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2.5 Sekretär des WSCF in einem erneut bedrohten Europa

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Zahlreiche Studenten waren in der Leitung der Jugend des YMCA aktiv, die selbst Mitglieder ihrer nationalen Sektion der World Student Christian Federation (WSCF) waren. Der WSCF wurde 1895 in Schweden gegründet, unter anderem durch John Mott. 1896 folgte die Gründung der niederländischen Abteilung des WSCF, des NCSV. Ziel des NCSV war es, protestantische Studenten aus verschiedenen Kirchen zusammenzubringen. Die meisten Mitglieder waren reformiert, aber auch Remonstranten wie der junge Visser ’t Hooft waren willkommen. Der NCSV wollte das geistliche Leben der Schüler stärken und sie ermutigen, Mitschüler zu Christus zu bringen. Die lokalen Abteilungen organisierten kleinere Treffen, aber während der Sommerkonferenzen im nationalen Hauptsitz in Woudschoten bei Zeist kamen alle zusammen.46

Im Jahr 1928 entstand eine Führungskrise im WSCF. Es gab Meinungsverschiedenheiten über den zukünftigen, einzuschlagenden Kurs. Die erwartete Kandidatur des Schweizers Gustav Kullman für die Stelle des vakanten Generalsekretärs wurde von John Mott blockiert, der ihn wegen seiner Ehescheidung für nicht geeignet hielt. Im Dezember 1928 richtete das Generalkomitee an Visser ’t Hooft die Bitte, Halbzeitsekretär beim WSCF zu werden, und zwar in Genf, wo sich der Hauptsitz des WSCF in der 13 Rue Calvin befand. Er nahm an und gab seinen ursprünglichen Plan, eine theologische Ausbildung in Niederländisch-Ostindien aufzubauen, auf. Das war eine wichtige Wende. Die andere Hälfte seiner Zeit arbeitete er weiterhin zunächst für den YMCA, jetzt als Generalsekretär.


Teilnehmer des internationalen YMCA-Treffen Kanada, Herbst 1925. Visser ’t Hooft trägt das Holland-Schild

Nachdem er einige Zeit als coordinating secretary gearbeitet hatte, wurde er 1932 Vollzeit-Generalsekretär des WSCF, was er bis Ende 1938 blieb. Er nahm Abschied vom YMCA. Einige seiner Kollegen, mit denen er jetzt eng im WSCF-Exekutivkomitee zusammenarbeitete, waren der Japaner W. E. Kan, der Chinese T. Z. Koo und insbesondere Suzanne de Diétrich (1891–1981) aus dem Elsass. De Diétrich hatte eine technische Ausbildung absolviert, dann jedoch unter dem Einfluss von Karl Barth begonnen, für die internationale christliche Studentenbewegung zu arbeiten. Visser ’t Hooft schrieb später über seine Kollegen bei der WSCF:

»Es war wirklich ein Team von Männern und Frauen, das durch tiefe gemeinsame Überzeugungen und einen gemeinsamen Sinn für Mission in Bezug auf die Zukunft der christlichen Kirche auf der ganzen Welt verbunden war. Es war daher nicht überraschend, dass sich die meisten, die in den 1930er Jahren in der Föderation zusammengearbeitet hatten, zwanzig Jahre später auf Sitzungen des Ökumenischen Rates der Kirchen trafen.«47

Die Arbeit für den WSCF passte noch besser als der YMCA zu Visser ’t Hooft. Es war eine neue Herausforderung; hier konnte er sich auch intellektuell ausleben. Von nun an nahm er an Diskussionen mit Studenten teil, wo immer er konnte. Durch ihn wurde die Führungskrise von 1928 zu einem Wendepunkt für den WSCF; der WSCF wurde geradezu wiederbelebt. Visser ’t Hooft setzte deutliche Akzente und sprach die Schüler mit gesundem Realismus und feurigem Glauben an, wie Suzanne de Diétrich feststellte. Er verbarg seine religiösen Überzeugungen nicht und handelte in seiner Funktion von dem starken Gefühl der Souveränität Gottes aus, so wie er es als Barth-Anhänger gelernt hatte. Auf diese Weise wollte er dem Zeitgeist eine kräftige Stimme entgegensetzen, oder, wie de Diétrich formulierte:

