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3. Klassifikation der Behandlungsfehler
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Es würde zu weit führen, das breit gefächerte Feld der ärztlichen Behandlungsfehler anhand konkreter Fallbeispiele im Einzelnen näher zu beleuchten.[19] Eine abstrakt-generelle Systematisierung durch Bildung von Untergruppen erscheint jedoch sinnvoll, um die Vielfalt der möglichen Pflichtverstöße übersichtlich zu veranschaulichen. Wenig ergiebig ist in diesem Zusammenhang allerdings die zeitlich-formale Differenzierung in prä-, intra- und postoperative Behandlungsfehler, zumal dabei nur die operativen Fächer – und auch diese nur in ihrem Kernbereich – angesprochen werden.
Aussagekräftiger, aber immer noch nicht konkret genug, ist die Klassifizierung von Deutsch, der „unter dem Aspekt der Art der Verfehlung“ die Nichtbehandlung, die abweichende Behandlung, die Übermaßbehandlung, den Begleitfehler und den Informationsfehler“ im „eigentlich ärztlichen Bereich“ unterscheidet und von diesem die „allgemeinen Fehlleistungen“ trennt, die „jedem anderen Berufstätigen in seinem Fachgebiet ebenso unterlaufen können“[20].
Eine anschauliche, sachbezogen-materielle Untergliederung der Behandlungsfehler für alle medizinischen Fachgebiete ergibt sich jedoch, wenn man das einschlägige Rechtsprechungsmaterial durchforstet und dabei aus den häufigsten Fehlleistungen typische Fallgruppen bildet:
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1. | Diagnosefehler, falsche Indikationsstellung.[21]Grundlage der ärztlichen Behandlung der Patienten ist die Diagnose, d.h. die Feststellung und medizinische Beurteilung gesundheitlicher Störungen und Beschwerden durch Anamnese, Untersuchung und Auswertung der erhobenen Befunde. Dabei setzt ärztliche Diagnostik im Regelfall die körperliche Untersuchung und Verschaffung eines eigenen Eindrucks vom Patienten voraus.[22] „Diagnose ist ein dynamischer Begriff, eine Funktion der Zeit und fast nie von vorneherein abgeschlossen“.[23] Da die einwandfreie Diagnose deshalb erhebliche Schwierigkeiten, vornehmlich zu Beginn und bei symptomarmem Verlauf einer Krankheit macht, ist zwischen einem „Diagnosefehler“ und einer „Fehldiagnose“ streng zu unterscheiden, d.h. „nicht jeder Diagnoseirrtum gleichsam unbesehen als haftungsbegründendes ärztliches Fehlverhalten“ zu qualifizieren.[24] Denn eine (objektiv) falsche Diagnose beruht nicht stets auf einer fehlerhaften Diagnosestellung, oder anders formuliert, nicht jede sich ex post als falsch erweisende Diagnose ist unter Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfaltspflicht zustande gekommen. Die Indikationsstellung zur Operation unter der Ex-ante-Annahme einer akuten Appendizitis auf Grund des klinischen Gesamteindrucks z.B. muss daher nicht fehlerhaft sein, selbst wenn es sich objektiv im Nachhinein um eine Fehldiagnose handelte.[25] Auch die Rechtsprechung erkennt diese Tatsache an: |
„Irrtümer bei der Diagnosestellung kommen in der Praxis häufig vor; sie sind oft nicht einmal die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes“, da „die Symptome der Erkrankungen nicht immer eindeutig sind, sondern auf die verschiedensten Ursachen hinweisen können“ und die vorläufige Diagnose daher „mit hohen Unsicherheitsfaktoren belastet“ ist.[26] „Jeder Patient kann wegen der Unterschiedlichkeit des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen“.[27] Der Arzt muss „in ein Erkenntnis-dunkel hinein therapieren“.[28] Tröndle[29] hat deshalb zutreffend darauf hingewiesen, dass es eine absolut sichere Diagnose nicht gibt, sondern nur eine mehr oder weniger richtige Erkenntnis des Krankheitsbildes. Wegen des dem Arzt im Bereich der Diagnose zustehenden weiten Beurteilungs- und Bewertungsspielraums erlaubt nach ständiger Rechtsprechung ein Diagnoseirrtum „nicht einmal den verlässlichen Schluss auf eine einfache Fahrlässigkeit,“[30] stellt also regelmäßig keinen Behandlungsfehler dar,[31] und eine Fehlinterpretation von Befunden ist nur bei einem „fundamentalen Irrtum“ als „grober“ Pflichtverstoß zu qualifizieren.[32] Bei der Annahme eines Behandlungsfehlers ist also Zurückhaltung geboten,[33] die „Messlatte, von der ab ein Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu gelten hat, liegt besonders hoch“.[34] |
