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3. Korpus 3.1. Korpusbildung

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Die bisherige Forschung zum Wortschatz des Schreibens und Lesens im Altnordischen hat vor allem mit einzelnen Textstellen und Wörterbüchern gearbeitet (vgl. Kap. II.1., III.1.). Häufig zitiert werden die Prologe, welche hauptsächlich das Schreiben, aber weniger das Lesen reflektieren, und äusserst heterogen in der Überlieferung sind: Sie gehören zu unterschiedlichen Texten, so dass diese in die Analyse miteinbezogen werden müssen, und sind in unterschiedlichen, teils neuzeitlichen Handschriften erhalten. Meine Lizentiatsarbeit hat sich einem längeren Text gewidmet, der Sturlunga saga, die trotz ihres Umfangs einen limitierten Wortschatz enthält. Gewisse Lexeme sind nur vereinzelt belegt, was eine Analyse erschwert (vgl. Müller 2018). Spurkland (1994) verwendet als einziger ein umfangreicheres Korpus norwegischer Runeninschriften, das er aber rein quantitativ nutzt, um die Anzahl der Lexeme nachzuweisen.

Diese selektive Vorgehensweise kann kaum ein geschlossenes Bild der Lexik und Semantik des Schreibens und Lesens im Altnordischen geben. Selbst eine Berücksichtigung aller überlieferten Texte könnte dies nicht geben, weil sie die altnordische Sprache nur fragmentarisch abbilden. Heringer (1993) kritisiert die fehlenden Methoden und Reflexionen der historischen Semantik, besonders was die Belegmenge und die Repräsentativität der untersuchten Texte sowie die Festigkeit der Bedeutung betrifft. Diese Kritik hat an Aktualität nichts eingebüsst. Mit diesem Problem sieht sich auch die vorliegende Arbeit konfrontiert. Allein schon die bis heute erhaltenen handschriftlich überlieferten Texte stellen eine Selektion dar. Für diese Arbeit muss wegen des Umfangs eine noch engere Auswahl vorgenommen werden, die im Folgenden dargelegt wird. Die Ergebnisse sind somit nicht repräsentativ für die altisländische Sprache und das mittelalterliche Island, sondern nur für die in diesem Korpus enthaltenen Texte, können aber der weiteren Erforschung als Grundlage dienen.

Bei der Textauswahl stellt sich die Frage, welche Texte sich für ein Korpus zum altisländischen Wortschatz des Schreibens und Lesens besonders eignen. Die lateinische Schrift kam mit der Christianisierung um das Jahr 1000 nach Island. Die ältesten erhaltenen Handschriften stammen allerdings erst aus dem 12. Jahrhundert. Von da an nimmt die Zahl überlieferter Handschriften bis ins 14. Jahrhundert kontinuierlich zu. Die wichtigsten historischen Quellen, welche diese Zeit und diesen Raum abdecken sind die Sturlunga saga und die Bischofssagas (biskupasǫgur) (vgl. Bragason 2005: 428, Grímsdóttir 2003: XXX, Tómasson 2002: 793–801, Uecker 2004: 19–23, 93, 112).

Der beste Weg wäre also, diese Texte in einem elektronischen Korpus nach Belegen zu durchsuchen. Dieser Methode sind in der Altisländischen Sprache jedoch Grenzen gesetzt. Obwohl es mehrere elektronische Korpora mit altisländischen Texten gibt, kommen die Bischofssagas darin kaum vor. Die Zusammensetzung der Korpora erlaubt aber auch mit anderen Texten eine seriöse Arbeit nur in sehr eingeschränktem Ausmass. Das isländische Korpus Málföng (malfong.is) umfasst auch mittelalterliche Texte (fornritin) (http://mim.arnastofnun.is/index.php?corpus=for). Darunter befinden sich folgende Gattungen und Werke: Isländersagas (Íslendinga sögur), Sturlunga saga, Heimskringla und Landnámabók. Die für die Erforschung der Schriftlichkeit essentiellen Bischofssagas fehlen jedoch. Das Korpus basiert zudem auf normalisierten Editionen, in denen die verwendeten Handschriften und Redaktionen nicht unterschieden werden. Dies ist besonders fatal, da diverse altisländische Texte nur in frühneuzeitlichen Abschriften von verloren gegangenen mittelalterlichen Vorlagen überliefert sind, so dass der Bestand zeitlich weit über das Mittelalter hinausgeht. Deshalb ist dieses Korpus auch für die Analyse der Sturlunga saga ungeeignet.

