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Warum scheiterte die Kolonisation? Moderne Untergangsszenarien

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Noch heute ist Grönland mit seinen knapp 65 000 Einwohnern dünn besiedelt, und die Nordmänner vor einem Jahrtausend waren wohl nicht viel mehr als Staubkörner in dieser gewaltigen Landschaft. Von den fünfundzwanzig offenen Rahseglern, die unter Eiriks Führung beladen mit Auswanderern und deren Habseligkeiten irgendwann zwischen 986 und 990 n. Chr. aufbrachen, erreichten nur vierzehn Grönland. Einige Schiffe sanken auf der Fahrt, andere sahen sich zur Umkehr gezwungen. Die verbliebenen Passagiere reichten jedoch schon aus, um die Hauptkolonie im Südwesten (die Ostsiedlung) und danach eine abhängige Kolonie etwa 500 Kilometer weiter im Norden (die Westsiedlung) zu gründen. Offenbar waren sich die Siedler der Tatsache bewusst, dass die Westküste Grönlands beträchtlich nach Westen ausgreift, je weiter man nach Norden kommt. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben bestätigt, dass beide nordische Siedlungen in Grönland um 1000 n. Chr. bewohnt waren.10

Diese Pioniere, Männer wie Frauen, waren an körperlich harte Arbeit ebenso gewöhnt wie an die extremen Lebensbedingungen im hohen Norden, wo der Existenzkampf eine noch größere Herausforderung darstellte als im übrigen mittelalterlichen Europa. Sie waren fest entschlossen, eine Gesellschaft entstehen zu lassen, in der ihre ererbte, auf Jagd, Fischfang und Viehhaltung gegründete Kultur weiter bestehen konnte. Gerade wegen der reichen Naturschätze, die sie in Grönland vorzufinden hofften, waren sie dorthin ausgewandert, und sie hatten ganz offensichtlich Erfolg, denn es sollten fünf Jahrhunderte vergehen, bis kein Rauch mehr aus den mit Rasensoden gedeckten Dächern ihrer Siedlungen aufstieg.

Doch obwohl sich die Nordmänner so lange in Grönland hielten, wird ihr Unternehmen in der Wissenschaft fast ausnahmslos als gescheitert angesehen. Trotz ihrer erwiesenen Fähigkeit, in einer so rauen Umwelt ein halbes Jahrtausend zu überleben, stellte man sie durchgängig als tragische Opfer äußerer Umstände dar, die noch durch eigene Unzulänglichkeiten zu ihrem Ende beigetragen hatten. Doch warum scheiterten sie? Man hat viele Erklärungen dafür gefunden, warum sich aus den tragfähigen Fundamenten, die Eirik der Rote gelegt hatte, eine angeblich zum Scheitern verurteilte Gesellschaft entwickeln konnte – vorgeschlagen wurden etwa genetische Degeneration, Fehl- und Mangelernährung, unfachmännische Ressourcennutzung, tödliche Auseinandersetzungen mit angreifenden Inuit, das Unvermögen, von den Inuit zu lernen, die aus Europa eingeschleppte Pest, Piratenüberfälle aus Europa, die immer stärker fortschreitende Isolation von Europa, der Zusammenbruch einer schon geschwächten Gesellschaftsordnung, die Rückkehr nach Island und Norwegen und schließlich vor allem ein nachhaltiger Klimawandel.

Der amerikanische Autor Jared Diamond macht in seinem Bestseller Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen (2005) das nordische Grönland zu seinem Paradebeispiel für das Scheitern einer Gesellschaft und erklärt unmissverständlich: »Die normannisch-grönländische Gesellschaft brach völlig zusammen: Tausende von Einwohnern verhungerten, kamen bei inneren Unruhen oder im Krieg gegen feindliche Mächte ums Leben oder wanderten aus, bis in ihrem Gebiet schließlich niemand mehr lebte.« Die Gesellschaft der Auswanderer sei, so schreibt Diamond, durch innere wie äußere Einflüsse zum Untergang verurteilt gewesen. Wir sollten deshalb aus dem Zusammenbruch dieser Gesellschaft lernen, denn viele unserer heutigen Probleme seien vergleichbar mit jenen, denen sich die Nordmänner in Grönland gegenübersahen, da sie schlecht an die dortigen widrigen Lebensbedingungen angepasst waren und da es ihnen an planerischer Weitsicht fehlte. Die nordische Gesellschaft in Grönland zeigt uns so – Diamonds Überzeugung nach – beispielhaft einen äußerst vielschichtigen prähistorischen Zusammenbruch, und er fügt hinzu, dass es auch der bestbelegte sei, da es sich um »eine gut untersuchte europäische Gesellschaft mit einer Schriftsprache« gehandelt habe.11

Zugegeben, die nordischen Grönländer waren Europäer, doch wir wissen nicht, wie weit ihre Lese- und Schreibkünste reichten, und ihre Gesellschaftsordnung ist selbst bis heute noch nicht ausreichend erforscht. In der Öffentlichkeit halten sich so noch immer viele Missverständnisse über das nordische Grönland, auch über die Entwicklungen, die Diamonds Ansicht nach wohl den selbst verschuldeten Niedergang der Nordmänner auf dieser Insel verursachten: »Umweltschäden, Klimaveränderung, Verlust freundschaftlicher Kontakte zu Norwegen, Verstärkung des feindseligen Verhältnisses zu den Inuit sowie das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld von Normannisch-Grönland«.12 Diese Thesen schreien geradezu danach, das gängige Wissen über das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld der Nordmänner in Grönland wie auch die verhängnisvollen Missstände, die diesen europäischen Vorposten und fernen Leuchtturm der mittelalterlichen römischen Kirche angeblich plagten, noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Zwei Fragen drängen sich auf: Wie sah das Ende der Nordmänner in Grönland wirklich aus? Und halten die aufgezählten erschwerenden Umstände einer näheren Überprüfung stand?

