sollten und dass in der Erziehung Raum für ihre eigene spirituelle indische Tradition sein müsse. Als Hendrik Kraemer Colijn in seinem Hotel in Genf besuchte und mit ihm über seine Einsichten sprechen wollte, hielt ihm der Ministerpräsident einen Kolonialismus-Vortrag. Colijn schien keinerlei Interesse an einem Rat von Kraemer zu haben. Für Visser ’t Hooft hatte Colijn im Hinblick auf Indien völlig versagt.124

Die Missionen sollten aus der Sphäre der rein karitativen Organisationen befreit werden. Ohne falsche Romantik wollte er die Welt der Mission in »ihrer Armut und in ihren Verheißungen« darstellen.125 Visser ’t Hooft lehnte dabei jede Form von Synkretismus radikal ab, stattdessen solle das Evangelium Jesu Christi ungekürzt, mit Respekt für die lokale Kultur, verkündet werden. Was er dabei jedoch übersah, war, dass bei jeder Verkündigung von Geschichten aus dem Neuen Testament sprachliche Konzepte aus der empfangenden Kultur verwandt wurden; so, wie es auch früher in Europa geschehen war.126

Im September 1935 fand in Basel unter der Schirmherrschaft des International Mission Council und des WSCF eine internationale Studentenmission statt, an der mehr als 250 Studenten aus zahlreichen Ländern teilnahmen. Visser ’t Hooft lud seinen Lieblingstheologen und Freund Karl Barth ein. Er erwartete von ihm einen begeisterten Beitrag. Dazu kam es jedoch nicht; Barth antwortete scharf:

»Wie ich überhaupt glaube, dass diese Art von christlichen Cirkussen – könnten Sie sich Athanasius oder Calvin oder Kohlbrügge bei einem solchen Anlass vorstellen? – ihre Zeit gehabt, aber nun vielleicht endgültig gehabt hat. Was kommt eigentlich heraus bei dem vielen Zusammenlaufen? Wäre es nicht allmählich besser, Konferenzen nur noch zu veranstalten, wenn man wirklich etwas zusammenzutragen hat an wirklich brennenden Nöten, Fragen und Aufgaben, an gemeinsamen Einsichten und Ausblicken – und gar nicht um der Konferenzen als solcher Willen?«127

Visser ’t Hooft war zutiefst verletzt und reagierte wie von einer Wespe gestochen:

»Haben Sie wirklich so wenig Vertrauen in Ihre Freunde Eduard Thurneysen, Pierre Maury, Karl Hartenstein und mich, die ja alle daran beteiligt sind, dass Sie uns nicht besser als christliche Sarrasanis ansehen? Und auf welchem Grund kommen Sie eigentlich zu diesem schnellen Urteil?«128

Während sich Visser ’t Hooft und seine Anhänger bemühten, die Mission von der Philanthropie zu befreien, beschimpfte sie Barth als christliche Clowns. Der Gelehrte, den er für seinen mächtigsten Verbündeten hielt, blickte auf genau die Bemühungen herab, die Visser ’t Hooft jahrelang als Kern seiner Arbeit angesehen hatte: die Organisation ökumenischer Konferenzen. Visser ’t Hooft reagierte ebenfalls mit Schärfe:

»Schade, dass Sie die Sache so ansehen und nicht verstehen wollen, dass auch an dieser Front ernste Arbeit getan werden muss. Sollten wir denn doch noch die Hoffnung aufgeben müssen, dass die richtige Theologie auch ein wenig Verständnis haben kann für die unoffizielle, aber nicht unnötige Arbeit, die wir in unserer Studentenbewegung nun seit Jahren zu tun versuchen? Denken Sie wirklich, dass es uns dabei ›um der Konferenzen als solcher Willen‹ geht? Dann kennen Sie uns schlecht und verstehen Sie nicht, wie es aussieht im Herzen eines Menschen, der viel lieber zu Hause sitzen möchte, aber dem nun einmal ein anderer Auftrag gegeben ist.«129

Auch Calvin oder Athanasius hätten sich an der Basler Konferenz sicherlich nicht allzu unglücklich gefühlt, merkte er an. Doch Karl Barth war offensichtlich nicht klar gewesen, dass er mit seinem Urteil Visser ’t Hooft beleidigt hatte, denn er antwortete umgehend:

»Halt, halt, halt! Das Leben ist viel zu kurz und schwierig und es ist auch gegenwärtig viel zu heiss, als dass wir uns unnötig Betrübnis, Sorge und Zorn bereiten dürften. Fassen Sie, was ich Ihnen geschrieben habe, bitte nicht so schrecklich prinzipiell auf!«130

Er schrieb weiter, dass er damit gerechnet habe, dass es für ihn ein Zirkusereignis werden würde und bat Visser ’t Hooft, ihm nicht länger gram zu sein. Lieber würde er alle möglichen Konferenzen besuchen, als die Zuneigung von Visser ’t Hooft zu verlieren. Dieser scherzhafte, leicht ironische Unterton Barths prägte seitdem die schriftliche Kommunikation Barths mit Visser ’t Hooft. Es bleibt jedoch offen, ob Karl Barth Visser ’t Hooft wirklich verstanden hat. Umgekehrt berührte Barths Kritik die Achillesferse einer Konsensökumene, in der Visser ’t Hooft sehr viel von einem guten Gespräch und der gemeinsamen Erörterung weltweiter Herausforderungen erwartete. Er hatte mehr mit Barth als Barth mit ihm.131 Dieser Zusammenstoß sollte nicht der letzte sein.

Auch Wims Frau Jetty machte in dieser Zeit ihre eigenen Erfahrungen mit Barth; und auch diese hatten mit dem absoluten Offenbarungscharakter zu tun, den Barth der Bibel als Gottes Wort zuschrieb. 1934 schrieb sie an Barth, den sie bis dahin noch nie persönlich getroffen hatte, und fragte ihn, wie er die Worte des Apostels Paulus in 1. Korinther 11,5–9 über das ungleiche Verhältnis zwischen Männern, Frauen und Gott erkläre.132 Barth antwortete, dass es keine Gleichheit gäbe, weil es im Wesentlichen nicht um das Verhältnis zwischen Mann und Frau gehe, sondern um das zwischen Gott und Mensch. Sie müsse lernen, deutlicher zwischen ihrer humanen und ihrer theologischen Argumentation zu unterscheiden.133 Das akzeptierte Jetty nicht und antwortete Barth mit einem Brief, in dem sie Barth einige kritische Erfahrungsfragen stellte.134 Was könne Gott damit vorhaben, wenn die Geschichte zeige, dass Männer den wahren Grund für ihre »Oberflächlichkeit« nie begriffen hatten? Wo war in dieser Theologie die Liebe, die nichts über Überlegenheit oder Unterlegenheit wissen wollte, geblieben? Sie selbst dachte an ein Dreieck. Genau dort, wo Gott das Ziel, der Punkt des Dreiecks war, waren Mann und Frau polarisiert. Der Glaube an Gott war die Voraussetzung für den Glauben aneinander; die Beziehung war ein dynamischer Dreifachbund. Ihre Überlegungen fasste Jetty zunächst in einem Artikel unter ihrem Mädchennamen in The Students World, unter dem Titel »Gibt es ein Frauenproblem?« zusammen.135 Beinahe entschuldigend argumentierte sie, dass es ihr nicht um Feminismus ging, sondern um ihr Verständnis eines geistlichen und religiösen Problems. Frauen hatten sich in ihre Fähigkeit verliebt, sich an Männer anzupassen. Pilatus war mehr von der Stimme der Massen beeindruckt als von der seiner Frau. So waren Führer und Staatsmänner wie ein moderner Pilatus und ignorierten die Stimmen von Frauen und Müttern. Aber die Frau existierte nicht um des Mannes willen. Es gab eine gegenseitige Verantwortung. 1936 veröffentlichte sie die Broschüre Eva, wo bist du?, in der sie von einem Gespräch mit Barth erzählte, das auf ihren Briefwechsel erfolgt war:


Porträt Jetty Visser ’t Hooft-Boddaert, ca. 1935

»In einem Gespräch mit Karl Barth, der an der paulinischen Linie festhielt: Gott – Christus – Mann – Frau, wobei dann immer der erste das Haupt des nächsten ist, sagte ich ihm, dass ich immer weniger verstehen könne, wie selbst die meisten gläubigen Christen dieser Linie folgten. Er hielt einen Moment inne und antwortete dann ernsthaft: ›Aber glauben Sie denn nicht, dass das für uns (Männer) eine schwere Last bedeutet?‹ Das bewegte mich wirklich tief: Ist das nicht das erste Mal in der Geschichte der Kirche, dass ein Mann, ein Christ, so seine tragische Situation begreiflich macht? Aber einen Moment später dachte ich: Nein, nein; das ist nicht möglich. Gott, der sehr wohl weiß, was er an den Menschen hat, und zwar so gut, dass er ihnen seinen einziggeborenen Sohn angeboten hat, kann diesen nicht mit einem so schweren Auftrag nur an die eine Hälfte der Menschheit schicken, bei denen dann für einen Großteil das Heil von der anderen Hälfte der Menschheit abhängt.«136

Jetty hatte viel über die »Frauenfrage« gelesen, unter anderem von Carl Gustav Jung und Emma Jung-Rauschenbach. Für sie waren Mann und Frau gleichberechtigt und komplementär; zusammen stellten sie die Menschheit dar. Sie war davon überzeugt, dass die Frau eine eigene Spiritualität besaß. Männer und Frauen hatten sich einander viel mehr zu bieten, als oft zugestanden wurde. Sie plädierte dafür anzuerkennen, dass jeder Mann und jede Frau eine weibliche und eine männliche Seite hätten. Davon erwartete sie eine Bereicherung des Ehelebens und einen wertvollen Beitrag von Frauen in der Gesellschaft, während sich auch Männer besser würden kennenlernen.

»Neben den vielen Scheidungen kennen wir alle die zynischen Männer, die sich in ihrer Arbeit vergraben, und die Frauen, die sich schließlich resigniert dem Alltag ergeben.«137

Mit Barth fand Jetty keine Übereinstimmung. Der Theologe fand ihre originellen Überlegungen keine einzige Zeile oder Fußnote wert in seiner weit über 9000 Seiten umfassenden Kirchlichen Dogmatik. Sehr zum Nachteil seiner Anthropologie, wie später der deutsche Theologe Jürgen Moltmann befand.138 Doch Jetty erwartete noch immer etwas von Barth und studierte seinen ganzen Band über die Lehre der Schöpfung. Als Barth auf der Gründungsversammlung des ÖRK 1948 den vorsichtigen Aufstieg der feministischen Theologie in einem Workshop, der extra auf ihr Drängen von Visser ’t Hooft ins Programm aufgenommen worden war, lächerlich machte, war Jetty tief verletzt und enttäuscht.139 Zu spät begriff Visser ’t Hooft, dass sie ein sehr wichtiges Thema auf die Tagesordnung gesetzt hatte, das der Theologe Barth, den beide verehrten, nicht verstand.140

Ab 1935 hatte Visser ’t Hooft das Gefühl, in die Niederlande zurückkehren zu müssen, vielleicht in einer Funktion für die Mission, zum Beispiel als Sekretär der Niederländischen Bibelgesellschaft (NBG), wie es Herman Rutgers vorschlug.141 Es gab viele Gründe, die dafür sprachen, wie ein stabiles Arbeitsumfeld, bei dem er nicht mehr um die ganze Welt reisen müsste und mehr Zeit für die Familie und das Studium hätte. Die NBG hatte Kontakt mit der Mission und der Studentenwelt, und die NBG war die einzige Einrichtung, in der fast alle protestantischen Kirchen zusammenarbeiteten. Doch Visser ’t Hooft sagte nicht zu. Er gab zu, dass er von dem running round the world manchmal müde werde. Und doch sei es noch stets sein Ort.

»Aus meiner Sicht ist die Angelegenheit jedoch nicht so dringend, da ich davon überzeugt bin, dass es äußerst schwierig sein wird, einen Arbeitsplatz zu finden, der tatsächlich befriedigende Elemente und größere Chancen böte als mein jetziger.«142

Die niederländischen Freunde hielten noch eine Weile durch. Visser ’t Hooft überlegte, ob er nicht eine bezahlte Stelle bei der NBG annehmen und zusätzlich unbezahlter Vorstand des WSCF sein könne. Der Anwalt Paul Scholten, der Schatzmeister der NBG und ein Studienfreund von Visser ’t Hooft, hielt dagegen, dass er ab und an höre:

»dass es Dr. Visser ’t Hooft leicht habe, allen auf der ganzen Welt zu sagen, was sie tun sollten, aber dass er keine Ahnung habe, welche Schwierigkeiten, Empfindlichkeiten, kleinen Dinge und Richtungsprobleme und was weiß ich noch mehr kommen können, wenn er nun in einem bestimmten Land etwas Konkretes tun will und man ihm international sagt, was getan werden solle.«143

Scholten warnte Visser ’t Hooft, doch diesen überzeugte sein Argument nicht. Seit 1935 wurde um ihn für ein paar Jahre von verschiedenen Seiten geworben. Die Niederländische Missionsgesellschaft wollte ihn als Direktor. Doch John Mott wollte, dass er in Genf bleibe – und so blieb er. Rutgers selbst ging zur Niederländischen Bibelgesellschaft; sein Freund Kraemer nahm in Leiden eine Professur für Dogmatik an. Zur selben Zeit wurde in den Kreisen von Life and Work über die Gründung eines Ökumenischen Rates der Kirchen gesprochen. Konnte sich da eine Funktion für ihn ergeben?

Visser ’t Hooft hatte Theologie studiert und war 1923 in die Nederlandse Hervormde Kerk eingetreten, hatte sich aber dort nie als Pfarrer ordinieren lassen. Nach der Barmer Theologischen Erklärung wurde ihm jedoch immer deutlicher, wie wichtig die Kirche war, und er fühlte sich zunehmend mehr vom Pfarramt angezogen. Am 29. März 1936 wurde er von seinem Freund Pierre Maury aus Ferney als Pfarrer der Église Protestante Nationale de Genève in der Kirche von Eaux-Vives ordiniert. Während dieses Gottesdienstes erklärte Visser ’t Hooft in einer feierlichen, aber auch persönlichen »Erklärung« seine Haltung zum Amt. In ihm war die Überzeugung gereift, dass jetzt wirklich an der konkreten Kirche teilzunehmen unabdingbar sei.

»Weil in mir ein ganz besonderes Interesse für die Frage der Einheit der Christen entstanden ist, ist mir deutlich geworden, dass diese Einheit nicht von draußen und über die Kirche hinweg kommen kann. Ich habe gesehen, dass der Glaube an die universale Kirche eine abstrakte Illusion bleibt, so lange ich nicht mitten in der konkreten Kirche Platz nehme.«144

Er erzählte, dass er sich zu Beginn seines Theologiestudiums sehr wohl berufen gefühlt habe, aber nicht zum Amt: »Im Gegenteil, ich hatte eher Angst vor dem Dienst des Pfarrers. Ich wusste nur eines: dass Gott mich gebrauchen wollte. Wie und wo, wusste ich nicht.« Aber seine Arbeit für den YMCA und den WSCF hatte sich ausgewachsen zu einem besonderen Dienst und war eine geistliche Schule geworden, eine Gemeinde auf fünf Kontinenten. Dank der intensiven und lebhaften Kontakte mit den Studenten weltweit hatte er sich allmählich als Pfarrer einer echten christlichen Gemeinschaft gefühlt. Die Kirche hatte lange Zeit nur einen kleinen Platz in seinem Leben, aber er erkannte zunehmend die Gefahr eines geistlich entwurzelten Lebens, insbesondere in der internationalen ökumenischen Bewegung: »eine Gefahr, die hauptsächlich die internationale und ökumenische Arbeit bedroht.«145

Westeuropa war selbst zu einem Missionsgebiet geworden. Im Winter 1937/38 organisierten die NCSV-Abteilungen in Utrecht und in Amsterdam eine Evangelisierungswoche. Es gab ein Vortragsprogramm, und es wurden Briefkarten mit Bibeltexten verteilt. Visser ’t Hooft hielt im Auditorium des Akademiegebäudes in Utrecht einen Vortrag mit dem Titel »›Gutes Leben‹ oder Glaube«. Darin wollte er eigentlich die Frage stellen, die bereits der niederländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius gestellt hatte; die Frage nach der Normierung eines Lebens ohne Gott (als ob es Gott nicht gäbe – etsi deus non daretur). Es lief aber dann doch auf das Dilemma der Romanfigur Raskolnikov in Dostojewskis Schuld und Sühne heraus: »Raskolnikow […] kommt zu dem Schluss, dass, wenn Gott nicht existiert, auch alles zulässig ist.« Dieses Problem, so Visser ’t Hooft, könne nur durch die Existenz Gottes in der Bibel gelöst werden.

