Читать книгу Der Henker von Bad Berging - Katja Hirschel - Страница 9

Оглавление

Montag, 23:10 Uhr, unterwegs in Deutschland

Sie saßen im Speisewagen des Nachtzugs. Jens Kessler rührte seinen Kaffee geistesabwesend um, nachdem er drei Päckchen Zucker hineingeschüttet hatte. Dass er dabei zu kräftig vorging und die hellbraune Flüssigkeit überschwappen ließ, merkte er erst, als sie bereits am Rand der Tasse hinablief und sich auf dem Unterteller sammelte. Rita, die ihm schräg gegenübersaß, hob eine Augenbraue.

»In den USA hätten sie uns einen Privatjet zur Verfügung gestellt!«, maulte sie. »Scheiß Öko-Deutschland. Jetzt müssen wir über sieben Stunden inklusive zweimal Umsteigen der Umwelt zuliebe im Zug sitzen, obwohl wir in der Zeit schon längst vor Ort ermitteln könnten.«

Jens Kessler reagierte nicht. Er zog es vor, sich weiterhin in Schweigen zu hüllen.

»Kann ich Ihnen noch etwas bringen, bevor wir schließen?«, machte sich der Kellner bemerkbar, während sein Kollege im Hintergrund mit offenem Mund gähnte.

Rita ließ ihren Blick abschätzig über den Mann gleiten, musterte seine schlecht sitzende Uniform, befand sie offenbar als zu kurz und zu eng, und machte ihn dadurch so nervös, dass er sich erst einmal über die trockenen Lippen lecken musste.

»Etwas bringen?«, fragte sie und ihre Stimme klang kälter als eine Tiefkühltruhe. »Sie wagen tatsächlich noch einen Versuch? Obwohl Sie mir seitdem wir hier sitzen mit: »Tut mir leid, das ist aus.« – oder – »Hoppla, das haben wir auch nicht mehr.« – oder – »Verzeihung, aber Sie haben leider das Menü von gestern erwischt. Das haben wir heute selbstverständlich nicht auf der Karte.« – den letzten Nerv geraubt haben?«

Der Bahnangestellte schluckte hörbar, aber Rita war noch lange nicht fertig. Anklagend deutete sie auf die Einzelteile eines trockenen Brötchens, das traurig zerbröselt neben einigen Akten vor ihr auf der Tischdecke lag.

»Lediglich eine vertrocknete Semmel gab’s, weil Sie angeblich auch noch einen Kurzschluss in der Küche hatten, sodass die Suppe nicht aufgewärmt werden konnte!? Und jetzt haben Sie sogar noch die Frechheit, nach weiteren Wünschen zu fragen? Wollen Sie mich absichtlich provozieren oder sind Sie wirklich so dummdreist, dass Ihnen nicht aufgefallen ist, dass mein einziges Verlangen momentan nur noch ist, Ihnen den Hals umzudrehen?«

Jens Kessler hatte sich zwar nicht einmischen wollen, aber da ihm die aggressive Stimmung langsam lästig wurde, sah er sich nun doch gezwungen, etwas zu sagen.

»Nein, danke. Wir brauchen nichts mehr!«, bestimmte er rasch und wollte dem Mann damit zu verstehen geben, dass er jetzt besser gehen sollte, aber es war zu spät. Der Kellner – vermutlich konnte man ihn der Gruppe »Gefahrensucher« zuordnen – hatte durch den Schock der etwas harsch vorgetragenen Vorwürfe, doch noch etwas zu erwidern.

»Ähm …«, suchte er gleich nach Worten, ignorierte Jens Kesslers warnenden Blick und lieferte sich weiter ans Messer. »Äh, na dann. Dann würde ich Sie bitten wollen … Ähm, muss Sie dann bitten – nachdem Sie Ihren Kaffee ausgetrunken haben, versteht sich – zu Ihren Plätzen …«

Weiter kam er aber nicht. Rita war wie eine Raubkatze aufgesprungen, hatte ihn am Revers gepackt und war seinem Gesicht plötzlich viel zu nahe, sodass er sich vor Schreck fast auf die Zunge gebissen hätte.

