Читать книгу Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra - Страница 18
2.2 Sekretär des YMCA im kriegszerstörten Europa
ОглавлениеAlle drei Brüder Visser ’t Hooft, Frans, Wim und Hans, absolvierten problemlos das Stedelijk Gymnasium in Haarlem. Anschließend schlugen sie jedoch alle andere Richtungen ein. Frans (1897–1982), der älteste Bruder, studierte in Delft, promovierte als Chemiker und heiratete die Amerikanerin Martha Hamlin (1906–1994), eine Tochter wohlhabender Eltern. Sie studierte ab 1922 an der Académie Julien in Paris und ab 1925 an der New York School of Fine and Applied Art und wurde expressionistische und surrealistische Malerin. Nach ihrer Heirat 1928 zogen Frans und Martha nach Buffalo. Frans wurde Vizepräsident der Novadel-Agene Corporation und später Präsident von Wallace and Tiernan’s Lucidol Division, wovon er sich 1961 zurückzog. Außerdem war er Honorarkonsul für die Niederlande in Buffalo. Sie hatten drei Kinder: Martje, Frans Jr. und Emily. Es war keine glückliche Ehe.
Während sich Frans auf seine Karriere und das Erklimmen sozialer Positionen konzentrierte, beschäftigte sich Martha hauptsächlich mit Kunst und ihren Kunstfreunden. Die Familie stand beiden im Weg.2 Wim Visser ’t Hooft hatte wenig Kontakt zu seinem Bruder Frans. Sie lebten in unterschiedlichen Welten. Gelegentlich besuchten sie sich, aber sie sahen sich nicht viel. Mit seinem jüngeren Bruder Hans (1905–1977) kam Wim dagegen besser zurecht. Er war der sportlichste der drei und wurde ein verdienstvoller Hockeyspieler. Er wurde für die niederländische Nationalmannschaft ausgewählt, die bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam Silber holte. Später war er Vorsitzender des Nationalen Eishockeyverbandes. Hans studierte Medizin in Leiden und wurde Allgemeinarzt in Velp. 1932 heiratete er Wilhelmina Scheurleer (1911–1974). Hans und Wil hatten sechs Kinder: Willem, Clan, Annemarth, Hans, Sander und Willemijn. Es gab regelmäßige Kontakte zwischen Velp und Genf, besonders als die Kinder noch klein waren.
Nach ihren Flitterwochen zogen Wim und Jetty im Herbst 1924 in ein provisorisches Zuhause am Boulevard de la Tour in Genf. Dieses Haus wurde bald gegen eine gemütliche kleine Villa in Petit-Saconnex eingetauscht. Sie fanden eine kirchliche Gemeinde in Ferney-Voltaire, etwas über der französischen Grenze nordwestlich von Genf. Die Predigt des evangelischen Pfarrers Pierre Maury (1890–1956), der Generalsekretär der französischen Sektion der WSCF gewesen war, sprach sie sofort an, so dass sie von nun an wöchentlich die Gottesdienste in Ferney-Voltaire besuchten. Maury wurde nicht nur ihr Pfarrer, sondern bald auch einer von Wims besten Freunden.
