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2.6 Christlicher Realismus, kein internationaler Idealismus

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Deutschland wurde 1919 in Artikel 231 des Vertrags von Versailles für schuldig am Ausbruch des Ersten Weltkrieges befunden. Die Überzeugung wuchs jedoch, dass das internationale Wettrüsten, das dem Krieg vorausging, ein wichtiger Faktor gewesen war. Die Staaten, die den Friedensvertrag unterzeichneten, erklärten sich mit Ausnahme der Vereinigten Staaten zur Abrüstung bereit. 1932 organisierte der Völkerbund die Genfer Konferenz, bei der Schritte zur Reduzierung und Begrenzung der Rüstung vereinbart werden sollten. Als die Konferenz 1934 scheiterte, waren viele enttäuscht, nicht nur Friedensidealisten. Visser ’t Hooft war nicht überrascht. Er war in Genf vor Ort dabei und beobachtete, dass die meisten Delegationen bei den Besprechungen im Völkerbund keine Kompromissbereitschaft zeigten, sondern sich nur für ihre eigenen Interessen einsetzten. Als es beispielsweise 1925 bei den Verhandlungen um ein weltweites Opiumverbot ging, stellte er fest, dass die Niederlande aufgrund des lukrativen niederländischen Opiumhandels und der lukrativen Opiumproduktion in Niederländisch-Indien keinerlei Tendenz zeigten, sich dafür zu engagieren.75

In den Augen von Visser ’t Hooft war die gesamte Abrüstungskonferenz von einer wunderlichen Mischung aus Idealismus und Kurzsichtigkeit geprägt sowie von einer echten, aber auch naiven Sehnsucht nach Frieden. Dominierend war freilich eine zynische Machtpolitik, bei der Eigeninteresse und ein technisches Abwägen der balance of power im Vordergrund standen. Aus den vielen Demonstrationen von Idealisten, Pazifisten und Internationalisten, die er durch Genf ziehen sah, sprach etwas Trauriges und Hilfloses. Er war beeindruckt von den Reden des Schweizer Politikers Giuseppe Motta und des irischen Präsidenten Éamon de Valera, die sich im Zusammenhang mit dem Beitritt der Sowjetunion zum Völkerbund für die weltweite Religionsfreiheit einsetzten. Aber viel erreichten sie nicht. Visser ’t Hooft selbst trat während der Friedensverhandlungen als Korrespondent für das amerikanische Magazin The Christian Century auf.76 Zusätzlich veröffentlichte er auch in seiner eigenen Zeitschrift, The Student World, Beiträge und ermutigte die Studenten, mitzudenken. Im ersten Quartal 1932 brachte The Student World eine Themenausgabe zum Thema Abrüstung. Visser ’t Hooft kritisierte einen naiven Pazifismus, der oft mit der christlichen Unterstützung des Völkerbundes in Verbindung gebracht wurde. Im Gegensatz zu den Demonstrationen und Protesten versuchte er durch den WSCF, eine realistischere Stimme hören zu lassen. Bei der Eröffnung konnte der WSCF trotz interner Meinungsverschiedenheiten zusammen mit sechs anderen internationalen christlichen Organisationen eine Erklärung durch Joachim Müller, Autor des deutschen Beitrags, vorlesen lassen. Für ein paar Monate gelang es dem WSCF, den konstruktiven Ton beizubehalten. Aber schon bald wendeten sich die meisten Studenten ab. Visser ’t Hooft machte ihnen keine Vorwürfe. Er sah die Schuld bei den Delegierten und ihrer mangelnden Bereitschaft, sich in die psychischen Empfindlichkeiten anderer Nationen hineinzuversetzen und sich darüber zu informieren.77 Tatsächlich bestand die gesamte Konferenz aus einer langen Reihe von Monologen. Nur wenige Teilnehmer traten als verantwortliche Staatsmänner auf. Für Visser ’t Hooft waren es vor allem Funktionäre, für die die Welt heute endlos weiter zu existieren schien, und die nicht begriffen, dass ihr Scheitern wieder zum Krieg führen würde. Trotzdem verfolgte er die Diskussionen weiterhin aufmerksam und berichtete im Juli 1932 seinen WSCF-Kontakten:

»Diese Delegierten wünschen sich keinen Moment lang den Krieg, in den sie die Welt aber hinein gleiten lassen. Es ist eine ernüchternde Vorstellung, dass diese Gruppe sehr humaner und anständiger Menschen für den nächsten Krieg, wenn er kommt, verantwortlich sein wird.«78

Visser ’t Hooft zweifelte nicht daran, dass sich die Welt langsam, aber sicher in Richtung eines neuen großen Krieges bewegte und sah dafür Zeichen: Im September 1931 war Japan in die Mandschurei eingefallen; am 28. Januar 1932 war Shanghai an der Reihe.