Im diagnostischen Bereich rechtfertigt sich der Vorwurf schuldhaften ärztlichen Verhaltens damit nur dann, • wenn der Arzt ein eindeutiges, klares Krankheitsbild infolge Unachtsamkeit oder mangels ausreichender Erfahrung verkennt bzw. Krankheitserscheinungen in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise deutet (also bei medizinisch gänzlich unhaltbaren Fehleinschätzungen = fundamentalem Irrtum), • wenn elementare Kontrollbefunde nicht oder zu spät[35] erhoben werden oder • wenn der Arzt es unterlässt, eine vorläufige Diagnose im Zuge der weiteren notwendigen Behandlung oder Untersuchung zu überprüfen.[36] Dabei ist „auf den Einzelfall und das konkrete Beschwerdebild, so wie es sich dem Arzt darstellte“, also aus der Sicht ex ante abzustellen.[37] Der Arzt muss daher nicht unbedingt sofort die richtige Diagnose stellen. Legt er jedoch als Arbeitshypothese eine Krankheit zugrunde, die differenzialdiagnostisch nach den Ergebnissen der körperlichen und medizinisch-technischen Untersuchungen sogar auszuschließen oder höchst unwahrscheinlich ist, und geht er dem Verdacht auf eine andere, naheliegende Krankheit nicht nach, so handelt er fehlerhaft.[38] Gleiches gilt, wenn er bei unklarer Diagnose seinen Überlegungen nicht die vital bedrohlichste Erkrankung zugrunde legt.[39] Hat der Arzt dagegen die medizinisch gebotenen Befunde erhoben und „die notwendigen abklärenden Maßnahmen“ ergriffen oder „durch einen kompetenteren Spezialisten vornehmen lassen“, scheidet ein Diagnosefehler aus, wenn die Beurteilung des Krankheitsbildes danach „vertretbar“ war.[40] Eine „Überdiagnostik“ in Gestalt einer für den Einzelfall sinnlosen, nur der Absicherung des Arztes dienenden schematischen Durchführung aller nur denkbaren Untersuchungsmethoden ist keinesfalls erforderlich.[41] Dies würde eine Datenflut auslösen, die die Beurteilung des Krankheitsbildes eher erschwert, abgesehen von dem unnötigen finanziellen Aufwand. Als Diagnosefehler wurden z.B. qualifiziert: • die Nichtvornahme einer Gewebeuntersuchung vor der Entfernung einer Brustdrüse,[42] • das Unterlassen eines Krebsabstrichs trotz typischer, auf eine Krebserkrankung hinweisender Beschwerden,[43] • die Nichtvornahme einer rektoskopischen/koloskopischen Untersuchung bei Darmblutungen,[44] • das Nichterkennen eines Herzinfarkts trotz deutlicher Symptome.[45] | |
2. | Kontroll- und Überwachungsfehler, z.B. durch unzureichende Überwachung der Vitalfunktionen, fehlende Schutzmaßnahmen und ungenügende Sicherheitsvorkehrungen (fehlender Einsatz eines Monitors zur Überwachung der Herz- und/oder Pulsfrequenz bei der Narkose, ungenügende postoperative Überwachung, Nichtvornahme geeigneter Maßnahmen wie Angurten, Anbringen von Gittern, kontinuierliche Beobachtung durch Sitzwache u.a.[46] bei Gefahr der Selbstschädigung). |
3. | Zurücklassen von Fremdkörpern im Operationsgebiet. Wenngleich im Operationsfeld versehentlich zurückgelassene Fremdkörper heutzutage gegenüber früher angesichts der verbesserten Ausstattung der Operationssäle und der operativen Technik sowie der modernen Anästhesieverfahren und möglichen Sicherungsvorkehrungen seltener geworden sind, ist dieses Ereignis – „der Albtraum eines jeden Chirurgen“[47] – dennoch nach wie vor ein „aktuelles Problem“, mit dem etwa „einmal auf 2.000 bis 5.000 Operationen zu rechnen ist,“[48] nach amerikanischen Angaben beträgt die Inzidenz sogar 1:1.500 Operationen. Bei den vergessenen Gegenständen, die zu erheblichen Gesundheitsschäden und auch zum Tod des Patienten führen können, handelt es sich in den weitaus meisten Fällen um Bauchtücher, Kompressen, Mulltupfer und Tampons.