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Das Paradies

Der heutige Montag ist noch jung, der Frühflieger hat die Verspätung leicht einholen können, die wegen der blöden Trottel entstanden ist. Da es sein letzter freier Tag vor Dienstantritt ist, schraubt Leon mit ein paar Handgriffen sein Rad zusammen. Und nichts wie los. Er kennt die besten Radtouren auf der Insel und nutzt den morgendlichen Südwestwind, um sich wie in Trance durch die Pla y Llevant tragen zu lassen, wo der Wein schon weit gediehen ist. Llucmajor, Campos, Ses Salines. Die schönsten Landstriche der Insel fliegen links und rechts an ihm vorbei, gelb blühender Riesenfenchel wechselt sich mit duftenden Wildblumen ab. Jede Finca ist ein Zeugnis perfekt funktionierender Landwirtschaft. Oliven, Mandeln, Feigen, Getreide und Schafzucht. Die uralten Bauernhöfe sitzen mitten drin in fetter, dunkelroter oder brauner Erde. Leon winkt dem Hirten zu, der seinen kläffenden Pastor Mallorquin scharf zurückpfeift, bevor der ihm das Vorderrad zerbeißen kann.

Eine letzte Steigung noch und dann die schnellen drei Kilometer ruppigen Feldwegs runter zur Cala Marmols, seiner Lieblingsbucht. Hier geht schlichtweg der Wunschtraum eines jeden Radlers in Erfüllung.

Das Mountainbike war doch die bessere Entscheidung. Mit seinem Hightech-Rennrad wäre die Tour schon hier zu Ende, inklusive zweier platter Reifen. Leon hat gut Kilometer gemacht, unter zweieinhalb Stunden für die gesamte Strecke, und jetzt freut er sich auf den intensiven Geruch des Mittelmeers.

„Wat mach ick da in Marzahn“, albert Leon laut vor sich hin und nimmt einen schnellen Schluck aus der Powerdrink-Flasche.

Das smaragdblaue Meer ist zum Greifen nahe. Das Tosen der Brandung wird lauter. Eine zungenförmige Playa mit grellweißem Sand liegt tief unter ihm. Er lehnt das Rad an einen uralten Olivenbaum, greift sich einen Energieriegel zur Trinkflasche und klettert bergab in Richtung des blauen Horizonts. Das ist nicht bloß einfaches Blau, das sind sämtliche Blautöne, die zwischen Himmel und Wasser vorstellbar sind. Eine schneeweiße Wolke verstärkt den Kontrast, während eine mallorquinische Llaut unter Segeln weit draußen die Wellen durchpflügt.

Licht! Er liebt das Licht über alles, und so wie hier hat er es vielleicht erst einmal auf seiner Gewalttour über die Zentralalpen erlebt. Zwischen Großvenediger und Großglockner. Ziemlich hart war das.

Die Klippe vorne ist geeignet für eine längst fällige Rast. Ein Mönchsgeier zieht reglos seine Runden in der aufkommenden Thermik. Was für ein prächtiger Vogel. Schon bald stößt ein zweiter hinzu und die Kreise werden enger. Sie gleiten auf der steifen Südwest-Brise, die gleichzeitig auch eine sehr starke Brandung erzeugt. Wahrscheinlich erspähen sie eine schwächelnde Bergziege, denkt Leon. Doch da steigen die beiden schon wieder hoch hinauf und verschwinden hinten in den Bergen der Sierra Tramuntana.

Die letzten Tage in Berlin waren richtig stressig. Er hatte einen äußerst kniffligen Mordfall aufgeklärt: Eine Frau hatte ihren Mann getötet und war verschwunden. Nach mehreren Tagen hatte ihr kleiner Pudel damit begonnen, sein totes Herrchen anzuknabbern. Leon hatte sich am Tatort, einer asozialen Plattenbauwohnung nahe der Wuhlheide ein schreckliches Bild geboten. Die Frau hatte sich schließlich gestellt und vor Leon ein umfangreiches Geständnis abgelegt.

Seine Erinnerungen daran verschwinden beim Anblick dieser perfekt ausgeloteten Mischung aus Flora und Fauna. Einfach paradiesisch hier.