»Es ist meiner Meinung nach diese tief verwurzelte geistliche Ehrlichkeit, dieser unkomplizierte Wille, mit dem Visser ’t Hooft die Herzen der Studenten erobert. Sicher, sie wurden oft vor allem von seiner Intelligenz angezogen, durch seine Gabe, mit seltener Klarheit die Umrisse eines Problems aufzuzeigen. Aber ihre Verbundenheit hatte tiefere Gründe und beruhte auf dieser Sphäre der Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, die vielleicht das beste und einzigartigste Merkmal des Weltbundes ist, und die Visser’t Hooft in diesem Kreis so sehr verkörperte. Es wäre nicht richtig, über das erneuerte geistige Interesse und die Tätigkeit des Weltbundes in dieser Zeit von 1930 bis 1938 zu sprechen, ohne diesen sehr spirituellen Aspekt seiner Tätigkeit nicht hervorgehoben zu haben.«48

Als internationaler Studentenleiter war er im Gegensatz zum YMCA aber auch mit kritischen Studenten konfrontiert. Oft waren sie von der Kirche enttäuscht, wenn sie sich nicht sogar schon von ihr verabschiedet hatten. Manchmal waren sie idealistisch, aber viele verfolgten die Politik mit Argwohn. Die meisten Studenten waren in privilegierten Familien aufgewachsen. Sie neigten oft dazu, sich von gesellschaftlichem Engagement fernzuhalten und sich in das Studentenleben und in die Wissenschaft zurückzuziehen. Aber es gab auch diejenigen, die sich für die immer lauter klingende radikale Anziehungskraft der totalitären Bewegungen empfänglich zeigten. Visser ’t Hooft erkannte die Versuchungen. Er verspürte den Drang, unter diesen jungen Menschen einen persönlichen Glauben an Gott zu fördern, aus dem sowohl kirchliches als auch soziales Engagement wachsen könnte.

Zehn Jahre lang, von 1928 bis 1938, war er der Redakteur von The Student World, dem vierteljährlich erscheinenden Magazin des WSCF. Das war genau seine Sache. Aus einer bescheidenen Studentenzeitung machte er eine seriöse internationale ökumenische Zeitschrift, in der die wichtigsten Fragen der Zeit thematisiert wurden. The Student World wurde nicht nur von der studentischen Jugend gelesen. 1931 wollte Visser ’t Hooft, wie in seiner Dissertation, mit einer Themenausgabe über die Vereinigten Staaten europäisch-amerikanische Missverständnisse und Vorurteile benennen und beseitigen. Er schrieb: »Aber diese Mythen wirken als Tatsachen. Obwohl sie die Wahrheit über das Leben in Amerika und Europa verfälschen, haben sie als psychologische Realität einen enormen Einfluss.« Es sei die Aufgabe der Christen, meinte er, diese gegenseitige Karikatur zurechtzurücken. Die Zivilisation sollte nicht europäisch oder amerikanisch sein, sondern christlich. Amerikaner waren nicht nur Produktinnovatoren. Europäer waren nicht nur Kulturträger.49