»Die Bibel sagt: Gott ist da; Gott beginnt eine neue Ära; Du bist von Gott; Gott geht mit Ihnen an die Arbeit; Christus hat die Welt überwunden, und ihr könnt an seinem Sieg teilnehmen.«146

Für Visser ’t Hooft stimmten Mission und Ökumene überein. Eine lebendige und sich erneuernde Kirche musste sich neue Horizonte erschließen und diese erforschen. Die grundlegende Einheit der Kirche wurde nicht zufällig im Bereich der Mission wiederentdeckt. Wenn die Kirchen Nichtchristen wirklich etwas anbieten wollten, mussten sie sich als Einheit präsentieren. Wo es um Mission in den Kolonien ging, durfte die Wertschätzung für die Individualität der aufkommenden jungen Kirchen nicht fehlen. Während seiner Zeit beim YMCA und beim WSCF hatte er unter den Studenten zahlreiche zukünftige Führer der neuen Staaten kennengelernt, die sich in selbstverwalteten und unabhängigen Bewegungen zu sammeln und zu organisieren begonnen haben. Visser ’t Hooft war ein früher Befürworter der Anerkennung dessen, was in der aktuellen Wissenschaft als »polyzentrische Struktur« des Christentums bezeichnet wird. 147 Doch der Raum, den er für alternative Interpretationen zur Verfügung stellte, blieb begrenzt. Er hielt an der zentralen Rolle Christi fest, wie er sie in der Theologie Karl Barths zu sehen meinte. Jetzt fühlte er sich nicht länger zu einer Funktion in der Mission berufen.

Ende 1938 fand im indischen Tambaram, in der Nähe von Madras, die große Weltmissionskonferenz des Internationalen Missionsrates statt. Zusammen mit Steven van Randwijck und dem NCSV-Sekretär Frans Kooijman bildete Visser ’t Hooft die niederländische Delegation des WSCF. Über dieses Treffen schrieb der niederländische Missionar, Missiologe und Islamkenner Hendrik Kraemer 1938 das Buch A Christian Message in a Non-Christian World (1938), das von Visser ’t Hooft wegen seiner klaren Vision sehr gelobt wurde. Kraemer zwang seine Leser, über die Bedeutung der Botschaft Christi nachzudenken.148 Kraemer hatte ein Auge für die eigenen spirituellen Quellen der östlichen Kulturen, bestand jedoch darauf, dass diese christozentrisch interpretiert und somit christianisiert werden sollten. Das war genau das, was Visser ’t Hooft hören wollte, denn so verhinderte er, dass er zu einem »relativistischen Sendungsideologen« wie Hocking abrutschte.149 Stattdessen war die weltweite Kirche zu verkündigen.

Nach seiner Rückkehr aus Madras im Januar 1939 war Visser ’t Hooft mehr denn je davon überzeugt, dass die christliche Kirche, die damit beschäftigt war, ihre eigene universelle Form wiederzuentdecken, genau deshalb auf Konfrontationskurs mit den Mächtigen, die die Welt regierten, gehen musste.

»Die dominierenden Merkmale der christlichen Szene, von Madras aus gesehen, sind, dass die Kirche wirklich universell wird, und dass sie genau in dem Moment, in dem sich ihr inhärenter Universalismus manifestiert, in einen entscheidenden Konflikt gerät mit den Mächtigen, die die Welt kontrollieren. Die Kirche wird eine Weltkirche, aber gleichzeitig wird sie daran erinnert, dass sie nicht von dieser Welt ist.«150

Große Delegationen aus China, Ost-Indien und den Niederlanden machten für Visser ’t Hooft die Grenzen des »westlichen Provinzialismus« in Madras erkennbar. Von der sichtbaren kirchlichen Einheit im Bereich der Mission waren große Ergebnisse zu erwarten. Sollte es zu einem Ökumenischen Rat der Kirchen kommen, dann sollte er keine von westlichen Kirchen dominierte Organisation sein.

Willem Adolf Visser 't Hooft

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