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Die Hofstelle Brattahlid damals und heute

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In Brattahlid haben mehrere Grabungskampagnen stattgefunden, nachdem feststand, dass die Überreste dort und nicht die großen Ruinen in Gardar zur Hofstatt Eiriks des Roten gehörten. Direkt anschließend an seine wegweisende Arbeit in Herjolfsness leitete der dänische Archäologe Poul Nørlund 1928 die ersten professionellen Grabungen in Gardar und nahm 1932 Brattahlid in Angriff. Zu seinen Entdeckungen auf Eiriks altem Gehöft zählten die Reste einer um das Jahr 1300 herum gebauten Kirche, die noch einmal den Reichtum und die fortdauernde Bedeutung des Hofes belegte. Spätere Grabungen unter diesem Bau haben ein frühes, etwa dreizehn Meter langes und acht Meter breites Gebäude zutage gefördert – vielleicht eben jenes Langhaus, das Eirik in der Frühzeit der Siedlung errichtete.26 In den letzten Jahren haben weitere Ausgrabungen mit einem ganz anderen Ansatz stattgefunden, und so kann man wohl davon ausgehen, dass bald neue Informationen zur nordischen Geschichte dieser Stätte präsentiert werden.

1961 fand ein Archäologenteam die Reste einer kleinen Kirche auf einer Anhöhe direkt südlich von Eiriks altem Gehöft. Die Ruine, die man auf die Zeit um 1000 n. Chr. datieren kann, wurde »Thjodhilds Kirche« getauft, weil ihre Lage zu der Aussage in der »Saga von Eirik dem Roten« passt, wonach Thjodhild eine Kirche in der Nähe des Hofes bauen ließ, aber nicht so nahe, dass sie die religiösen Gefühle des Heiden Eirik hätte verletzen können. Zu diesem delikaten Thema zwischen den Eheleuten berichtet die »Saga von Eirik dem Roten«, Eirik sei überaus verärgert gewesen, weil Thjodhild sich nach ihrer Bekehrung weigerte, weiterhin mit ihm zusammenzuleben. Die Überreste zeigten, dass die winzige Kirche an drei Seiten aus dicken Torfwänden errichtet war, die einen kleinen Holzbau einschlossen. Die Westwand mit der Tür bestand ganz aus Holz, die Bodenplatten aus dem lokalen roten Sandstein mit weißen Punkten. Den Bau umgab ein kleiner runder Friedhof, der offenbar vom Ende des 10. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts genutzt wurde. Man fand dort die sterblichen Überreste von 144 Menschen, darunter fünfzehn kleine Kinder und einen Mann, der noch ein Messer zwischen den Rippen stecken hatte. In einem Massengrab etwas südlich der Kirche lagen ungeordnet die Skelette von vierzehn Männern verschiedenen Alters, deren Schädel wie bei den anderen Bestattungen nach Westen ausgerichtet waren. Bei einer sorgfältigen Untersuchung dieser Knochen fand der dänische forensische Anthropologe Niels Lynnerup Hinweise darauf, dass diese vierzehn Menschen in einer Schlacht gefallen waren. Wir wissen allerdings nicht, wo oder warum sie gekämpft hatten.27

Der hufeisenförmige Grundriss der Kirche ist noch heute erkennbar, und wohl schon die erste kleine Gemeinde, die sich vor tausend Jahren dort versammelte, konnte die grandiose Sicht nach Osten über den gesamten Fjord mit seinen Eisbergen genießen. Bis vor Kurzem war dort auch noch deutlich zu erkennen, wie die Kirche und die anderen Gebäude des Gehöfts sich in die Landschaft einfügten, doch gegenwärtig finden dort große Veränderungen statt, um dem zunehmenden Tourismus gerecht zu werden. Bei meinem ersten Besuch in Brattahlid im Jahr 1987 hatte man bereits einen unaufdringlichen Gedenkstein im Zentrum der Anlage aufgestellt, doch heute blickt dazu noch eine große und auffällige Statue Leif Eirikssons herab auf jeden, der sich dem Hof über die grünen Hügel nähert. Sie ist ein Geschenk aus Seattle an Grönland anlässlich der Jahrtausendfeiern der Wikinger im Jahr 2000. Für dieses Ereignis wurden auch zwei Bauprojekte in Brattahlid in Angriff genommen, doch beide Gebäude wurden glücklicherweise so platziert, dass sie keine bekannten mittelalterlichen Grundmauern überdecken. Auf dem Gehöft selbst wurde Thjodhilds Kirche mit einem Glockenturm neben den Resten des ursprünglichen Standorts rekonstruiert, während ein wieder aufgebautes frühes Langhaus etwas näher am Zentrum des Hofes steht.

Von außen ähnelt die schlichte kleine Kirche wahrscheinlich dem Original, doch die schöne innere Ausstattung zeigt modernes Kunsthandwerk. Der kleine Kultraum strahlt dennoch einen Frieden und eine Ruhe aus, die die nordischen Gläubigen vor einem Jahrtausend hoffentlich genauso empfanden und die ihnen Erholung und Ablenkung von Gewalt, Sorgen und harter Arbeit bot. Die im Wesentlichen korrekte Langhaus-Rekonstruktion gibt einen so überzeugenden Eindruck von den häuslichen Lebensverhältnissen der mittelalterlichen Nordmänner, dass der Besucher nur ein wenig Fantasie braucht, um auch den Geruch von schwitzenden Leibern und feuchter Wolle, von Öllampen, in denen Walfett und Lebertran verbrannte, von gekochtem Seehund und Fisch oder von Fleisch, das über einem Torffeuer geräuchert wurde, wahrzunehmen. Diese durchdringenden, aber heimeligen Gerüche gaben den mittelalterlichen Bewohnern wahrscheinlich ein überaus angenehmes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Brattahlid wurde schließlich in wenigstens drei getrennte Höfe aufgeteilt,28 doch wir wissen nicht, ob dies aufgrund von Erbansprüchen oder durch Verkauf geschah, denn Nachrichten über Eiriks Nachfahren jenseits der Generation seiner eigenen vier Kinder und Leifs Sohn Thorkell, der in der »Saga von den Schwurbrüdern« kurz erwähnt wird, fehlen. Die archäologische Erforschung von Brattahlid und anderen bekannten nordischen Stätten in der Ostsiedlung ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen, ebenso wenig wie die Untersuchung der Westsiedlung, wo in der bisher spannendsten und größten neueren Grabung zur Erforschung des nordischen Grönlands der sogenannte »Hof unter dem Sand« freigelegt wurde. Die Ergebnisse werden noch analysiert, aber es steht schon jetzt fest, dass die archäologischen Schichten des Gehöfts mit einem Haus aus der Zeit der Landnahme beginnen, das vermutlich von einem unbekannten Zeitgenossen Eiriks des Roten errichtet wurde.29

Leif erbte sowohl Brattahlid wie auch Eiriks Position als mächtigster Häuptling in beiden Siedlungen, doch noch vor dem Tod seines Vaters hatte er sich mit eigenen Leistungen einen Namen gemacht. Durch seine riskanten Unternehmungen erwarb er sich bei der Nachwelt bleibenden Ruhm als Forschungsreisender, der über beträchtlichen Mut und herausragendes Organisationstalent verfügte.

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