[49] Umstritten ist in der medizinischen Wissenschaft, ob das Zurücklassen eines Fremdkörpers während einer Operation regelmäßig als Sorgfaltspflichtverletzung zu werten ist. Während Stich[50] dazu noch meinte, dies könne „sub operatione“ sich als „unglücklicher Zufall trotz reicher Erfahrung, einer vorzüglichen Technik, der größten Gewissenhaftigkeit und Vorsicht des Operateurs und eines gründlich geschulten Hilfspersonals auch bei Chirurgen ersten Ranges ereignen“, sieht Schmauss „bei regelrecht verlaufender Operation und komplikationsfreier Narkose“ das unabsichtliche Zurücklassen eines Fremdkörpers „immer“ als Verstoß gegen die vom Operateur zu fordernde Sorgfalt an. „Auch intraoperativ aufgetretene Komplikationen wie eine stärkere Blutung oder ein Herz-Kreislauf-Versagen könnten dann, wenn nach ihrer Behebung die Operation planmäßig zu Ende geführt wird, in der Regel nicht als Rechtfertigung dienen“.[51] Rechtsprechung und Lehre sind dieser strengen Linie nicht gefolgt. Der BGH bestätigte in einer Vielzahl von Entscheidungen, dass man beim Zurückbleiben „von Fremdkörpern in einer Operationswunde“ nicht „ganz allgemein und stets einen schuldhaften Kunstfehler unterstellen“ könne.[52] Perret[53] fasst das Ergebnis der höchstrichterlichen Judikatur deshalb bis heute zutreffend zusammen, wenn er schreibt: |
„Die Rechtsprechung hat bei allen diesen versehentlich zurückgelassenen Mulltupfern, Mullkompressen, Bauchtüchern, Drains, Streifen immer wieder darauf hingewiesen, dass nicht schlechthin nach den Regeln des Anscheinsbeweises auf eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht geschlossen werden könne, es vielmehr immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalles ankomme“. |
Entscheidend ist deshalb nicht nur, welcher Art der zurückgebliebene Gegenstand war[54] – „es gibt eine Reihe, deren Verschwinden man nicht bemerken kann, und eine Reihe, deren Fehlen man unbedingt bemerken muss“[55] –, ob besondere Umstände oder Zwischenfälle während der Operation eintraten, um welches Operationsgebiet es sich handelte und wie die Operationsbedingungen waren, sondern vor allem, ob der Operateur alle in der medizinischen Wissenschaft ausführlich dargestellten[56] „möglichen und zumutbaren Sicherungsvorkehrungen gegen ein solches Missgeschick“ getroffen hat[57] und ihre Einhaltung regelmäßig kontrolliert. Dazu können „bei textilen Hilfsmitteln deren Kennzeichnung, eine Markierung, das Zählen der verwandten Tupfer und dergleichen gehören,“[58] das auf die Operationsschwester und den Springer delegiert werden darf. Insoweit gelten die Grundsätze arbeitsteiligen Zusammenwirkens zwischen Arzt und nichtärztlichem Personal.[59] Anerkannt ist auch, dass zu Beginn und „am Ende der Operation der Operateur das ganze Operationsgebiet sorgfältig überprüfen und die Operationsschwester“ ihm die „Vollzähligkeit der Instrumente, Bauchtücher und Kompressen“ mitteilen muss,[60] nachdem sie dies zuvor gewissenhaft geprüft hat. Insoweit bedarf es einer klaren Aufgabenzuweisung an die Schwester (Zählkontrolle) durch den Arzt und dessen konkreter Frage. Hat der Chefarzt die notwendigen Organisationsmaßnahmen gegen das Zurückbleiben von Fremdkörpern im Operationsgebiet eingerichtet, kann ihm kein Vorwurf gemacht werden, auch wenn ein Patient infolge eines zurückgebliebenen Fremdkörpers Schaden erleidet.[61] Lässt sich dagegen nicht feststellen, dass die notwendigen Sicherungsmechanismen (z.B. gegen das Absinken des Drainagestreifens in die Operationswunde) getroffen wurden, liegt ein Behandlungs- und Organisationsfehler vor.[62] Das AG Leer verurteilte deshalb den angeklagten Chefarzt wegen fahrlässiger Tötung in einem Fall, in dem es wegen eines vergessenen OP-Tuches zu einer schweren tödlichen Infektion (Peritonitis) gekommen war, weil er sich „nach der Bauchoperation nicht allein auf das Nachzählen der OP-Tücher hätte verlassen dürfen“, sondern „vor Verschließen der Wunde noch einmal selbst die Bauchhöhle hätte sorgfältig kontrollieren müssen“.[63] | |