»Man bekommt den Eindruck, dass nur sehr wenige Menschen merken, was hier los ist. Es scheint, dass die Zukunft sowohl des Völkerbundes als auch der Abrüstung weitgehend vom Ende dieses Konfliktes abhängt.«79

Über den Fortgang der Konferenz ließ sich Visser ’t Hooft von drei hochgeschätzten Experten informieren. Unmittelbar nachdem er 1924 nach Genf gekommen war, hatte er den Schweizer Anwalt und Völkerrechtsspezialisten Hans Max Huber (1874–1960) kennengelernt. Dieser wurde 1932 der wichtigste Schweizer Delegierte bei den Abrüstungsgesprächen. Huber war beruflich sehr erfolgreich: Seit 1922 war er Richter, von 1925 bis 1927 Präsident des Ständigen Gerichtshofs für Völkerrecht in Den Haag und seit 1928 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, was er bis 1944 blieb. Die Beobachtung Hubers, dass die christlichen Politiker in den langwierigen Diskussionen ausdauernder waren als die anderen, freute Visser ’t Hooft. Neben Huber war seine zweite Informationsquelle über die Abrüstungsgespräche der britische Lord Robert Cecil, Viscount of Chelwood (1864–1958).80 Dieser konservative Politiker war vor dem Ersten Weltkrieg ein Befürworter der harten Linie der britischen Flottenblockade gegen Deutschland. Doch nach dem Krieg schloss er sich dem Friedenslager an. Er war einer der Architekten des Völkerbundes, ständiger Vertreter des Vereinigten Königreichs beim Völkerbund und wurde 1930 ein starker Verfechter der Abrüstung. Von ihm wurde Visser ’t Hooft 1931 gebeten, die Abrüstungsgespräche des Völkerbundes auf die Tagesordnung des WSCF zu setzen. Besonders enttäuschend für britische Studenten war, dass Lord Cecil zuletzt von seiner eigenen Regierung aus der offiziellen britischen Verhandlungsdelegation ausgeschlossen wurde, weil man ihn als zu idealistisch einschätzte. Danach schloss sich Cecil demonstrativ den Friedensaktivisten an. Die dritte Informationsquelle Visser ’t Hoofts war schließlich der britische Spezialist für internationale Beziehungen Alfred E. Zimmern (1879–1957), Altphilologe, Historiker und Politikwissenschaftler.

Auch Zimmern kannte die internationale Politik und den Völkerbund bestens; er hatte außerdem, laut Visser ’t Hooft, den Vorteil, dass er noch »nicht wie viele andere in Genf oder überhaupt in der internationalen Politik von sterilem Zynismus geprägt war.«81 Über die Jahre hinweg leistete Alfred Zimmern als Laienspezialist einen wichtigen Beitrag zum ökumenischen Denken über die internationalen Beziehungen; sowie später auch Visser ’t Hooft als Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Der Beginn der Abrüstungskonferenz in Genf war auch der Start für ein Manifest zur Erweckungsbewegung von Frank N. Buchman (1878–1961), einem ehemaligen YMCA-Sekretär aus Pennsylvania. Der Lutheraner Buchman hatte eine evangelikalere Richtung eingeschlagen und während dieser Zeit unter den Studenten viel Evangelisation betrieben. Er plädierte für die Gründung sogenannter »Hausgruppen« und gründete 1938 die Oxford Group, die später auch Moral Rearmament (Moralische Wiederaufrüstung) genannt wurde. Buchman arbeitete also mit ähnlichen Zielgruppen wie Visser ’t Hooft. Doch Visser ’t Hooft fand seine Predigten wenig hilfreich und schrieb an Karl Barth:


Führung des WSCF 1935, unter anderem in der ersten Reihe: Philippe Maury, Wim Visser ’t Hooft, Robert Mackie, Pierre Maury und Suzanne de Diétrich