Im Herbst 1924 begann Visser ’t Hooft mit großer Begeisterung seine Arbeit beim YMCA. Sein Chef Robinson, der die Europaarbeit leitete, gab ihm viel Freiheit und ließ ihn selbst planen. Die einzige Vereinbarung war, dass Visser ’t Hooft für die Jungenarbeit des YMCA in Deutschland und Skandinavien verantwortlich sein sollte und sich dabei auf die Arbeit mit Jungen, die eine weiterführende Schule besuchten, konzentrieren sollte. So plante er als Erstes eine internationale Konferenz. Während der internationalen Begegnungen, die er erlebt hatte, hatte er genau beobachtet, was funktionierte und was nicht. Das Modell einer Konferenz passte zu ihm, und im Laufe seines Lebens sollte Visser ’t Hooft noch zahlreiche Konferenzen in unterschiedlichen Funktionen organisieren. Der YMCA, für den er jetzt arbeitete, war 1844 in London vom Industriellen und Philanthrop George Williams gegründet worden. Zunächst konzentrierte man sich dort auf Bibelstudien und Gebetsgruppen, die von Freiwilligen geleitet wurden. 1855 wurde unter der Leitung von Henri Dunant, dem Gründer des Internationalen Roten Kreuzes, ein Schritt in Richtung einer Weltorganisation in Paris gemacht. Man übernahm die sogenannte Pariser Basis, also die Formulierung »Jesus Christus, Gott und Erlöser«. Diese wurde später auch die Grundlage für die Gründung von Faith und Order 1938; Visser ’t Hooft übernahm sie auch als Grundformel für den sich im Aufbau befindenden ÖRK:
Wim in Tenniskleidung, Hans, Frans und Jetty, ca. 1928
»Der YMCA will junge Männer zusammenbringen, die, während sie Jesus Christus als ihren Gott und Erlöser nach der Heiligen Schrift anerkennen, Lehrlinge in Glauben und Leben sein möchten und sich für die Ausbreitung seines Königreiches unter jungen Männern einsetzen wollen.«3
Der World Union of World Alliance der YMCAs (Weltbund der YMCAs) umfasste Mitte der 1920er Jahre eine Sammlung ungleich geformter nationaler und lokaler Jugendorganisationen für Jungen jeden Alters. Die meisten richteten sich an Schüler, manchmal ging es um Arbeiter, manchmal um Studenten. Oft waren die dazugehörigen Vereine »Schmelztiegel« von Jungen aus allen Gesellschaftsschichten. Es gab Vereine, die von Laien geführt wurden, und Vereine, die von der Kirche gegründet wurden. Es war ein kompliziertes Unterfangen, all diese verschiedenen Vereine so zusammenzuhalten, dass sie den gesamten YMCA bereicherten. Ihre Aktivitäten reichten vom Bibelstudium über Schwimmunterrichtskampagnen, von Bildungsprogrammen für das Volk bis hin zu Evangelisation und Ferienlagern. Im Jahr 1926 gab es fast zehntausend assoziierte lokale Vereine mit einer geschätzten Mitgliederanzahl von 1,7 Millionen, von denen 30% Prozent jünger als 18 Jahre waren, in 63 Ländern, Gebieten und Kolonien.4 In Kontinentaleuropa wurden sie größtenteils von amerikanischen Philanthropen finanziert, die sich zu dieser Zeit sehr besorgt über die Auswirkungen von Kriegsgewalt und Revolutionen auf die Jugend zeigten. In den Jahren 1924 bis 1929 erholte sich die wirtschaftliche Lage, es kam zu relativem Wohlstand in Europa. Die Führung der YMCA befürchtete jedoch, dass sich unter der Jugend in Folge von Krieg und Revolution ein Geist der Skepsis, des Materialismus und der Säkularisierung durchsetzen würde. Es musste verhindert werden, dass eine neue Generation für radikale Bewegungen empfänglich wurde.5