Ein weiteres elektronisches Korpus ist http://corpus.arnastofnun.is/, in dem ebenfalls sowohl alt- als auch neuisländische Texte durchsucht werden können, jedoch nicht die Bischofssagas. Ausserdem basiert das altisländische Korpus ebenfalls auf normalisierten Editionen. Ein grösseres Projekt, das mit den einzelnen Handschriften arbeitet, ist Medieval Nordic Text Archive (http://www.menota.org/), in dem sowohl die Sturlunga saga als auch die Bischofssagas leider fehlen. Das laufende Wörterbuchprojekt Ordbog over det norrøne prosasprog (= ONP) ‚Wörterbuch zur altnordischen Prosasprache‘ (http://onp.ku.dk/) der Universität Kopenhagen ermöglicht es, einzelne Lexeme und auch Kollokationen in verschiedenen kritisch edierten Texten zu finden; das Projekt ist aber noch nicht abgeschlossen, d.h. das Material ist nicht vollständig aufbereitet. Bei den jeweiligen Texten ist ausserdem nur eine Auswahl pro Lemma getroffen worden. Dies erlaubt keine Stichproben, um Texte auszuwählen, die ein besonders hohe Dichte an Belegen aufweisen. Mit dem ONP ist es immerhin möglich, in der Sturlunga saga und den Bischofssagas selten belegte Lexeme mit Belegen aus anderen Textgattungen zu vergleichen und auch das Alter der Lexeme zu belegen. Weil es keine geeigneten elektronischen Korpora gibt, ist es nötig, die Texte analog in der Originalsprache durchzulesen und nach Stellen mit Lexemen zum Schreiben und Lesen zu exzerpieren. Diese aufwendige Arbeitsweise erlaubt nur ein relativ kleines Korpus, weshalb eine gezielte Selektion nötig war. Dafür wurden folgende drei Texte ausgewählt: Jóns saga biskups, Sturlunga saga und Laurentius saga biskups. Die Wahl basiert auf folgenden Kriterien: Sie enthalten viele Belege zum Schreiben und Lesen, sind in altisländischer Sprache geschrieben, handeln hauptsächlich in Island, sind auch in Island entstanden und zum grössten Teil in mittelalterlichen Handschriften überliefert. Zu den drei Texten und ihren Handschriften liegen zudem kritische Editionen vor.

Die Jóns saga helga ist die Vita Jón Ǫgmundarsons (1052–1121), der 1106 erster Bischof der nordisländischen Diözese Hólar wurde und im Jahre 1200 auf dem Althing heiliggesprochen wurde. Sie ist eine wichtige Quelle für die Frühzeit des Christentums und der Schriftkultur in Island, auch wenn sie wegen ihres stark legendarisch-hagiographischen Charakters und der stereotypen Elemente als historische Quelle nicht besonders zuverlässig ist (Foote 1993: 345, Kristjánsson 1994: 189, Uecker 2004: 93). Diese Stereotypie stellt aus semantischer Sicht jedoch keine Barriere dar, weil Konzepte stereotyp sind. Ziel dieser Arbeit ist nicht, historische Realitäten, sondern eben die den Lexemen zugrundeliegenden Konzepte zu erforschen. Somit eignet sich die Jóns saga helga als Quelle zumindest für die Zeit ihrer Entstehung und Überlieferung, wenn auch nicht für die Lebenszeit ihrer Hauptperson.

Die Sturlunga saga ist die wichtigste Quelle zur Kenntnis der isländischen Geschichte des 12. und 13. Jahrhunderts (Bragason 2005: 428, Uecker 2004: 112). Die grosse Kompilation setzt sich aus unterschiedlichen Sagas zusammen, in denen nicht die Schriftkultur, sondern die Konflikte der Endzeit des isländischen Freistaates im Zentrum stehen. Trotzdem enthält die Sturlunga saga zahlreiche Belege zum Schreiben und Lesen, im Gegensatz zu den Bischofssagas vor allem in einem Laienmilieu. Die Autoren Snorri Sturluson und Sturla Þórðarson sind zudem Hauptpersonen in diversen Sagas dieser Kompilation. Als Quelle für die Geschichte und die isländische Schriftkultur ist dieser Text also unverzichtbar.

