Читать книгу Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra - Страница 8
Einleitung Bedeutung und Begrenzung einer Biografie 1. Thema und Hintergrund
ОглавлениеWillem Adolf Visser ’t Hooft (1900–1985) gehörte zu den Gründern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und ging als sein erster Generalsekretär von 1948 bis 1966 in die Geschichte ein. Der Ökumenische Rat der Kirchen war (und ist) eine der wichtigsten Institutionen der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, die sich – damals wie heute – für die Einheit des globalen Christentums in der modernen Zeit einsetzte.
Ein Mensch, der sein Leben und seine Arbeit einer so einflussreichen Organisation entscheidend gewidmet hat, erwirbt unausweichlich große Bedeutung für die Institution des ÖRK. Doch nicht nur das: Darüber hinaus spielte er eine wichtige Rolle für die allgemeine Geschichte der ökumenischen Bewegung. Diese Einsicht ist Grundlage der hier vorgelegten historisch-wissenschaftlichen Studie, die dem Leben von Visser ’t Hooft gewidmet ist; einem Leben, das er selber größtenteils in den Dienst der Ökumene stellte. Man kann daher, ohne zu übertreiben, festhalten: Er lebte sein Leben für die Ökumene.
Dieses Buch ist eine Biografie und keine Geschichte des Ökumenischen Rates der Kirchen oder der ökumenischen Bewegung. Bevor jedoch auf die Probleme einer wissenschaftlichen Biografie eingegangen wird, soll zunächst der historische Rahmen deutlich gemacht werden: Denn innerhalb der ökumenischen Bewegung gab es mehrere Strömungen, die sich als »ökumenisch« bezeichneten. Nicht alle diese ökumenischen Bewegungen gingen im Ökumenischen Rat der Kirchen auf. Die Bewegung, um die es in diesem Buch geht, wurde von prominenten »Ökumenikern« selbst als »eine positive, aber gleichzeitig zutiefst besorgte und kritische Reaktion der christlichen Gemeinschaften und einzelner Christen auf das Projekt der Moderne«1 beschrieben. Eine solche Beschreibung lässt allerdings kaum oder nur sehr wenig Raum für eine positive Bewertung der Säkularisierung. Zugleich muss die Frage gestellt werden, ob Modernität überhaupt als ein Projekt betrachtet werden kann. Und handelt es sich dabei tatsächlich um eine strategisch abgestimmte Antwort? Für eine historische Studie wie die vorliegende ist eine Beschreibung der ökumenischen Bewegung hilfreich, die ausdrücklich auf die konkreten Beziehungen verweist, die sich aus dem ökumenischen Dialog zwischen Menschen entwickelt haben, und die schließlich zu einer besonderen Organisation geführt hat: Nämlich zu einer Organisation, die aus einer globalen Variation christlicher Ideen und Formen des Zusammentreffens besteht. Eine Definition der ökumenischen Bewegung könnte dann wie folgt lauten:
Die ökumenische Bewegung ist ein Komplex von Herausforderungen durch und an die Moderne. In ihr geht es um die Identität des Christentums in einer sich entwickelnden Weltgesellschaft; sie hat zur Bildung eines internationalen Netzwerkes von Einzelpersonen, Organisationen und Kirchen beigetragen und die institutionelle Formgebung unterstützt.2
Während häufig von einer Religion gesprochen wird, spielt dagegen die Anerkennung weltweiter Pluriformität in der ökumenischen Bewegung eine wichtige Rolle.3 Wenn der Historiker James Kennedy in diesem Zusammenhang auf den Ökumenischen Rat der Kirchen blickt, spricht er von einer besonderen Art religiöser Internationale (»a particular kind of religious international«), die mit der Globalisierung des Protestantismus aufkam. Er betrachtet den Ökumenischen Rat der Kirchen als einen »ecclesiastical international, a formal federation of churches focused, first and foremost, on worldwide Christianity«.4 Im Rahmen der gemeinsamen Suche nach Einheit wurden die im Protestantismus traditionellerweise als wichtig erachteten Ziele erneut als verbindlich dargestellt; Ziele wie Evangelisation, soziale Gerechtigkeit, Bildung und humanitäre Hilfe. Es ging darum, als Kirchen einmütig und entschlossen im öffentlichen Raum aufzutreten. Dabei war die institutionelle Form nicht das einzige Ziel, aber doch ein wesentlicher Aspekt. Diejenigen, die sich dafür einsetzten, waren davon überzeugt, dass die Kirchen über einzigartige, teilweise vernachlässigte Kapazitäten verfügten, um die Probleme der Welt anzugehen.