Als Sekretär des YMCA war Visser ’t Hooft mit einer Reihe großer internationaler Treffen besonders erfolgreich. Beispielsweise berief er zweimal eine Konferenz im niedersächsischen Dassel für diejenigen ein, die sich besonders für Schüler auf den weiterführenden Schulen engagierten. Zur ersten Konferenz, die 1927 stattfand, schickten fast 50 Bewegungen ihre Vertreter. Die zweite Dassel-Konferenz des YMCA folgte 1932.6 Es wurde ein spezielles internationales Komitee gebildet, das eine religiös-psychologische Herangehensweise an das Thema Jugend anregte. Dafür gelang es Visser ’t Hooft, als Experten den niederländischen Professor Philip A. Kohnstamm (1875–1951) zu gewinnen. Kohnstamm war nicht nur Pädagoge, sondern auch Philosoph und Physiker. Als Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik und Didaktik in den Niederlanden setzte er sich für eine offene und realistische Herangehensweise ein, mit einem besonderen Interesse für die Entwicklungsphase des heranwachsenden Kindes.7
Beim YMCA beobachtete man mit Befremden, wie kommunistische und faschistische Jugendorganisationen aufblühten und Jungen und junge Männer anzogen. Visser ’t Hooft stammte aus einem religiösen und politisch liberalen Umfeld, wobei er als junger Mann durchaus Sympathien für den Sozialismus hegte.8 Später betrachtete er das als einen Jugendflirt, der mit utopischen Träumen zu tun hatte; danach hatte er es nie wieder mit dem Sozialismus. 1917 wurde in den Niederlanden das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt; 1922 durften Frauen zum ersten Mal wählen. Viele fragten sich damals, welchen Einfluss wohl die »Massen« auf Politik und Kultur haben würden. Visser ’t Hooft interessierte diese Frage auch, aber noch viel mehr beschäftigte ihn, wie diese Massen mit einer ansprechenden Verkündigung des christlichen Glaubens erreicht werden könnten. Visser ’t Hooft selber bekannte sich nie zu einer bestimmten politischen Partei oder Bewegung. Er wählte nie in den Niederlanden, und als er später als Ehrenbürger von Genf dort bei zahlreichen Referenden seine Stimme abgeben durfte, ließ er sich nie parteiideologisch zu seinem Wahlverhalten motivieren. Mit einer gewaltsamen Revolution konnte er nichts anfangen und Kommunisten hasste er, besonders, wenn sie an der Macht waren. Als Sozialisten anfingen, mit ihm zusammen zu arbeiten, hatte er, auch später, kein gutes Wort für sie.
In seiner Jugendarbeit für das YMCA hatte Visser ’t Hooft viel mit weiterführenden Schulen zu tun. Er distanzierte sich von dem liberalen Ideal, dass in der Bildung die individuelle Entwicklung von Kindern, die durch ihre Herkunft privilegiert waren, im Mittelpunkt stehen sollte, so wie er es aus seiner eigenen Jugend kannte. Das YMCA konzentrierte sich auf Kameradschaft und baute auf einer klaren christlichen Botschaft auf. Das war als realistische Alternative zu den radikalen Bewegungen gedacht. Denn in Visser ’t Hoofts Augen waren der russische Kommunismus und der italienische Faschismus besonders gefährlich, indirekt auch für benachteiligte Schulkinder außerhalb Russlands und Italiens. Es gab eine internationale idealistische Bewegung, wie etwa die paneuropäische Bewegung von R. N. de Coudenhove-Kalergi, die die nationalen Souveränitäten abschaffen wollte. Zugleich wurde am Anfang des Krieges 1914 der Weltbund für Freundschaft von den Kirchen gegründet. 1929 nahm dieser, auf dem Höhepunkt seines Wirkens, die radikale Resolution von Eisenach-Avignon an, in der die internationale Rechtsordnung über die Loyalität zu dem Nationalstaat gestellt wurde.9
In diesen Organisationen betrachteten die Menschen den Völkerbund mit großem Optimismus. Aber Visser ’t Hooft glaubte nicht, dass die Nachkriegsgeneration junger Menschen in solchen Ideen Halt finden würde. Dafür waren diese Ideen zu abstrakt. Totalitäre Bewegungen, wie die Mussolinis, waren seiner Ansicht nach so schlagkräftig, weil sich Patriotismus sehr konkret darstellen ließ. Und er sollte recht behalten. Dass diese allerdings so erfolgreich waren in ihren Forderungen nach politischer Loyalität, konnte man der »Masse« nicht verübeln. Ein Zeichen der neuen Ordnung war die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen 1923, als Deutschland die Strafbestimmungen des Vertrags von Versailles nicht einhielt.