Während die Übernahme von Adolf Hitler in Deutschland 1933 in der Zeitschrift wegen der Zensur nicht thematisiert wurde, gab The Student World seinen Lesern einiges andere zu bedenken. 1934 gab es Themenausgaben zu den Problemen, mit denen Studentinnen konfrontiert waren, über die Bibel sowie über die östlich-orthodoxen Länder und die Revolutionen. Das zweite Thema dieses Jahres war: »Was wir von der Bibel halten«. Es war riskant, weil die Abonnenten sehr pluralistisch aufgestellt waren. Aber während die Gesamtheit der Beiträge das Bild einer künstlichen Einheit vermied, gelang es seiner Meinung nach in dieser Ausgabe den Autoren, die gemeinsame Wertschätzung für die Bibel zum Ausdruck zu bringen. Visser ’t Hooft hielt das für ein »Zeichen der Zeit«. Alle wurden sich bewusst, dass sie auf die Bibel zurückgeworfen seien. Nach einer Zeit zunehmender Distanz war das in seinen Augen eine Wiederentdeckung von Gottes Wort. Unüberbrückbar erscheinende Kluften zwischen der »eng konditionierten« einfachen Atmosphäre der Bibel und der »raffinierten Moderne« schienen nun nicht mehr so groß zu sein, weil »unser Gespür für die historische Perspektive und auch unsere Bescheidenheit durch alle Arten von Krisen verschärft wurden«. Die Bibel war der Kommentardiskussion entstiegen und Menschen mit Autorität entgegengekommen.50

Die Zukunft der Einheit der Christen hing von ihrer Bereitschaft ab, die biblische Pilgerreise gemeinsam weiter zu erleben. Visser ’t Hooft hatte keinen dogmatischen Konsens erwartet, sondern setzte auf die Begegnung mit Gott in der Bibel. Ihm ging es dabei nicht um den wörtlichen Bibeltext, sondern um die Gegenwart des lebendigen Gottes. Und diese musste aktiv gesucht werden; das war wesentlich. Ohne die Erwartung der Offenbarungskraft Gottes würde die Bibel so verschlossen bleiben wie das ägyptische Totenbuch:

»Denn die Bibel ist der Ort, an dem wir uns nur treffen können, wenn es der Ort ist, an dem jeder von uns Gott begegnet. Ohne Gottes Gegenwart ist die Bibel nur ein Buch und dann sogar noch ein sehr altes und unverständliches Buch. Wenn Gott die Bibel für uns heute nicht so lebendig macht, so wie er es für Rembrandt tat, der damals jeden Abschnitt als ein zeitgenössisches Ereignis interpretieren konnte, dann ist die Bibel ebenso wenig ein Ort der Begegnung wie das ägyptische Totenbuch.«51

Morgens seine Bibel aufzuschlagen, bedeutete für Visser ’t Hooft, sich für einen bewussten Tag mit Gott zu öffnen. Auch, wenn es ein Ringen um den richtigen Weg sein konnte, so wie es der Kampf Jakobs am Jabbok war.52

Regelmäßig kritisierte Visser ’t Hooft die Sterilität der Wissenschaft, eine Wissenschaft ohne die gesunde Einbindung gesellschaftlicher Probleme. Viele Gläubige waren Spezialisten in ihrem Gebiet, waren sich aber ihrer christlichen Berufung nicht bewusst, fand er. Sie konnten die Implikationen ihres Glaubens nicht oder nur unzureichend mit ihrem Beruf in Verbindung bringen und lebten in zwei getrennten Welten. So könne, meinte Visser ’t Hooft, ein christlicher Psychiater beispielsweise eine hohe, idealistische und völlig heidnische Vorstellung von seinem Beruf haben. Andere, ähnliche Bereiche sah er in Recht, Politik und Wirtschaft. Er führte diesen bedenklichen Mangel an christlicher Verantwortung auf einen durchschlagenden Individualismus und ein schwaches Gemeinschaftsgefühl zurück, vor dem er die Studenten warnte.53