Es ist die Aufgabe des Biografen, das Leben von Visser ’t Hooft im Kontext des Weltgeschehens zu interpretieren. Herausgearbeitet und analysiert wird die Wechselwirkung zwischen der Mikroebene der Familien- und Freundeskontakte und der Makroebene der globalen kirchlichen und politischen Ereignisse. Weltweit haben viele Menschen Visser ’t Hooft als einen Hüter der Ökumene angesehen. Er war ein Mann mit Einsicht und stetig wachsender Erfahrung, was dazu führte, dass er bis ins hohe Alter als kluger Experte für die Beziehungen zwischen den Kirchen galt. Er selber sah sich auch so. Bereits 1928 prägte er von sich das Bild eines Brückenbauers in den transatlantischen Beziehungen der Weltkirche, der den Gegensatz zwischen Amerika und Europa, zwischen praktischem Christentum und dogmatisch-pietistischem Glauben zu überbrücken suchte. Sprachlich fasste er diesen Gegensatz 1970 als »horizontal« und »vertikal« zusammen. Für ihn brauchte es beide Dimensionen. Die Biografie von Visser ’t Hooft ist daher nicht nur die Biografie eines Individuums, sondern auch eine Beschreibung der Reaktionen von Christen, Christentum und Kirche auf die Moderne des 20. Jahrhunderts.5
Das Streben nach gegenseitiger Anerkennung und Einheit sollte dazu dienen, dass sich selbstbewusste Bürger zum Wohle der Gesellschaft selber organisierten, dass sie sich für die Werte der heute als Zivilgesellschaft bezeichneten Gesellschaft einsetzten. Das war die göttliche Mission einer inspirierten und gut informierten Elite, die hauptsächlich aus der internationalen christlichen Studentenbewegung des 19. Jahrhunderts stammte. Aus Sicht der beteiligten Kirchen mussten deshalb nationale und kulturelle Grenzen relativiert werden, wenn man an den einen Gott, den einen Jesus Christus und deshalb auch an die eine Weltkirche glaubte – was in der ökumenischen Literatur oft als Una Sancta bezeichnet wird. Mehr noch als in der praktischen Zusammenarbeit und in den institutionellen Organisationsformen sahen die meisten Pioniere der ökumenischen Bewegung einen Mehrwert darin, das zu vertiefen, was Kennedy »global spiritual fellowship« nennt. Obwohl die Denkkader anfangs vor allem protestantisch waren, stand die ökumenische Bewegung, deren wichtigster Vertreter der Ökumenische Rat der Kirchen war und ist, im Prinzip allen Kirchen offen, einschließlich der östlich-orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche.
Die ökumenische Bewegung, auf die sich diese Studie konzentriert, fand im Ökumenischen Rat der Kirchen, der 1948 gegründet wurde, ihre international am weitesten ausgearbeitete Organisationsform. Visser ’t Hooft war ihr herausragender Repräsentant. Er war ein gläubiger Mensch, der in seinen eigenen Augen von einem hohen Auftrag geleitet wurde. Er selbst und viele, die mit ihm diesen Weg gingen, fühlten sich durch Herkunft, Erziehung, Bildung und Intellekt privilegiert. Obwohl nur eine Person im Mittelpunkt steht, ist diese Biografie daher nicht nur das Porträt einer Person, sondern zugleich auch ein Gruppenporträt.6 Die Mitglieder dieser Gruppe betrachteten sich als Avantgarde, die sich dazu berufen fühlte, die Zerstörung des Lebens durch Materialismus, Faschismus und Staatskommunismus rückgängig zu machen und den Kirchen dabei zu helfen, ihre diesbezügliche Aufgabe neu zu entdecken. Eine der großen Fragen ist dabei, welche Faktoren es Visser ’t Hooft ermöglichten, inmitten der Säkularisierung des 20. Jahrhunderts so viele Menschen und Kirchen für die ökumenische Bewegung zu mobilisieren.
Es ist nicht die Aufgabe des Biografen, die Geschichte der ökumenischen Bewegung zu schreiben. Er muss jedoch, um das Leben seines Protagonisten verständlich machen zu können, an verschiedenen Stellen immer wieder auf diese Geschichte eingehen. Diese Studie hat deshalb ein beschreibendes, ein ordnendes und ein deutendes Ziel. Dabei steht das Leben von Visser ’t Hooft im Mittelpunkt; die Studie geht aber auch über dieses Leben hinaus. Weil er so prägend für die ökumenische Bewegung war, macht seine Lebensgeschichte zugleich die Geschichte dieser Bewegung anschaulich.7 Dabei ist sich der Biograf bewusst, dass es unterschiedliche Perspektiven der Beteiligten gibt, und dass die Veranschaulichung einer so bildbestimmenden Figur nicht unbedingt als repräsentativer erachtet wird als die Bedeutung der anderen Beteiligten. Gerade in den Jahren nach dem Rücktritt von Visser ’t Hooft 1966 entstanden zahlreiche Betrachtungsweisen, die die ökumenische Bewegung vor eine neue Herausforderung stellten.
Diese Studie soll weder vorhandenes Wissen über den Ökumenischen Rat der Kirchen bestätigen noch veranschaulichen. Es kann auch nicht darum gehen, den Wert einer Institution wie der des Ökumenischen Rates der Kirchen zu bekräftigen oder in Frage zu stellen. Ebenso wenig kann eine Definition oder eine Einschätzung des wichtigsten Bausteins dieser Organisation, nämlich »der Kirche«, in dieser Studie aufgestellt werden. Allenfalls kann die Sichtweise Visser ’t Hoofts auf die Kirche veranschaulicht und bewertet werden. Weil diese jedoch von unterschiedlichen Kontexten und Umständen abhängig war, ist es wichtig, ihre Herausforderungen und Möglichkeiten im zeitlichen Kontext zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist die grundsätzliche Kontingenz von permanent neuen Momenten, in denen Entscheidungen getroffen werden mussten, nicht zu unterschätzen. Ebenso wenig darf der Zufallsaspekt außer Acht gelassen werden. Denn das Leben des Visser ’t Hoofts hätte auch ganz anders verlaufen können. Er wäre beinahe Lehrer in Niederländisch-Indien geworden, später beinahe Direktor des Missionszentrums in Oegstgeest, und er wäre beinahe Direktor von Radio Oranje geworden. Verschiedentlich bot sich ihm die Gelegenheit, Professor zu werden. Für den Biografen, der mit einem offenen Blick nach den Entscheidungsmomenten sucht, ist es daher oft eher ein Nachteil als ein Vorteil, dass er als ein später Geborener, Wissender und Forschender häufig bereits das Ergebnis eines Prozesses oder die Ergebnisse jahrelanger Bemühungen kennt.