Doch 1924, als Wim und Jetty nach Genf kamen, gab es überall Hoffnung, dass sich mit der Gründung des Völkerbundes tatsächlich etwas im Zusammenspiel der Völkerwelt ändern würde. Vom Völkerrecht wurde viel erwartet. Die folgenden fünf Jahre war Europa von einem gewissen Optimismus geprägt. 1925 schlossen der französische Außenminister Aristide Briand und sein deutscher Amtskollege Gustav Stresemann den Locarno-Vertrag ab, mit dem Deutschland seine neue Westgrenze anerkannte. Deutschland wurde 1926 Mitglied des Völkerbundes. Mit dem Briand-Kellogg-Vertrag von 1928 wurde der Krieg von den Unterzeichnerstaaten als Mittel der internationalen Politik offiziell abgeschafft. Der Bau des angesehenen Palais des Nations in Genf begann. Zur selben Zeit gewannen Faschismus und Nationalsozialismus neue Anhänger; länger schwelende Verlustängste, die den Krieg überwintert hatten, lebten wieder auf. Es entstanden Bewegungen, die religiös verbrämte Angriffe auf die Loyalität des Einzelnen starteten, indem sie ein kollektives Ideal, das stark von einem nationalistischen Mythos geprägt war, hochhielten. Als der New Yorker Börsencrash Ende Oktober 1929 die Jahre des relativen Wohlstands beendete, nahm der Faschismus an Fahrtwind auf.
J. R. Mott, der große Visionär hinter YMCA und WSCF, war die wichtigste Inspirationsquelle für Visser ’t Hooft. Zugleich wurde er jedoch auch sehr stark von Karl Barth beeinflusst. Anfang 1924 hielt Visser ’t Hooft einen Vortrag vor Studenten, in dem er unter dem Titel »Glaube und Religion« zum ersten Mal über seine Theologie sprach. Doch er selbst war damit nicht zufrieden; er hatte das Gefühl, dass die Studenten nicht verstanden hatten, wovon er gesprochen hatte.10 Als Barth 1925 Genf besuchte, war Zeit für ein Treffen und ein gründliches theologisches Gespräch mit den beiden Freunden Visser ’t Hooft und Maury. Barths Überzeugung, dass jede Religion ein menschliches Werk sei und dass Gottes Gnade als vollkommen souverän und gegenüber der menschlichen Kultur als dialektisch dargestellt werden solle, sprach beide unmittelbar an. Visser ’t Hooft und Maury verabredeten, Barths Werk durch Veröffentlichungen, Vorträge und Übersetzungen auch außerhalb des deutschen Sprachraums bekannt zu machen. Dabei wollten sie gerne an aktuelle Ereignisse anknüpfen. So veröffentlichte Visser ’t Hooft 1928 in der französischen Zeitschrift Foi et Vie einen kurzen Artikel, in dem er Barths Vision als ein Gegenbild zu dem bedrohlichen Szenario des »Untergangs des Abendlandes« präsentierte, das Oswald Spengler für Europa entworfen hatte und das damals viele beschäftigte.11
Unter den liberalen Kulturtheologen, die sein Studium in Leiden dominierten, beeinflusste ihn der Berliner Theologe Ernst Troeltsch (1865–1923) am meisten. Er vertrat die Auffassung, dass die Beziehung Gottes zur Welt immanent ist. 1923 schrieb Visser ’t Hooft seine Abschlussarbeit über den Einfluss von Immanuel Kant und Friedrich Schleiermacher auf das Denken von Troeltsch. In dieser Studie analysierte er Troeltschs Plädoyer für eine zeitgenössische Kirche, die sich mit Schleiermacher an den kulturellen Kontext des 20. Jahrhunderts anpassen solle: »Eine Verbindung freier Menschen, die mit einem Mittelpunkt verbunden sind und deshalb eine religiöse organische Einheit bilden.«12
Weitere wichtige Gelehrte, die sein Theologiestudium beeinflussten, waren Adolf von Harnack (1851–1930) und Rudolf Otto (1869–1937). Sie konnten seiner Meinung nach zwar viele wissenschaftliche Erkenntnisse über Religionen vermitteln, aber keine Grundlage für einen Glauben, mit dem sich eine Kirche errichten ließe oder eine Mauer zur Abwehr der gottlosen Massenbewegung. Ottos Buch Das Heilige von 1917 verriss er und schrieb: »Rudolf Otto […] kann uns mehr über das »Mysterium tremendum« erzählen, als gut für uns ist zu wissen.«13 Er war überzeugt davon, dass mit den Ideen dieser akademischen Theologen die Massen niemals motiviert werden können.