Wie beim YMCA war beim WSCF die internationale Konferenz eines der wichtigsten Instrumente von Visser ’t Hooft, um sein Ziel zu erreichen. Unzählige Male war er auf Versammlungen einer der Sprecher der Studenten. Doch als er viel später auf diese Zeit zurückblickte, war er mit seinen Reden für junge Menschen aus dieser Zeit alles andere als zufrieden. Anfangs sprach er gerne über die Rolle der Christen auf der Weltbühne. Aber damit sprach er manchmal über die Köpfe seiner Zuhörerschaft hinweg. Die jungen Zuhörer hatten persönliche Glaubensfragen oder machten sich Sorgen, dass sie keine Arbeit finden würden. Er lernte aus seinen Irrtümern und versuchte, weniger theologisch zu theoretisieren und junge Menschen direkt und praktisch anzusprechen.54 Auf einer europäischen Konferenz von Theologiestudenten in Canterbury, die um die Jahreswende 1930/1931 stattfand, erzählte Visser ’t Hooft eine Anekdote, die er später häufiger aufgriff: Ein Fährmann beförderte drei Professoren, einen Theologieprofessor, einen Biologieprofessor und einen Geologieprofessor. Als das Boot mit den heftig diskutierenden Gelehrten an eine Stromschnelle kommt, fragt der Fährmann lakonisch: Wissen die Herren auch etwas über Schwimmkunde? Theologie müsste, so argumentierte Visser ’t Hooft, in dieser Zeit »Schwimmwissenschaft« sein. Nur, wenn sich die Konferenz so mit Theologie beschäftigen würde, könne sie einen wirklichen Beitrag zur ökumenischen Bewegung leisten.55 Wenn es sich in diese Richtung entwickelte, hatte er keine Angst vor politischen Aussagen. Die Berichterstattung darüber war nicht immer positiv, aber die meiste Zeit war sie ihm wohl gesonnen.56 Er entwickelte verschiedene Ansätze und Methoden, um die Situation junger Menschen zu analysieren. In den frühen 1930er Jahren versuchte er auch, den starken Nationalismus unter der Jugend als falsche Religion zu entlarven.

In wenigen Jahren baute sich Visser ’t Hooft einen guten Ruf als ein starker Redner auf, ein echter Debattierer, der die Studenten faszinierte und keine Angst hatte, klare Standpunkte zu vertreten.57 In dieser Zeit lernte er viel, auch über die Hintergründe seines Publikums, als er beispielsweise vom 14. Januar bis zum 3. Februar 1930 verschiedene britische Universitäten besuchte. Die britisch-irische Studentenbewegung war die stärkste nationale Abteilung des WSCF, aber als er selber in Wales war, stellte er fest, dass viele Studenten dort das Konzept eines persönlichen Gottes ablehnten. Er fragte sich, ob diese Ablehnung vielleicht eine Reaktion auf die Erweckungsbewegung, die evangelical awakenings, war, die in Wales 1859 und 1904–1905 besonders einflussreich gewesen war. Wurde hier das Evangelium vielleicht früher zu einfach vorgetragen, so dass es die Studenten nun ohne großes Interesse ablehnten? Weil ihnen das Problembewusstsein fehlte und sie nicht gelernt hatten, als Gläubige kritisch zu denken? In England schien Religion so selbstverständlich Teil der Kultur zu sein, dass gerade aus diesem Grund häufig ein persönlicher Glaube fehlte. Visser ’t Hooft überlegte, ob die Botschaft der Kirche selbst hier nicht viel säkularisierter war, als viele Briten glaubten.58

Maury und Visser ’t Hooft gelang es, Barths Theologie im englischen und französischen Sprachraum bekannt zu machen, und so wurde Visser ’t Hooft in den frühen 1930er Jahren in Frankreich als Barth-Spezialist bekannt. In einem Vortrag für den französischen christlichen Studentenbund SCM plädierte Visser ’t Hooft 1930 für eine Neubewertung der christlichen Lehre, nicht um die traditionellen Wahrheiten absolut zu erklären, sondern um die christliche Position in der Gegenwart klar und deutlich in die Öffentlichkeit zu bringen. Für die kleine Minderheit der französischen Protestanten im säkularisierten Frankreich war das ein aktuelles Problem. Die Botschaft des deutschen Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der sich ausführlich mit dem Gefühl und der Abhängigkeit des Menschen von Gott befasst hatte, war in seinen Augen unzureichend. Eine Erneuerung der Funktion der Glaubenslehre als gedankliche Auseinandersetzung mit der Botschaft Gottes für die Welt war nur möglich, wenn diese durch Gottes Wort selbst zu den Menschen sprach:

»Die Lehre ist daher nichts anderes als der Versuch, eine sehr menschliche Anstrengung, um in unseren eigenen Worten zu wiederholen, was Gott selbst gesagt hat. Es ist nicht die absolute Wahrheit selbst, aber dennoch ist es mit Sicherheit ein Wort Gottes, weil der Inhalt nicht von uns, sondern von Gott stammt.«59

Laut Visser ’t Hooft brauchte man nicht die Gabe eines Propheten, sondern die »Gabe eines Papageien«, um die Zivilisationskrise in den frühen 1930er Jahren zu erkennen. Ihm zufolge waren sich die Studenten dieser Krise sehr bewusst und verstanden besser als andere Gruppen, dass jetzt alles fokussierter wurde. Nietzsche hatte recht, dachte er, als er ausgerufen hatte: »Heilige uns, wehe uns, das Tauwetter fällt!«60 Visser ’t Hooft zitierte Also sprach Zarathustra:

»›Im Grunde steht alles stille‹ –, das ist eine rechte Winter-Lehre, ein gut Ding für unfruchtbare Zeit, […] ein guter Trost für Winterschläfer und Ofenhocker.

›Im Grund steht alles still‹ –: dagegen aber predigt der Thauwind! Der Thauwind, ein Stier, […] ein Zerstörer, der mit zornigen Hörnern Eis bricht! Eis aber– bricht Stege!

O meine Brüder, ist jetzt nicht alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ›Gut‹ und ›Böse‹?

›Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!‹ – Also predigt mir, o meine Brüder, durch alle Gassen!«61

Mit dieser Art von Reden wollte Visser ’t Hooft sein Publikum für die Zeichen der Zeit sensibilisieren.

Im Frühjahr 1930 unternahm er seine zweite Reise nach Nordamerika. Er sah, dass sich die Widersprüche dort seit seinem letzten Besuch im religiösen und kulturellen Leben verschärft hatten. Es beunruhigte ihn zu hören, dass viel mehr junge Menschen als bei seinem ersten Besuch die Existenz Gottes in Frage stellten.62 Im September desselben Jahres besuchte er Italien, wo er in Florenz Vorträge über das jährliche Sekretärs-Training des YMCA für mehr als 20 Jugendleiter hielt. Die italienische christliche Studentenbewegung war gerade erst aufgelöst worden, da unter dem Mussolini-Regime nur noch Studentenvereinigungen zugelassen waren, die der Faschistischen Partei angehörten. Christliche Studenten trafen sich jedoch weiterhin in informellen Gruppen, und der YMCA versuchte, sie nach Möglichkeit zu unterstützen.63 Als Visser ’t Hooft Italien im November 1932 erneut besuchte, stellte er erfreut fest, dass sich evangelische und katholische Studenten angenähert hatten. Er vermutete, dass der Einfluss des Vatikans in den kommenden Jahren auf die Katholiken außerhalb Italiens abnehmen würde, da war jeder Kontakt wertvoll.

