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2. Der „Kunstfehler“-Begriff

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Sowohl in der medizinischen Wissenschaft als auch in Rechtsprechung und Lehre hatte sich insoweit der Begriff des „Kunstfehlers“[6] eingebürgert, hinsichtlich dessen Inhalt jedoch keineswegs Einigkeit, sondern eine geradezu verwirrende Vielfalt höchst unterschiedlicher Auffassungen besteht. So sah beispielsweise der berühmte Mediziner Virchow einen Kunstfehler nur bei Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft als gegeben an[7] und in diesem Sinne verstand ihn auch die ältere Judikatur.[8] Mezger[9] bezeichnete mit diesem Begriff dagegen jedes Verhalten des Arztes, das „rein objektiv gesehen den Regeln ärztlicher Kunst nicht entspricht, unter Einschluss bloßen Versehens oder bloßen Missgeschicks“. Andere gebrauchten das Wort Kunstfehler synonym mit „Fahrlässigkeit“[10], verbanden also „das Unwerturteil über den Arzt als handelnde Person wegen seiner subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung mit dem objektiven Sachverhalt“[11] oder bezeichneten damit nur den „schwerwiegenden“ Verstoß gegen die gebotene ärztliche Sorgfalt.

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In der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird ausdrücklich hervorgehoben, dass sich „Kunstfehler und Verschulden nicht immer decken“:[12]

„Mag auch der Arzt […] regelmäßig nur dann schuldhaft handeln, wenn er von anerkannten Regeln der Wissenschaft abweicht, so kann doch im Einzelfall ein fahrlässiges Verschulden im Sinne von § 276 BGB auch dann gegeben sein, wenn kein ärztlicher Kunstfehler vorliegt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Ansichten der Fachkreise auseinander gehen und die Regeln, gegen die verstoßen worden ist, noch keine allgemeine Anerkennung in der Wissenschaft gefunden haben. In derartigen Fällen, […] dürfen […] die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Arztes nicht überspannt werden“.

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Obwohl die herrschende Lehre inzwischen unter Bezugnahme auf Eb. Schmidt[13] ausdrücklich betont, dass „Kunstfehler“ kein juristisches Werturteil, sondern lediglich die Bezeichnung für einen Sachverhalt darstellt, also „der Kunstfehler als objektiver Begriff zu verstehen und scharf von seiner Bewertung als rechtswidrig und schuldhaft im Einzelfall zu trennen“ ist,[14] sollte man diesen umstrittenen Terminus trotz seiner langen Tradition wegen der Gefahr von Missverständnissen ganz aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch eliminieren.[15] Da dies jedoch angesichts der Gebräuchlichkeit des Kunstfehlerbegriffs in der Praxis nur schwer durchzusetzen sein wird, muss zumindest stets klargestellt werden, was damit gemeint ist: eine „objektiv nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft unter Berücksichtigung der erkennbaren Umstände des Einzelfalles zur Behandlungszeit“ nicht indizierte oder „nicht heilkunstgemäß vorgenommene“ Behandlung.[16]

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In diesem rein objektiv geprägten Sinn entspricht der Begriff des „Kunstfehlers“ dem des „Behandlungsfehlers“, da die Kunstregeln letztlich nichts anderes als ärztliche Sorgfaltsgebote sind, die „auf der schlichten Überzeugung und praktischen Übung einer breiten Mehrheit der Fachkollegen beruhen,“[17] also den ärztlichen Standard darstellen. Ebenso wie vom Standard ist in Ausnahmesituationen ein Abgehen von der Kunstregel erlaubt, u.U. sogar geboten, und umgekehrt können Sorgfaltspflichtverletzungen auch ohne Qualifizierung als „Kunstfehler“ auftreten, etwa in Bereichen medizinischen „Neulands“, in denen sich derartige verbindliche Kunstregeln noch nicht herauskristallisiert haben. Da es somit Sorgfaltsverletzungen gibt, die nicht Kunstfehler sind, und Verstöße gegen Kunstregeln, ohne dass eine Pflichtwidrigkeit vorliegt, ist die Gleichsetzung beider Begriffe unrichtig[18] und daher ein weiterer Grund, ausschließlich den Terminus „Behandlungsfehler“ für die Verletzung des fachärztlichen Standards zu verwenden, der selbst wieder nur eine konkretisierende Bezeichnung für die tatbestandsmäßige Sorgfaltspflichtverletzung ausmacht.

Arztstrafrecht in der Praxis

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