Diese Einsicht disqualifizierte für ihn die Wahrhaftigkeit ihrer Gelehrtheit, die er als eine im Elfenbeinturm eingemauerte Elite wahrnahm. Troeltsch unterschied auf der einen Seite zwischen dem Ideal einer gemeinschaftsbildenden »Kirche« und auf der anderen Seite zwischen den sich aus der Welt zurückziehenden und Trennung bringenden »Sekten«. Obwohl der Theologe sowohl Kirche, Sekten als auch Mystik argumentativ legitimierte, war das noch kein Beitrag zur Lösung des modernen sozialen Problems. Damit verwies Troeltsch auf einen Komplex von Schwierigkeiten, die er im Zusammenhang sah mit Kapitalismus, industriellem Proletariat, Militär, Weltbevölkerungswachstum, Kolonialismus, Arbeitsethik und Migration sowie Mechanisierung.14 Für Troeltsch waren nach innen gerichtete Kirchen, die sozial in ihren Konfessionen aufgingen, Sekten. Zahlreiche Kirchen saßen daher seiner Meinung nach im zwanzigsten Jahrhundert in einer starren Position fest.15 Ihr Untergang war nahe. Da hatte Troeltsch recht, fand Visser ’t Hooft. Selbst Studenten- und Jugendbewegungen, die sich an der Zersplitterung des Christentums durch »Sekten« beteiligten, konnten nicht anders, als sich »säulenförmig« zu organisieren. In den Augen von Visser ’t Hooft war dies eine Entwicklung, die auf Kosten des Zeugnisses der Kirche Christi als sichtbares Volk Gottes gehen würde, das auf dem Weg in die Welt war. Troeltsch analysierte, seiner Meinung nach, die Religion und die Formen von Kirchesein grundsätzlich zutreffend, aber er hatte sich doch mit seinem Relativismus und seiner Akzeptanz des Individualismus auch die Möglichkeit genommen, Menschen eine Antwort zu geben. Karl Barth, der sich »dialektisch« nannte, präsentierte Gott nicht als immanent, sondern als transzendent und souverän. Nach Barth kritisierte Gott in seiner Offenbarung die Menschheit. Die Wahrheit kam ans Licht und das führte zur Reflexion und zum Aufbau von Gottes Reich von Frieden und Gerechtigkeit oder auch zur Verwerfung des Menschen. Die Annahme von Barths Einsichten ließ Visser ’t Hooft auf Distanz zur Kulturtheologie gehen.
