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Das geografische Wissen des Mittelalters

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Wie bereits im Kapitel »Zu den Quellen« erwähnt, stammt unser Wissen über Eiriks Unternehmen aus der »Saga von Eirik dem Roten«, der »Saga von den Grönländern« und Aris Íslendingabók. Generationen von Historikern und Archäologen haben diese Quellen immer wieder für ihre Analyse der Geschehnisse herangezogen.

Aris gedrängte, aber sachgerechte Überblicksdarstellung hebt sich dabei wohltuend vom doch sehr fantasievollen Bild der nordischen Grönländer, das Adam vom Bremen entwarf, ab. Adam erwähnt Eirik den Roten und seinen Kreis mit keinem Wort, und doch orientierten er und der isländische Historiker Ari sich an einigen wichtigen kosmografischen Konzepten, die offenbar auch Eirik dem Roten und seinen Seefahrern bekannt waren. Adam hatte zwar nur begrenzte Informationen vom dänischen König Svein erhalten, doch sie reichten aus, um sich zumindest näherungsweise Grönlands Lage auf der Erdkugel als eine Insel westlich von Island zu vergegenwärtigen. Amerika und der Pazifik waren damals noch nicht entdeckt, und so lokalisierte Adam Grönland vor der eurasischen Nordostküste, aber immer noch um einiges näher an bekannten Weltregionen als sein »zweites Thule«.1 Letzteres lag offenbar am theoretischen nördlichen Scheitelpunkt, den Ptolemaios und andere antike Mathematiker ins Spiel gebracht hatten. In Eiriks Denken über die Nordmeere, auf denen er segelte, hat diese Zuschreibung wohl kaum Eingang gefunden, obwohl er andere geografische Vorstellungen mit Adam und seinen Zeitgenossen teilte.

Adams Denken entsprach ganz und gar den geografischen Theorien des Mittelalters, die man in guten Teilen von der Antike ererbt hatte und in denen der amerikanische Kontinent und der Pazifische Ozean nicht vorkamen. Weil man glaubte, dass Ostasien mit Ostafrika verbunden und der Indische Ozean damit eine Art Binnenmeer sei, lag diesen Vorstellungen zufolge nur der Atlantik zwischen der Ost- und der Westküste einer gewaltigen, drei Kontinente umfassenden Landmasse. Mittelalterliche Kosmographen zeichneten allerdings großzügig Inseln vor beiden Küsten ein und räumten kaum bekannten Orten gern Inselstatus ein. Deshalb waren Grönland und Island ebenso wie Vínland, das die Normannen angeblich jenseits von Grönland gefunden hatten, für Adam asiatische Inseln. Eine ähnliche Vorstellung tauchte fast zwei Jahrhunderte später auch in der Historia Norvegiæ auf, deren Autor erklärte, dass Grönland sich die ganze Strecke [d.h. entlang der ostasiatischen Küste] bis zu den »afrikanischen Inseln« hinziehe – Inseln, die sich vor einem verbundenen Ostafrika und Ostasien in Richtung Norden ausdehnten.2

Adams geografische Vorstellungen kann man nur verstehen, wenn man sich bewusst macht, dass die mittelalterlichen runden mappaemundi zeichnerische Kunstgriffe waren, um eine runde Welt auf der Fläche darzustellen. Es ist deshalb falsch, anzunehmen, dass Adam und seine Zeitgenossen sich die Welt als Scheibe vorstellten – diese Ansicht kam erst im 19. Jahrhundert in Mode und ist in bestimmten Kreisen noch heute verbreitet (vgl. hierzu ausführlich Kapitel Fünf). Doch Forscher, die sich mit historischer Kartografie beschäftigen, sind sich heute sicher, dass das Wissen um die Kugelform der Erde bereits in der Antike aufkam und danach nie wieder ganz in Vergessenheit geriet.3 Ein Europäer des Mittelalters, der sich im Geiste auf die Reise machte und den Atlantik Richtung Westen überquerte, erwartete, früher oder später wieder auf Land zu stoßen, und hielt diese ferne Küste für den äußersten Osten Eurasiens. Wie selbst die frühesten literarischen Werke Islands und Norwegens andeuten, teilten gut informierte Menschen im hohen Norden, darunter auch Eirik der Rote und seine Männer, diese Weltsicht. Die Nordmänner segelten vor tausend Jahren kühn immer weiter auf den Atlantik hinaus, voller Zuversicht, dass sie schon nicht über einen imaginären »Rand« hinabstürzen würden, wenn sie Island als Trittstein auf dem Weg nach Grönland und Nordamerika benutzten.

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