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2 In den Weiten des Nordmeeres
Die Tausendjahrfeiern zu den Entdeckungsreisen der Wikinger im Jahr 2000 haben im Bewusstsein der Öffentlichkeit einmal mehr das Bild heraufbeschworen, dass damals, um das Jahr 1000 herum, blutrünstige Seefahrer aus dem hohen Norden ausschwärmten, um die wehrlosen Europäer auszuplündern und zu überrennen, bis sie schließlich in den Indianern ebenbürtige Gegner fanden. Das ist sicher eine faszinierende Vorstellung, die jedoch dem vielschichtigen Charakter der mittelalterlichen Nordmänner in keinster Weise gerecht wird.
Die Begriffe »Nordmann/Normanne« und »Wikinger« werden oft ebenso wenig differenziert wie die nordischen Länder selbst. Die Wikingerzeit umfasst grob gesagt die Spanne vom Ende des 8. Jahrhunderts bis etwa 1050–1100 n. Chr. Die Wikinger waren ganz sicher Nordmänner, doch nicht alle Menschen aus dem Norden waren Wikinger. Wir werden uns hier vor allem mit denjenigen nordischen Gesellschaften befassen, die in der norwegischen Kultur wurzeln, nicht mit der Gruppe norwegischer, schwedischer und dänischer Krieger, die als gewalttätige Piraten, Plünderer und Brandschatzer unter dem Namen »Wikinger« bekannt sind. In Anbetracht der unterschiedlichen geografischen und topografischen Umstände, die im Mittelalter die Binnenwirtschaft jedes Landes ebenso prägten wie dessen Beziehungen zu den Nachbarregionen, entwickelten sich die Geschichte und die Kultur Norwegens, Schwedens und Dänemarks schon früh sehr unterschiedlich. So unternahmen hauptsächlich Schweden und Finnen die nordischen Expeditionen nach Osten, über Ostsee und Weißes Meer hinweg auf den gewaltigen Flüssen bis weit nach Russland hinein, während an den Unternehmungen Richtung Westen vor allem Männer aus Norwegen, besonders aus Westnorwegen, und Dänemark beteiligt waren.
Die meisten Nordmänner verdienten sich ihren Lebensunterhalt nicht mit Beutezügen – selbst damals nicht, als die Piraten aus dem hohen Norden dank ihrer überlegenen Schiffe und ihrer erstklassigen Seemannskunst die Menschen in ihrer skandinavischen Heimat und jenseits davon in Angst und Schrecken versetzten. Sie lebten vielmehr von Ackerbau, Fischfang, Jagd und Handel, und einige nutzten ihre seemännische Überlegenheit, um neues Siedlungsland zu erschließen. Auf der ständigen Suche nach einem besseren Leben sondierten Piraten wie Nicht-Piraten neue Regionen der Welt und kappten die Wurzeln zu ihrer alten Heimat. Frauen und Kinder kamen nur dann mit auf die lange Reise, wenn dahinter das Ziel stand, eine neue Heimat zu finden; an den Beutezügen der Wikinger waren sie nicht aktiv beteiligt. Um etwa 1000 n. Chr. hatten Wikinger ebenso wie Nicht-Wikinger aus dem Westen Skandinaviens englische, irische und schottische Kolonien gegründet, zu denen auch Siedlungen auf der Isle of Man, den Hebriden, den Orkneys und den Shetlands zählten; sie hatten sich auf den Färöern niedergelassen und lebensfähige neue Gemeinden auf dem fernen Island und Grönland geschaffen. An all diesen Orten fanden Archäologen Beweise dafür, dass die Familien sich von Ackerbau und Fischfang ernährten, nicht von Diebstahl und räuberischer Erpressung.
Die meisten dieser nordischen Auswanderer werden auf immer namenlos sein, doch unter den wenigen, die durch die isländischen Sagas unsterblich wurden, ist Eirik »der Rote« Thorvaldsson bis heute eine Legende geblieben. Egal, welchen Maßstab man anlegt – die Leitung der nordischen Kolonisierung Grönlands in den letzten Jahren des 10. Jahrhunderts war ein unglaublich kühnes Unternehmen, und das Verschwinden der Siedler nach einem halben Jahrtausend unterstreicht nur noch den Eindruck einer mutigen Auseinandersetzung mit dem Unbekannten.