Ein dritter Theologe, der neben Troeltsch und Barth für Visser ’t Hooft prägend wurde, war der russische Kultur- und Religionsphilosoph Nikolaj A. Berdjajew (1874–1948). Dieser lehnte den Internationalismus als unbegründet optimistisch und vage ab und hielt ihn als Grundlage für eine Botschaft, die junge Menschen ansprechen könnte, ungeeignet. Berdjajew hatte sich zunächst im zaristischen Russland als Marxist verstanden und die Revolution von Lenin und seinen Anhängern 1917 unterstützt. Wegen seiner Kritik am Staatskommunismus wurde er jedoch aus Russland verbannt. Berdjajew war nicht nur von Dostojewski und Tolstoi beeinflusst, sondern auch von alten Kirchenvätern wie Gregor von Nyssa und Augustin. Auf dieser Grundlage stellte er Verbindungen zwischen den Wurzeln des Christentums und den Herausforderungen der modernen Welt her und vermochte so eine Brücke zwischen Ost und West zu bauen. Erst in Berlin und nach 1924 im Pariser Exil entwickelte er einen Sozialmarxismus mit einem starken personalistischen Ansatz.16 Visser ’t Hooft lernte ihn kennen, als Berdjajew in Paris russische Emigrantenstudenten zusammenbrachte und dann dort eine eigene Abteilung der World Student Christian Federation gründete. Die Kombination von modern und alt, von Ost und West, die Berdjajew verkörperte, sprach Visser ’t Hooft an. Zugleich fand er in ihm eine Antwort auf das Antikirchliche, was in Tolstois Schriften zum Ausdruck kam: Es ging um die Qualität der Gemeinschaft. Berdjajew sollte in der Folgezeit, unter anderem durch seine Beiträge für die Zeitschrift Esprit, großen Einfluss auf die ökumenische Jugendbewegung und das Denken im frühen Ökumenischen Rat der Kirchen haben.
Neben der Organisationsform internationaler Konferenzen suchte Visser ’t Hooft nach anderen Vermittlungsformen. Er gründete eine englisch-deutschsprachige Zeitschrift mit dem Titel The World’s Youth / Jugend in aller Welt, die zahlreiche Aspekte rund um das Thema »Jugend« konkret und zeitgemäß thematisierte. Durch Berichte über das Leben von Jugendlichen in verschiedenen Ländern, inhaltliche Artikel und ansprechende Fotos vermittelte dieses Magazin jungen Menschen das Gefühl, Mitglied einer bunten weltweiten Familie zu sein. Wie war es, ein griechisch-orthodoxer Jugendlicher auf dem Balkan zu sein? Oder ein junger chinesischer Christ in Kanton nach der Revolution von Sun Yat-sen? Was war der Inhalt des religiösen Kampfes um die Jugend Mitteleuropas?17 Die Zeitschrift Jugend in aller Welt scheute sich nicht vor klaren theologischen Positionen. Als Chefredakteur vermied Visser ’t Hooft eine naiv gemeinte Weltbruderschaft; stattdessen räumte er der Verkündigung des Evangeliums mehr Raum ein.18 Der YMCA war eine vielgestaltige Organisation und nicht jeder nahm das unwidersprochen hin. Auf die Frage, was es bedeutete, Jungen zu Christus zu bringen, antwortete Visser ’t Hooft, dass die »Dassel-Bewegung« dazu vier Antworten gegeben habe: Erstens gab es eine Gruppe von Aktiven, die der Meinung waren, dass Sünde und Vergebung von zentraler Bedeutung sein sollten. Die zweite Gruppe betonte dagegen die Gaben Christi und seine Auferstehung, während eine dritte Gruppe ihr Augenmerk auf den Prozess der persönlichen Hingabe an Christus richtete, mit Raum für die individuelle Entwicklung der Jungen. Die vierte Gruppe schließlich sprach lieber über die konkrete Anwendung christlicher Prinzipien auf die verschiedenen Lebensbereiche. Aber Visser ’t Hooft wollte die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des YMCA nicht übertreiben: »Diese Standpunkte wurden nicht exklusiv von der einen oder anderen Seite vertreten. In den meisten Fällen ging es eher um Abstufungen als um Widersprüche.«19
Visser ’t Hooft reiste nun regelmäßig durch Europa und nahm an zahlreichen Treffen mit Schülern und ihren Leitern, Studenten, arbeitenden Jugendlichen und jungen Theologen teil. Als internationaler Vertreter der christlichen Jugendarbeit hatte er leichten Zugang zu zahlreichen kirchlichen und politischen Würdenträgern. So besuchte er beispielsweise Pfingsten 1925 in Hannover eine Veranstaltung des deutschen YMCA, dem CVJM (Christlicher Verein Junger Männer), bei der 15.000 Jungen zum Thema »Vorwärts zur christlichen Männlichkeit« versammelt waren.20