Die Laurentius saga biskups, die Biographie des Bischofs Laurentius Kálfsson von Hólar (1267–1331), ist die jüngste mittelalterliche Bischofssaga und eine wichtige Quelle für den Anfang des 14. Jahrhunderts (Grímsdóttir 1998: LXf., Björnsson 1993: 381, Kristjánsson 1994: 192). Auch sie enthält zahlreiche Belege zum Schreiben und Lesen, aber wieder in einem hauptsächlich klerikalen Milieu wie die Jóns saga helga.

Die drei Texte dieses Korpus decken somit unterschiedliche Zeiträume und Milieus ab, so dass sie ein vielfältiges Bild zur mittelalterlichen Schriftkultur in Island geben. Gegen einige andere Bischofssagas sprechen drei Argumente: Erstens sind einige dieser Sagas handschriftlich spät überliefert. Dies betrifft die Hungrvaka, einen biographischen Abriss der ersten fünf Bischöfe von Skálholt, und die Páls saga biskups, die Biographie des Bischofs Páll Jónsson von Skálholt (1155–1211), die ausschliesslich in Handschriften aus dem 17. Jahrhundert erhalten sind (vgl. Bibire 1993a: 496, Helgason 1938: 27f.). Dies gilt grösstenteils auch für die Árna saga biskups, der Biographie des Bischofs Árni Þorláksson von Skálholt (1237–1298), von der nur zwei spätmittelalterliche Fragmente erhalten sind: das Fragment AM 220 VI fol. mit zwei Blättern und die Reykjarfjarðarbók (AM 122b fol.) aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit drei Blättern, in der auch die zweite Redaktion der Sturlunga saga enthalten ist (s.u. Kap. I.3.3.). Der grösste Teil der Árna saga biskups ist sonst nur in frühneuzeitlichen Abschriften erhalten (vgl. Hauksson 1972: v, vii, xxxf.). Das Belegmaterial ist zwar sehr umfangreich, aber sehr einseitig, da es hauptsächlich im Kontext des sehr regen Briefverkehrs der Saga steht.

Zweitens ist das Belegmaterial einiger anderer Sagas vergleichsweise dünn. Dies betrifft neben der oben erwähnten Páls saga biskups (Helgason 1978: 407–438) auch die Hungrvaka (vgl. Helgason 1938: 72–115), was vor allem durch die Kürze dieser Texte erklärt werden kann. Dieser Nachteil betrifft aber auch die längere Þorláks saga helga, die Vita des heiliggesprochenen Bischofs Þorlákr Þórhallsson von Skálholt (1133–1193), die in einem lateinischen Fragment und drei altisländischen Versionen überliefert ist. Sie gilt als zuverlässige Quelle mit wertvollen Hinweisen auf Alltagsleben und Alltagswelt (vgl. Bibire 1993b: 671, Kristjánsson 1994: 187f., Uecker 2004: 94). Eine Durchsicht der drei Versionen in der Edition von Helgason (1978: 175–373) hat jedoch ergeben, dass alle drei Redaktionen relativ wenig Belege zum Schreiben und Lesen enthalten, die ausserdem in ähnlicher Form in anderen Sagas vorkommen. Wegen dieses wenig ergiebigen Materials kann diese Saga weggelassen werden.

Drittens spielt auch die Zusammensetzung von Kompilationen eine Rolle, d.h. die gleichen Textteile kommen in unterschiedlichen Texten vor. Die vier Versionen der Guðmundar saga biskups, der Biographie des Bischofs Guðmundr Arason von Skálholt (1161–1237), basieren auf einer Kompilation von vier Sagas, der Prestssaga Guðmundar Arasonar, der Hrafns saga Sveinbjarnarsonar, der Íslendinga saga und der Arons saga Hjǫrleifssonar, die alle ausser der Arons saga Hjǫrleifssonar in der Sturlunga saga enthalten sind (vgl. Karlsson 1993: 245f., Kristjánsson 1994: 191). Die vier Versionen bieten somit nicht viel anderes Belegmaterial als die Sturlunga saga.

Für eine anfängliche, manuelle Analyse des altisländischen Wortschatzes des Schreibens und Lesens kann dieses Korpus, bestehend aus der Jóns saga helga, der Sturlunga saga und der Laurentius saga biskups, somit als ausreichend betrachtet werden. In den folgenden drei Kapiteln wird die handschriftliche Überlieferung kurz abgerissen, weil sie für das Alter der Belege entscheidend ist.

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