»Es wird sicherlich einige Reaktionen gegen die Italienisierung der Kirchenleitung und die damit einhergehende Verringerung des Verständnisses für die hoffnungsvollsten Bewegungen innerhalb der Kirche in Rom geben. Wir tun jedoch gut daran, mit den Führern in Rom in Kontakt zu bleiben, denn dann wissen wir, was sie denken und können auf den Tag hinarbeiten, an dem eine echte Diskussion zwischen der römischen Kirchenleitung und uns beginnen kann.«64

In der Enzyklika Mortalium animos von 1928 hatte Papst Pius XI. seine Ablehnung jeglichen Kontakts zwischen der römisch-katholischen Kirche mit der protestantischen ökumenischen Bewegung, mit der Bewegung Life and Work oder Faith and Order, zum Ausdruck gebracht. Damit hatte er sich vor allem auf die Malines Conversations bezogen, das waren ökumenische Gespräche, die von 1921 bis 1927 im belgischen Mechelen zwischen Anglikanern und Katholiken stattgefunden hatten. Mortalium animos schloss sich der Ablehnung der anglikanischen Ämter durch Papst Leo XIII. von 1896 in seinem apostolischen Brief Apostolicae curae an und beanspruchte die apostolische Nachfolge ausschließlich für die römisch-katholische Kirche. Aber Visser ’t Hooft glaubte nicht, dass es hierbei bleiben sollte. Er erwartete einen Durchbruch, vor allem bei den Kontakten zwischen den Studenten.

Bei vielen intelligenten jungen Männern aus den unterschiedlichsten Kirchen verspürte er den Wunsch, sich aus Gründen des Glaubens aktiv an den Entwicklungen in der Gesellschaft zu beteiligen. Es war fast unmöglich zu erkennen, was das Ideal einer christlichen Gemeinde zu tun hatte mit den Kirchen, denen die Studenten angehörten.

»Haben sie etwas anderes gemeinsam als einen Namen? Ist es nicht beinahe gotteslästerlich, so zu tun, als hätten unsere bürgerlichen Kirchen mit ihrer hoffnungslosen Mischung aus gescheiterter Weltlichkeit und lauwarmer Christlichkeit, mit ihrer Richtungs- und Führungslosigkeit, etwas mit der apostolischen Vision der Braut Christi zu tun?«65

Visser ’t Hooft wollte diesen starken persönlichen Glauben in der ökumenischen Bewegung zur Geltung bringen.66 So suchte er in dieser Zeit nach Organisationsformen und Denkern, die seinem Anliegen Form und Inhalt gaben. In diesen Zusammenhang gehörte eine Rezension, die er in The Student World über das 1934 erschienene Buch Politique de la Personne des personalistischen Philosophen Denis de Rougemont (1906–1985) veröffentlichte. Er lobte auf der einen Seite das Buch, weil es den christlichen Intellektuellen auf seine politische und soziale Aufgabe hinwies. Auf der anderen Seite kritisierte er jedoch, dass De Rougemont den Begriff »Person« nicht ausreichend ausgearbeitet habe, so dass er leicht missverstanden werden könne. Ein faschistischer Diktator ließ sich dann beispielsweise auch als »Persönlichkeit« von Format ansehen.67

Echte Nachfolge verdiente nur Jesus Christus. Visser ’t Hooft befürwortete einerseits eine gemeinsame christliche Ethik, die auf einer ökumenischen Neuinterpretation der Bibel beruhte, also eine Art Situationsethik. Doch andererseits wollte er, dass die Menschen aufhören sollten, Jesus zu »interpretieren«. Stattdessen sollten sie beginnen, ihm zu folgen, sie sollten Jesus gehorchen.68 Für Visser ’t Hooft lag der Schwerpunkt in der Ethik auf dem göttlichen Gebot. Die jungen Leute, für die er schrieb, sollten sich durch eine Willensentscheidung in den Dienst von Jesus als Herrn stellen.69 Er war fest davon überzeugt, dass dies zu einer »Erneuerung« des persönlichen Lebens, der Kirche und der Welt führen würde. Den Begriff der »Erneuerung« (renewal) benutzte er noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein wirklicher Neuanfang war für ihn nur aufgrund des Realitätssinns des Glaubens möglich.