4. | Fehlende oder unzulängliche Voruntersuchung bzw. Anamnese. Welch hohen Stellenwert die Rechtsprechung der gründlichen Voruntersuchung beimisst, zeigt schon der Leitsatz einer frühen BGH-Entscheidung: „Mängel der ärztlichen Ausbildung, schlechte Vorbilder und fehlende Erfahrung entschuldigen u.U. ärztliche Kunstfehler, aber nicht: Eingriffe ohne eigene Diagnose“.[64] |
5. | Nichterhebung von Befunden (Labor, Röntgen, Blutzuckerkontrolle u.a.), die für Diagnose und/oder Therapie wichtig sind (siehe auch schon zum Teil Rn. 167 und 169).[65] Im Unterschied zu einem solchen Befunderhebungsfehler liegt ein Diagnoseirrtum (Diagnosefehler) vor, „wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift“.[66] |
6. | Falsche Methodenwahl. Allgemein gilt, dass der Arzt unter mehreren medizinisch anerkannten Heilverfahren dasjenige wählen muss, das „die geringste Gefahr für den Patienten mit sich bringt“ und ihm die wenigsten Schmerzen bereitet. Der Arzt verstößt somit gegen das „Prinzip des sichersten Wegs“, wenn er sich für das größere Risiko oder das mit größeren Schmerzen verbundene Verfahren entscheidet, obwohl unter Abwägung aller Umstände, insbesondere der spezifischen Vor- und Nachteile der jeweiligen Maßnahme, „ein weniger gefährliches Vorgehen den Zweck in etwa gleicher Weise“ erfüllt hätte.[67] |
7. | Verstöße gegen die Pflicht zur therapeutischen Aufklärung,[68] Beratungs- oder Hinweisfehler (z.B. nicht zu rauchen, Diät halten, nicht schwer zu tragen, die Thromboseprophylaxe fortzuführen sowie fehlende bzw. falsche Ratschläge und Empfehlungen). |
8. | Fehlerhafte Medikation, Unter- und Überdosierung, Arznei- oder Personenverwechslungen (z.B. Vornahme einer Myelographie mittels Urographin anstelle des sonst gebräuchlichen Kontrastmittels Abrodil; zu rasche Infusion von Succinylcholin; 10 mg Methotrexat täglich anstatt 1 wöchentlich; unzulässiger Gebrauch von Cergem zur Geburtseinleitung, obwohl nur auf das Vorgehen „wie bei Cergem“ hingewiesen worden war und Minprostin gegeben werden sollte; Fehltransfusion durch ungenaue Schreibweise eines verwechslungsfähigen Namens).[69] |
9. | Verstoß gegen Hygienebestimmungen (z.B. Verwendung eines vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht geprüften und für wirksam befundenen Mittels für die präoperative Haut- und Händedesinfektion; Benutzung eines unreinen Desinfektionsmittels,[70] kein Mundschutz bei Durchführung einer Injektionsbehandlung).[71] |
10. | Nichterkennen einer Komplikation (z.B. eines Bronchospasmus, der Fehllage des Tubus, eines hohen Blutverlustes). |
11. | Fehlerhafte Operations- bzw. Reanimationstechnik (z.B. Perforation der Trachea; Läsion des Nervus accessorius; Luftröhrenschnitt unterhalb der 12. Trachealspange; Verletzung der Dura bei einer Schädeltrepanation, weil kein ausreichender Sicherheitsabstand zur Scheitelnaht eingehalten wurde; Darmperforation bei der Rektoskopie; zu enge Bassini-Naht bei der Leistenbruchoperation; Intubation in die Speise- statt in die Luftröhre). |
12. | Lagerungsfehler (z.B. infolge Überstreckung und Druck auf die Extremitäten).[72] |
13. | Geräte- und Bedienungsfehler (z.B. bei der Bedienung einer Autotransfusionspumpe oder des Beatmungsgerätes infolge falscher Stellung des Einstellhebels oder fehlender Einweisung; kein Monitoralarm infolge eines Gerätedefekts oder Verklebung des Geräts wegen mangelnder Wartung). |
14. | Fehlerhafte Vornahme von Injektionen, Infusionen und Transfusionen. |
15. | Unterlassung unverzüglicher Krankenhauseinweisung, zu späte Hinzuziehung eines Konsiliarius (Facharztes), zu frühe Verlegung vom Aufwachraum auf die Normalstation. |