»Man kann verstehen, dass viele bei der jetzigen Lage der Genfer und anderer Kirchen bald umfallen, wenn einmal direkt und persönlich zu ihnen geredet wird. Andererseits ist es schrecklich zu sehen, wie man dort mit den heiligsten Dingen umgeht. Der Heilige Geist wird da zu einer Art neuen Elektrizität, die man andreht und auslischt je nach Belieben.[…]Es bleibt doch wohl dabei, dass nur eine ganz dünne Linie zwischen dem im besten Sinn existenziellen Glauben und der Erfahrungsreligion läuft, und es wird darum wohl immer schwierig sein, deutlich zu machen, wo der Unterschied liegt.«82

Während die Führung des WSCF eine realistische Form der Abrüstung befürwortete, wurde aus den Reaktionen deutlich, dass es große Unterschiede zwischen den Mitgliedern gab. So waren zum Beispiel viele deutsche Jugendliche voller Misstrauen und Bitterkeit wegen des demütigenden Ausgangs des Ersten Weltkrieges. Als der Völkerbund 1920 gegründet wurde, wurden die Vereinigten Staaten nicht Mitglied; sie verfolgten erneut einen isolationistischen Kurs. Entsprechend traten nun die meisten amerikanischen Studenten für Abrüstung ein. Das wiederum kritisierten die europäischen Abteilungen des WSCF als oberflächlich; für sie war der amerikanische Friedensenthusiasmus naiv und unbegründet.

Mit Freude stellte Visser ’t Hooft fest, dass in dieser Zeit im wichtigen britischen Zweig der christlichen Studentenbewegung das Interesse an der Bedeutung Jesu Christi zunahm. Er erklärte diese Entwicklung als eine Reaktion auf die beunruhigenden Entwicklungen in der internationalen Politik. Die kraftvolle Verkündigung der Heilsbotschaft Christi werde zum Mittel gegen die entstehenden totalitären Bewegungen. Für Visser ’t Hooft war das eine Bestätigung seiner Prioritäten. 1933 fand in Edinburgh eine Studentenveranstaltung statt, organisiert vor allem von dem schottischen WSCF-Mitarbeiter Robert C. Mackie und dem SCM-Leiter Eric Fenn. Es sprachen der lutherische Theologe und Sekretär der deutschen Abteilung des christlichen Studentenweltbundes Hanns E. R. Lilje und der schottische Missionar Joseph Oldham von der United Free Church. Sie stellten in ihren Reden fest, dass die alte Welt mit ihrer christlichen Kultur durch Anpassung zugrunde gegangen sei, und dass eine Neuorientierung im Hinblick auf die tiefsten, innersten Fragen menschlicher Existenz geboten sei. Die große Frage sei nicht, wie man dem Christentum durch einen Kompromiss mit der Moderne ein zeitgemäßes Aussehen verleihen könne. Echte Christen müssten es wagen, gegen den Strom zu schwimmen.

Es ging also um eine Verkündigung, die Betroffenheit und Einheit suchte. Jesus Christus sollte den Götzenbildern des säkularen Humanismus und des zeitgenössischen Kommunismus gegenübergestellt werden. Die Entstehung von Massenbewegungen, die sich auch aus der Wirtschaftskrise von 1929 ergab, sowie die Unfähigkeit der Staaten zur Abrüstung machte die Sache zu einer Angelegenheit höchster Dringlichkeit. Die kulturelle Übersetzung des christlichen Glaubens und die individuelle Akzeptanz der Grundwahrheiten wurden in WSCF-Kreisen nun zunehmend als veraltete Ziele angesehen. Solche intellektuellen Übungen gehörten in die Studierräume sozial irrelevanter liberaler Theologen. Noch schneller als es Visser ’t Hooft in der ersten Hälfte der 1920er Jahre erwartet hatte, »starb« der Liberalismus in der Theologie. Zahlreiche junge Theologen orientierten sich nun offenbar eher in eine orthodoxe theologische Richtung; vielleicht machten sie es sich allerdings auch zu einfach. Denn zu viel Liberalismus oder Freisinnigkeit in der Theologie schien sich in Deutschland, aber auch in wichtigen außereuropäischen theologischen Zentren wie Chicago, in einen Positivismus zu verwandeln, wie es Visser ’t Hooft in Anlehnung an Barth bezeichnete. In jedem Fall konnte sich das Christentum nicht mehr glaubwürdig als die höchste der großen Religionen präsentieren, meinte Visser ’t Hooft. Von jetzt an musste das Christentum klar auftreten und sich gegenüber dem neuen Heidentum positionieren. Radikale Entscheidungen mussten getroffen werden. 1932 schrieb Visser ’t Hooft in diesem Sinn an den Internationalen Missionsrat:

»Der große Unterschied zwischen 1927 und 1932 ist der zwischen der Traumwelt vor der Krise und der Krise selbst, zwischen der Sphäre der Ruhe und Erwartung und der Sphäre des Entsetzens, zwischen einer Welt, die keiner Realität gegenüberstand, und einer Welt, die sich dieser jetzt stellen musste. Der Kommunismus ist für uns heute nicht mehr die merkwürdige Theorie eines halbasiatischen Landes, sondern eine unmittelbare Herausforderung, ein unausweichliches Problem, eine sehr direkte Bedrohung. Der Nationalismus ist nicht länger das kultivierte Verlangen einer Gruppe exzentrischer Schriftsteller und halbgarer Militaristen, sondern die dominierende Leidenschaft der Massen. Die wirtschaftliche Verwirrung wird nicht länger durch die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Produktionssteigerung und des Umsatzanstiegs verdeckt. Die Absurdität und Anarchie der ganzen Situation ist ans Licht gekommen. Und so hat sich in jedem Lebensbereich eine Krisenpsychologie entwickelt.«83

Nachdem die Abrüstungsgespräche gescheitert waren, ging es mit dem Völkerbund in Genf schnell bergab. Im Oktober 1935 fiel Italien in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, ein. Sanktionen gegen Italien oder einen Boykott durch andere europäische Länder oder andere Maßnahmen gab es nicht. Im Mai 1935 wurde Addis Abeba besetzt. Im darauffolgenden Monat sprach der äthiopische Kaiser Haile Selassie, der nach Genf geflohen war, in einer Sondersitzung des Völkerbundes. Er rief zur Gerechtigkeit auf und warnte, dass das nächste Opfer eines solchen Übergriffs ein europäisches Land werden könnte. Seine Rede war erst möglich, nachdem italienische Journalisten von der öffentlichen Tribüne verwiesen worden waren; sie hatten den Kaiser ausgebuht und Urwaldgeräusche gemacht. Spontan entschied sich der YMCA für eine Initiative, die im Namen internationaler Organisationen Solidarität mit dem Kaiser bekundete, der sich im Genfer Carlton Hotel aufhielt. Visser ’t Hooft wurde gebeten, ihn als Leiter einer Delegation anzusprechen. Er sprach ohne Mandat, sagte aber, er wisse, dass er mit seiner Solidaritätserklärung die Gefühle von Millionen zum Ausdruck bringe. Die Delegierten sollten sich schämen, dass ihre Länder die Grundprinzipien des Völkerrechts, die Grundlage des Völkerbundes, nicht verteidigt hätten. Besonders für Christen war die Besetzung Äthiopiens ein trauriger Fall, denn Äthiopien zählte zu den ältesten christlichen Staaten.

»Wir kennen Gottes Pläne nicht und wissen nicht, welche Zukunft er für die äthiopische Nation vorbereitet. Wir wissen jedoch, dass das geistige Schicksal eines Volkes nicht von der Beliebigkeit politischer Zufälle abhängen sollte.«84

Lange nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Visser ’t Hooft Haile Selassie noch einmal als Oberhaupt der äthiopischen Kirche im Ökumenischen Zentrum an der Route Ferney in Genf empfangen und im Januar 1971 mit ihm und dem Zentralkomitee des Ökumenischen Rates der Kirchen in Addis Abeba als Gäste des Kaisers das Timkat-Fest der Taufe Christi feiern.85

Der internationale Idealismus hatte eine tiefe Niederlage erlitten, was Visser ’t Hooft, wie erwähnt, nicht überraschte.86 Internationalismus war für ihn nie die Antwort gewesen. Die Bruderschaft der Menschen würde immer ein schöner Traum bleiben, es sei denn, sie gründe sich auf die Vaterschaft Gottes.87 Als 1938 der indische Unabhängigkeitskämpfer Jawaharlal Nehru, der spätere Ministerpräsident von Indien, Genf besuchte, hörte Visser ’t Hooft, wie er sich auf das kurz zuvor erst festlich eröffnete Völkerbundgebäude, den Palais des Nations, bezog und es als »Grab« bezeichnete.88

Willem Adolf Visser 't Hooft

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