»Wir müssen absolut von vorne anfangen. Nichts ist selbstverständlich. Wir dürfen nicht mehr so reden und so handeln, als ob die Grundlagen feststünden. Wir müssen zuerst für uns selbst neu entdecken, worum es im christlichen Glauben geht, sein ABC wieder lernen und dann als Missionare in eine heidnische Welt eintauchen.«70

Die lebenswichtige Kirche, die auf diese Weise gedieh, würde nüchterne Bürger und Politiker hervorbringen, die sowohl der kommunistischen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit als auch dem faschistischen Wunsch nach nationaler Gemeinschaft oder der demokratischen Bindung an die individuelle Freiheit gerecht werden würden. Realistische Christen würden diese Werte als komplementär betrachten, ohne sie zu absoluten Werten zu machen.

»Anstatt eine dieser [Überzeugungen] als Allheilmittel für alle Probleme oder als Werk des Teufels zu betrachten, würden sie feststellen, dass sie alle etwas voneinander lernen und sich gegenseitig kritisieren müssten.«71

Aber bevor eine Person dazu in der Lage sein konnte, war eine klare Glaubensentscheidung erforderlich. Dazu ermutigte Visser ’t Hooft seine Zuhörer und Leser wieder und wieder.

Neben der römisch-katholischen Kirche war in dieser Zeit die orthodoxe Kirche von ökumenischer Bedeutung. 1920 veröffentlichte das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel eine Enzyklika, die parallel zum Völkerbund einen Vorschlag für einen Bund der Kirchen machte. Patriarch Joachim III. hatte sich bereits 1902 und 1904 für orthodoxe Einheit und brüderliche Beziehungen zu anderen Kirchen ausgesprochen. Hierfür benutzte er nun das griechische Wort »koinonia« (Gemeinschaft). Visser ’t Hooft sah diese Initiative zeit seines Lebens als einen außergewöhnlichen Fall in der Kirchengeschichte an.72 Der griechische Kirchenführer, mit dem er später als ökumenischer Patriarch (1949–1972) viel zusammenarbeitete, war Athenagoras I. (1886–1972). Er lernte ihn zunächst als Metropolit von Korfu kennen, als er und Jetty im Winter 1929 an einem Treffen der Jugendkommission Life and Work auf Korfu teilnahmen. Athenagoras beeindruckte Visser ’t Hooft sofort, weil er die Einheit der Christen im Zusammenhang mit dem Glauben an Christus zum Ausdruck brachte. Für Visser ’t Hooft bewiesen seine Worte, dass eine echte Begegnung zwischen Ost und West keine Illusion war. Der Osten hatte eine Antwort vom Westen verdient, und darum wollte er sich bemühen.

Im Dezember 1932 beendete Visser ’t Hooft seine zweite Studie, mit dem Titel: Le catholicisme non-romain, der nichtrömische Katholizismus.73 Sie basierte auf Vorlesungen für Studenten der Theologischen Fakultät in Genf und Beobachtungen während seiner Reisen in Großbritannien, auf dem Balkan und Besuchen der orthodoxen Zentren in Paris und Rom. In ihr verglich er die anglikanische Kirche und die orthodoxen Kirchen miteinander und plädierte nicht nur für mehr Verständnis, sondern auch für mehr Offenheit im Gespräch zwischen den Traditionen. Das würde dann auch zu mehr Reflexion über die eigene Tradition führen und ein anderes Bewusstsein für das Erbe hervorbringen. Die strategische Rolle, die er diesen Kirchen zwischen Rom und der Reformation zuschrieb, wurde zwar keine Realität, aber regte viel zum Nachdenken an.74 Sowohl im WSCF als auch in den Kirchen wollte er die Menschen für das rüsten, was er als »Kampf für die Einheit« bezeichnete. Dieser Kampf würde schließlich ablenkende Probleme in die richtige Perspektive rücken und dazu führen, für Gott empfänglich zu werden.

Willem Adolf Visser 't Hooft

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