Erosion und Klimaveränderungen allein können kaum für das Verschwinden einer fest verwurzelten Bevölkerung verantwortlich sein, solange es noch genügend Nahrung aus Land und Meer gibt. Die Isländer hatten im Mittelalter ähnliche Umweltprobleme zu bewältigen wie die Grönländer und litten zudem noch unter verheerenden Vulkanausbrüchen und Erdbeben, aber sie überlebten und erholten sich von jeder Katastrophe, auch vom Schwarzen Tod, der Island schließlich 1402 erreichte – für Grönland ist nichts Vergleichbares belegt. Man sollte auch nicht davon ausgehen, dass die Grönländer im späten 15. Jahrhundert weniger gut mit Wetterschwankungen umgehen konnten oder mit einem weniger stark ausgeprägten Lebenswillen ausgestattet waren als ihre Vorfahren, die das Land besiedelt hatten, und ihre Zeitgenossen in Island.

Durch gegenwärtige Diskussionen über die globale Erwärmung taucht dennoch die klimatische Situation zur Zeit der nordischen Grönländer immer wieder als Faktor auf, und man wirft nur allzu leichtfertig mit Begriffen wie »mittelalterliche Warmzeit« und »kleine Eiszeit« um sich. Obwohl die »kleine Eiszeit« im hohen Nordwesten erst kurz vor 1700 n. Chr. als Phänomen zu beobachten war, wird der Begriff in Texten über das nordische Grönland oft schon für die Zeit ab etwa 1350 verwendet – damals gab es eine Phase der Abkühlung, die aber von mehreren Perioden milderen Wetters durchbrochen wurde. Obwohl viele »Informationen« über diese Abkühlung sich aus der falschen Deutung einer angeblich aus dem 14. Jahrhundert stammenden Navigationshilfe für das Segeln nach Grönland ableiten, die stark durch Interpolationen aus dem 17. Jahrhundert verfälscht ist, haben sie doch die Deutungen komplexer Klimadaten aus diesem riesigen Gebiet stark beeinflusst.

Die neuere Klimaforschung zeigt indessen, dass kaltes und/oder stark wechselhaftes Wetter die Ostsiedlung in der Zeit vor ihrer Aufgabe beeinträchtigte, und hat der Argumentation, dass ein sich verschlechterndes Klima wesentlich zum Verschwinden der nordischen Grönländer beigetragen habe, wieder Aufschwung verliehen. Eine solche Argumentation mit Ursache und Wirkung ist jedoch sinnlos, solange wir weder wissen, wann genau die Ostsiedlung aufgegeben wurde, noch die Beziehung zwischen dem jeweiligen Klima und der Situation der mittelalterlichen Bewohner kennen – oder auch nur wissen, wie sie auf Klimaschwankungen reagierten. Als sicher kann nur gelten, dass um 1000 n. Chr. die Durchschnittstemperaturen im Südwesten Grönlands etwa mit denen um das Jahr 2000 vergleichbar sind und dass im dazwischen liegenden Jahrtausend viele Klimaschwankungen zu bewältigen waren. Der große Klimawandel, der Forst- und Landwirtschaft in Grönland in bisher nie dagewesener Größenordnung ermöglicht, hat erst nach 2000 eingesetzt. Grönland erlebt gegenwärtig eine Erwärmung ohne bekannte Parallele in den letzten tausend Jahren. So hoch waren die Temperaturen nicht einmal am Ende der »mittelalterlichen Warmzeit«, als Eirik der Rote und seine Pioniere die ersten Bauernhöfe in ihrer neuen Kolonie anlegten. Paläobotanische Untersuchungen von Samen und anderen Pflanzenresten aus der Ost- wie aus der Westsiedlung zeigen, dass die Nordmänner zwar zählebige Wurzelpflanzen kultivierten und sogar Flachs anbauten, aber selbst das widerstandsfähigste Getreide nicht zur Reife bringen konnten.13

Hartnäckig hält sich auch die Erklärung, dass der unterbrochene Kontakt mit Norwegen um 1400 herum der grönländischen Kolonie unausweichlich den Todesstoß versetzt haben müsse. Allerdings hatte die Ostsiedlung nach der Unterbrechung der formellen Beziehungen zu Norwegen noch ein bis anderthalb Jahrhunderte Bestand, was doch nahelegt, dass diese Erfahrung durchaus erträglich war. Die Frage nach der Rolle Norwegens im Leben der Grönländer ist allerdings durchaus wichtig und soll in verschiedenen Zusammenhängen in späteren Kapiteln wieder aufgenommen werden.

Außer Zweifel steht jedenfalls, dass die Nordmänner aus Grönland verschwanden. Neuere archäologische Untersuchungen zeigen, dass die Westsiedlung um 1400 verlassen wurde (nicht um 1350, wie stets behauptet wurde) und dass, vielleicht mit Ausnahme einiger weniger Versprengter, die nordischen Bewohner die Ostsiedlung um 1500 verließen. Doch selbst die besten verfügbaren historischen und archäologischen Informationen können weder die Umstände noch den zeitlichen Ablauf der Entscheidungen, die zur Aufgabe dieser Gemeinden führten, erhellen. Niemand war dabei, als die Nordmänner Grönland verließen, und niemand weiß, warum und wohin sie gingen.

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