Leon will gerade einen weiteren Schluck aus der Trinkflasche nehmen, als sich der Donner der Wellen mit einem Geräusch vermischt das er nicht zuordnen kann. Ein Schlagen auf Stein, aber anders als das Bersten von Brandung. Ist es das Brechen von Holz? Nein, zu metallisch. Das Schlagen von Metall auf Stein? Schon eher.

„Aidez moi, aidez moi, s´il vous plait. Aidez moi, m´aidez, m´aidez!“

Mayday, das klingt für ihn, den ausgebildeten Kampfschwimmer vertraut. Leon vernimmt die zischenden, leisen Rufe, kaum hörbar, doch sie werden lauter und deutlicher. Vorsichtig, auf allen Vieren kriecht er auf den Abgrund zu. Wie eine Blende schieben sich am Ende des Kliffs die Strudel des tosenden Wassers in seinen Blick. Wasser mit der Wucht ungebremster Energie, das nach einer unendlich langen Reise frontal auf den nackten Felsen stößt. Und da sieht er etwas auf einem muschelbewachsenen, mit scharfen Zacken bewehrten Brocken hängen. Dem Ertrinken nahe, blutüberströmt, offene Wunden am ganzen Körper, flehend und bitterlich weinend – ein abgemagerter Junge, höchstens dreizehn Jahre alt. Die Überreste der zerfetzten Planken eines viel zu kleinen Bootes drohen ihn mehr unter Wasser zu ziehen, als sie ihm helfen könnten. Die Reste einer Schwimmweste hängt in Fetzen an ihm, sie könnte ihn nicht mehr über Wasser halten. Er blickt verzweifelt hoch, wo Leon kauert.

„M´aidez, Monsieur, m´aidez!“

„Halte durch, ich komme!”

Leon ist entschlossen, den Sprung zu wagen. Für ihn gibt es gar keine Alternative. Die Klippe ist überhängend. Er checkt die Wassertiefe auf zwei Meter fünfzig. Eigentlich viel zu wenig für die Absprunghöhe. Ohne langes Nachdenken hechtet er voll durchgestreckt von dem Felsvorsprung in die tosenden Fluten. Er zielt mit seinem Kopf auf eine kleine ringförmige Öffnung zu, da wo die Wasserfarbe etwas tiefer blau ist. Bei der Landung berührt er den felsigen Grund mit seinen ausgestreckten Armen und stößt sich sofort wieder ab. Die Strömung arbeitet gegen ihn, und mit allergrößter Anstrengung kämpft er gegen sie an. Als er den Jungen endlich fassen kann, versucht er ihn von der bedrohlichen Felswand loszureißen, bevor der nächste Brecher kommt. Doch der Junge sträubt sich aus purer Angst und klammert sich an einer genagelten Bootsplanke fest. Endlich gelingt es Leon mit einer ruckartigen Bewegung, ihn loszubekommen. Er merkt sofort, dass der Schiffbrüchige nicht schwimmen kann.

„Hol tief Luft, Du musst tief Luft holen. Atme! Respirar!”

Leon macht es ihm vor, und schon werden sie unter Wasser von der Strömung hinausgezogen, das panische Strampeln des Jungen macht den Rettungsversuch schier unmöglich. Fest krallt er seine Fingernägel in die Haut seines Retters. Der Strand liegt bloß ein paar hundert Meter links herum, aber die Strömung ist verdammt stark. Viel zu weit draußen kreuzt die kleine Llaut hart am Wind und kann die Handzeichen nicht erkennen die Leon macht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit mit Zwangspausen mehrmaligen Luftholens schafft es Leon endlich und spürt den feinen Sand unter den Füssen. Die beiden tauchen auf einem weißen, flachen Sandstrand auf, den Schiffbrüchigen hat er dabei fest im Arm. Wimmernd liegt nun ein Bündel Mensch direkt vor ihm in der sanften Brandung. Leon blickt in die halbtoten, pechschwarzen Augen eines dunkelhäutigen Jungen, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben größere Angst verspürt hatte als in den letzten Stunden. Zitternd und am ganzen Körper blutend beginnt er endlich, halbe Sätze zu stammeln.

„Monsieur, nom est Omar, et …votre nom?“

„Leon“, sagt Leon.

Dabei hält er Omar am Handgelenk, fühlt seinen Puls. Der scheint in Ordnung zu sein.

