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Eirik »der Rote« segelt mutig nach Westen
ОглавлениеEirik der Rote und sein Vater Thorvald verließen irgendwann in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts ihre Heimat Norwegen in Richtung Island, weil sie einen Mann getötet hatten und eine Auswanderung deshalb ratsam erschien. Bei ihrer Ankunft in Island fanden sie das gesamte fruchtbare Land schon vergeben, doch als Eirik Thjodhild Jörundsdóttir heiratete, die starrköpfige Tochter eines wohlhabenden isländischen Bauern, bekam er Land auf dem Besitz seines Schwiegervaters im Westteil der Insel zugewiesen. Vor Kurzem ist dort ein Langhaus freigelegt worden, das Eirik vielleicht für sich und seine Familie baute – die bescheidenen Ausmaße lassen erahnen, warum er die Gelegenheit, mehr zu erreichen, beim Schopf packte.
Bevor das geschah, nahm Eiriks Leben allerdings zunächst eine Wende zum Schlechteren. Auch in Island wurde sein Fortkommen durch eine Gewalttat beeinträchtigt. Nach der »Saga von den Grönländern« tötete er zwei Männer (die »Saga von Eirik dem Roten« merkt noch an, dass dies nach Streitigkeiten geschah, als einer der Männer einen Sklaven erschlug, der Eirik gehörte) und wurde von Haus und Hof in Haukadale verbannt. Er ließ sich auf einer Insel im Breidafjord nieder, wo er seine Bankbretter an einen Mann verlieh, der sie nicht wieder herausgab, als Eirik ihn darum bat.4 Daraus entstanden, wie nicht anders zu erwarten, neuer Streit und neue Gewalt, und wahrscheinlich um 983 n. Chr. herum wurde Eirik wegen Mordes für drei Jahre verbannt.5 Jeder auf Island durfte ihn töten, solange seine Verbannung galt, also hatte er guten Grund, sich in dieser Zeit der Erkundung Grönlands zu widmen.
In Anbetracht der Auseinandersetzungen, in die Eirik verwickelt war, kann man wohl mit einiger Sicherheit annehmen, dass sein Temperament seiner Haarfarbe entsprach, doch wichtiger bei der Bewertung seiner Leistung sind sein stabiler Familienhintergrund und seine Erfahrung als Seemann, dazu persönliche Eigenschaften, die ihn zu einem guten Planer und Organisator und zu einem energischen Anführer machten. Diese positiven Eigenschaften treten in den Sagas mit aller Deutlichkeit hervor – dort wird sowohl von seinen Fertigkeiten wie auch von der Bereitschaft der anderen, ihm zu folgen, berichtet –, doch in den Geschichtsbüchern werden sie fast völlig ausgeblendet. Dort neigt man dazu, seine Muskelkraft zu betonen, und verbreitet den Eindruck, er müsse ein grober und ungebildeter Klotz gewesen sein. Grob war er vielleicht – das ist wohl nicht abzustreiten –, aber er war auch ein dynamischer, gut vernetzter Anführer, der ganz sicher gebildet war und die Koordinaten der damals bekannten Welt kannte.
Eirik hatte auch eine gute Vorstellung davon, wohin er wollte und was er zu erwarten hatte, als er beschloss, die Meere westlich von Island zu erkunden, denn seine beiden Landsleute Gunnbjörn Ulfsson und Snæbjörn Holmsteinsson hatten vor ihm Reisen in diese Richtung unternommen.6 Wie Eirik selbst stammte auch Gunnbjörn Ulfsson in fünfter Generation von dem norwegischen Häuptling Öxna-Thorir ab, dem Bruder des Wikingers Nadd-Odd, der Berichten zufolge einst durch einen Sturm vom Kurs abgekommen und auf dem damals noch unbesiedelten Island gelandet war.7 Seiner Familientradition folgend hatte sich auch Gunnbjörn vom Sturm treiben lassen, über Island hinaus, und dort im Westen Schären im Meer gesehen, die ihn folgern ließen, dass es jenseits davon auch Land geben müsse. Diese bis heute sogenannten »Gunnbjarnarsker« wurden lange vage irgendwo nahe der Region um Ammassalik in Südostgrönland lokalisiert, doch der kanadische Wissenschaftler Waldemar Lehn hat überzeugend dargelegt, dass Gunnbjörn fast sicher eine Manifestation dessen sah, was die Nordmänner hillingar nannten – eine Luftspiegelung der grönländischen Küste in Richtung Island, die aufgrund scharf abgegrenzter Temperaturinversion durch Brechung des Lichts an einer atmosphärischen Schichtung entsteht.8 Das Phänomen ist in diesen nördlichen Gewässern nicht ungewöhnlich. (Niemand Geringeres als der Entdecker Robert Peary berichtete von seiner Arktisreise des Jahres 1906, er habe eine gewaltige Landmasse, der er den Namen »Crocker Land« gab, am Rand des arktischen Ozeans erblickt. 1913 stellte dann die Crocker-Land-Expedition fest, dass es sich um eine riesige »Fata Morgana« handelte. Als erfahrener Seemann in nördlichen Meeren hatte Gunnbjörn zweifellos schon zuvor solche Luftspiegelungen als Vorboten einer echten, weiter entfernt liegenden Küste gesehen. Eirik vermutete offenbar Ähnliches, denn er fuhr immer weiter nach Westen, ohne Sorge, dass er die »Schären« verpasst haben könnte, bis er die riesige Landmasse der größten Insel der Welt erreichte.