»Jetzt hören Sie mal zu, Sie Hampelmann«, zischte sie. »Bei mir verhält es sich nämlich so. Wenn ich Hunger habe, bin ich unterzuckert und werde nervös. Wenn ich nervös werde, dann reißen ganz fix meine haardünnen Geduldsfäden. Und wenn die nicht mehr sind, dann ist mit mir nicht gut Kirschen essen, wobei wir wieder auf Anfang – also bei dem Thema Hunger – wären! Gut, hier kommt eine wohlgemeinte Warnung: Warum verschwinden Sie nicht einfach wieder in Ihr Küchenloch und reparieren Ihre Mikrowelle, während mein Partner und ich hier sitzen bleiben und nicht mehr belästigt werden.«

»Aber …«

Dem Typen ist nicht mehr zu helfen, dachte Jens Kessler und trank einen Schluck Kaffee.

»Nix aber! Hiermit erkläre ich diesen leeren Speisewagen zum HQ für offizielle, polizeiliche Ermittlungen!«

»Äitsch Kiu?«, stotterte der Kellner und wollte einen vorsichtigen Schritt nach hinten machen, was jedoch nicht ging, da Rita ihn eisern festhielt.

»Abkürzung für Headquarter, zu Deutsch Hauptquartier, Sie Hirni!«, fauchte sie.

»Oh, oh, verstehe …«, log der Mann. Er hatte ihr natürlich nicht zugehört, da er zu beschäftigt war, nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Einen letzten, verzweifelten, hilfesuchenden Blick nach hinten werfend musste er leider feststellen, dass sich sein gähnender Kollege längst schon in Sicherheit gebracht hatte.

»Rita!« Jens Kessler stellte geräuschvoll seine Tasse ab. »Geht das denn nicht leiser und freundlicher? Was soll denn der Quatsch! Willst du ihn jetzt verhauen, nur weil du nichts zu futtern bekommen hast?«

Sie zwang sich regelrecht, den Blick von ihrem willigen Opfer zu lösen, um ihn anzusehen.

Nein, dachte Jens Kessler. Nein, wie kann man denn nur verlangen, dass ich mit so einer unbeherrschten Person zusammenarbeite? Da ist ein Spaziergang auf einem ausbrechenden Vulkan angenehmer.

Verbittert verzog er den Mund. Er hatte Ben Stein leider nicht davon abbringen können, ihm Rita als Partnerin zuzuteilen. Jens Kessler hatte in den sauren Apfel beißen müssen, gleich seinen Koffer gepackt, war in den Nachtzug mit dem wohlklingenden Namen Schimmelreiter gestiegen und saß nun seit Harburg mit ihr im Speisewagen und vor seiner vierten, überzuckerten Tasse Kaffee.

»Lass ihn gehen!«, murmelte er müde.

»Na dann!«, knurrte sie nach einer Weile. »Do hosd no amoi a Massl kabd, Burschi! Und jetz’ schleichst di!«5

Jens Kessler wusste, dass es Bayerisch war. Vermutlich war die Grenznähe ihrer Heimat ausschlaggebend. Vielleicht auch ihr überschäumendes Temperament, das nur im Dialekt den richtigen Ausdruck finden konnte. Er blickte kurz auf das Plastikschild an der Brust des Angestellten, das diesen als Franz-Josef Wildmoser auswies. Nun, wahrscheinlich lag es auch nur an seinem Namen. Jens Kessler drehte sich weg, betrachtete die Kaffeeflecken, die er verursacht hatte und die nun auf dem Tischtuch verewigt waren – zumindest bis zum nächsten Waschgang. Ein Rumpeln und Klirren war zu hören. Rita musste den Bahnangestellten wohl losgelassen haben. Doch wen interessierte das schon?! Nachdenklich sah Jens Kessler aus dem Fenster, konnte dort aber nur sein eigenes Spiegelbild, verzerrt und von der Dunkelheit hervorgehoben, erkennen.

5 Da hast du noch einmal Glück gehabt, Bürschchen! Und jetzt machst du dich vom Acker!

Der Henker von Bad Berging

Подняться наверх