„Leon, Leon merci… merci“, schluchzt Omar und die Tränen fließen in Strömen, dabei tastet er suchend an Hals und Brust. Leon entdeckt ein Medaillon, das Omar an einer Kette am Rücken klebt. Er nimmt es und legt es ihm in die zitternden Hände. Omar beginnt, das Medaillon zu küssen.

„Merci Leon, merci, c´est ma mere.“ Er öffnet das Medaillon und zeigt Leon ein vollkommen verschwommenes, aufgeweichtes Schwarzweiß-Foto einer Frau im Hijab. Jetzt lächelt Omar zum ersten Mal.

„Ma mere, est en Algérie.“

Leon zieht sein Telefon aus der durchnässten Kleidung, aber es hat den Rettungsversuch offensichtlich nicht überlebt. Er versucht es immer wieder zu starten, aber das Display bleibt schwarz. Weit und breit keine Menschenseele, nur Natur. Wenigstens haben die starken Schürfwunden auf Omars Gesicht aufgehört zu bluten. Leon versucht, ihn hoch zu hieven. Sehr unsicher richtet sich Omar auf. Vom einfallenden Landwind getragen, schweben die beiden Mönchsgeier abermals heran und ihre Augenpaare scheinen sie zu fixieren.

„Kannst Du gehen?“

Leon stützt ihn und unter Stöhnen macht Omar die ersten Schritte. Nach nicht enden wollenden, schmerzhaften Metern kommen sie endlich bei Leons Mountainbike an, wo er Omar mit den restlichen Vorräten füttert, der alles in sich hineinschlingt und den restlichen Inhalt der Trinkflasche hinterherstürzt.

Leon versucht abermals, sein Telefon zum Leben zu erwecken – nichts. Er entfernt sich einige Schritte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Keine Menschen, zu weit entfernt von der Zivilisation, Mallorca ohne Touristen, ein Wunder, aber gar nicht gut in diesem Moment.

Omar hat sich auf den Stumpf eines alten Olivenbaumes fallen lassen und atmet schwer. Leon wünscht, er hätte irgend etwas zum Desinfizieren dabei. Zu Blut und Schweiß mischen sich immer wieder Tränen in Omars Gesicht.

„Baby-Schwester Fatima Zohra ist ertrunken, sie hat im Boot gespielt, ist reingefallen. Mein großer Bruder Sihab ist ihr nachgesprungen und auch ertrunken, alle zwei im Meer ertrunken. Bruder Sihab hat Schwimmweste nicht angelegt und kann nicht schwimmen, Wind hat das Boot weitergetrieben, weiter und immer weiter. Er gestrampelt und gerufen mit Fatima Zohra im Arm, immer kleiner geworden, dann ich sie nicht mehr gesehen.“

Weinkrämpfe schütteln ihn erbärmlich.

Leon hält ihn fest im Arm und versucht, ihm etwas Trost zu geben. Omar beruhigt sich, er ist ein tapferer Bursche, doch sein Leben steht immer noch auf dem Spiel. Leon erhebt sich, aber Omar will seine Hand nicht loslassen. Zu groß ist seine Angst, wieder allein gelassen zu werden.

„Bleib bei mir, Leon, bitte nicht weggehen. Mama hat uns ins Boot gesetzt und gesagt, wir kommen ganz sicher in eine schöne Welt. Sie ist ganz lange gestanden am Strand, bis sie auch ganz klein war und dann war sie weg, das ganze Land war auf einmal weg.“

„Ich bleib bei Dir, versprochen“, sagt Leon, während er einen kleinen Felsen besteigt. Er dreht sich langsam und konzentriert um die eigene Achse, versucht jede Auffälligkeit zu registrieren – nichts.

Doch plötzlich sieht er über den Baumwipfeln die Umrisse einer Struktur, ein Kreuz etwa? Er steigt etwas höher auf den kleinen Felsen und erkennt weit oben, am Gipfel des Berges Teile eines Turms. Als ein dünnes Bimmeln einsetzt weiß er, dass dies die Rettung sein könnte.

Omars Wunden haben wieder zu bluten begonnen.

„Omar, komm, vite!“

Die beiden folgen einem schmalen Steig, der eher für Ziegen geeignet ist als für Menschen, aber immerhin führt er sie in die Richtung des Geläuts. Schritt für Schritt, extrem langsam bahnen sie sich ihren Weg durch die schier undurchdringliche Macchia.

Der Mallorca-Job

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