Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 11
Kapitel 8
ОглавлениеLangsam wurde Eric der Raum um sich herum bewusst. Seine Augen waren geöffnet, doch erst jetzt konnte er etwas sehen. Das leise, unheimliche Knistern der feuchten Erde in einem der Blumentöpfe holte ihn vollends zurück, als er sich träge daran erinnerte. Eric setzte sich auf. Sein Kopf fühlte sich schwer an, er fasste sich an die Stirn. Ein Verband mit Kühlpäckchen. So hatte Mia ihn ausschlafen lassen. Er wickelte die erhitzten Beutel ab und legte sie neben sein Lager, setzte sich seitlich hin und schlug die Decke zurück. Es musste Abend sein, denn aus dem Essraum drangen sehr leise die Gespräche und das Klirren der Messer und Gabeln herüber. Das späte Sonnenlicht, welches durch das große Fenster in den Raum fiel, wirkte wärmer als sonst. Und zur Essenszeit war es normalerweise ein wenig heller. Seit wann war er in diesem Raum? Eric stand auf, streckte sich, spannte die Muskeln an und plumpste zurück auf die Matratze. Seine Glieder waren noch etwas lahm und ein unfassbarer Hunger steckte ihm tief in den Knochen, er prüfte seinen Körper. Stark und wieder leistungsfähig. Sehr sogar. Aber wie? Gedankenverloren betrachtete er seine Hände, spürte die messerscharfen Krallen des Drachen. Offensichtlich war sein Geist noch immer damit beschäftigt, beide Gestalten zusammenzubringen. Er dachte an seine erste Begegnung mit dem Drachen. Warum waren sie überhaupt getrennt? Ein betäubendes Kribbeln irgendwo im Hinterkopf ließ ihn blinzeln. Viele Fragen.
Den Pyjama, den er anhatte, kannte er nicht. Aus Baumwolle, in Rot und mit einer Mickeymaus auf dem Shirt. Eric grinste. Sicher hatte Jack den irgendwo hervorgekramt, er gehörte weder ihm noch Eric. Er saß auf der Kante der Matratze und überlegte, was sein Traum zu bedeuten hatte. Hatten sie überhaupt eine wahre Bedeutung? Er verglich ihn mit allen anderen, die er bisher gehabt hatte. Dieser war der erste, in dem er etwas von einem Wald oder einem Herrscher erfahren hatte, dem jener Wald gehören sollte. Und was war das für ein Name? Manou … Klang komisch, irgendwie altmodisch. Bedeutung? Die Gedanken des Mannes hatte er verstanden, die Sprache war nicht besonders fremd oder gar völlig unbekannt gewesen. Er konnte sich kaum an das Gesicht von ihm erinnern, dafür aber an seine Tat und das, was er in dessen Seele hatte lesen können. Wieder spürte Eric den Zorn in sich wachsen. Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte den Kerl einfach beseitigt, bevor ihn jemand fand und rettete. Vielleicht machte er so weiter, quälte im Auftrag seines Herrschers irgendjemanden oder ganz bestimmte Wesen. Er sollte sterben. Schmerzvoll sterben. Eric blinzelte und wunderte sich, dass er so dachte. Warum überhaupt? Es war nur ein Traum gewesen, was hätten seine Taten schon bewirkt? Bisher hatte er sich immer klein und hilflos gefühlt, machtlos im Angesicht von Leid und Schmerz überall auf der Welt. Jetzt aber hatte er eine Chance, mit den entdeckten Kräften etwas zu ändern. Und gleich beim ersten Kandidaten hatte er vielleicht einen folgenschweren Fehler begangen und ihn laufen lassen.
Die Tür zu Mias Büro glitt auf und Jack kam rückwärts mit einem Tablett herein. Als er sich umdrehte und Seinen Freund munter dasitzen sah, verschüttete er vor Freude ein wenig des stark duftenden Kräutertees, den Mia sicherlich für sie beide zubereitet hatte.
»Xiaolong, Bruder! Du bist wieder wach«, rief er vergnügt, zerrte den einen Klappstuhl neben die Liege und setzte sich, »wir schon Sorgen gehabt, du noch länger schlafen … verdammt lange. Guten Morgen!«
Eric bemerkte, dass ihn der Name gar nicht mehr störte, es war ihm weder peinlich noch kam es ihm angeberisch vor. Immerhin entsprach es dem, was er war. Noch jedenfalls. Bald wäre er vielleicht gar nicht mehr so klein, denn er war immer noch sechzehn, nicht erwachsen. Nicht ausgewachsen … In welcher Zeit war oder existierte eigentlich seine andere Form, der Drache? Egal, später. Eric nahm Jack das Tablett ab, lächelte ihn dankbar an und teilte ihm in Gedanken seine Freude darüber mit, ihn wiederzusehen.
»Du lange gelegen, über ein Monat. Hoffentlich wieder gesund. Jedenfalls sehen so aus. Wir verstehen nicht, wieso du nicht gestorben, aber wir überglücklich, dass du leben. Und ich dir danken! Ich glaube, du haben uns Leben gerettet.«
Eric unterbrach Jacks Redeschwall mit einer Frage, als er feststellte, dass er so gut wie keine Erinnerungen an die Zeit vor dem Traum von Manou hatte. Zwischen dem Aufeinandertreffen mit den Wächtern und jetzt gab es nur dunklen, bilderlosen Schmerz und den einen Traum.
»Wo ist Mia?«
»Küche, sicher gleich kommen. Alle anderen sind bei Abendessen. Manche dich heimlich vermissen. Jan sich ein wenig zu sicher fühlen ohne dich. Haku dich grüßen, er wollte dich mal besuchen aber es zu heiß hier drin. Sieh, Mias Pflanzen. Manche abgekratzt. Du hattest Fieber. Aber jetzt musst du ja nicht mehr in Bett liegen! Und wissen was? Ich haben Jan Nase gebrochen! Mia sauer, aber sie sich auch ein wenig freuen. Er dachte, wenn du nicht da, er sich können an mir rächen. Aber ich getan, was Mia mich gelehrt. Sie mir gezeigt, dass ich mich mit Technik verteidigen kann und dann ich zugeschlagen!«
Er hielt Eric seine Faust unter die Nase und seine Augen funkelten angriffslustig. Eric lachte bei dem Gedanken, dass Jan von seinem kleinen Widersacher eins auf die Nase bekommen hatte.
»Und was hast du mit seinen Freunden gemacht? Sie waren doch bestimmt dabei, oder?«
»Ja schon, aber Mia in der Nähe. Und ich sehr hart zugeschlagen. Erst er still, dann ganz überrascht, aber dann er wollte anfangen. Mia war die Lösung. Und nun du wieder wach, also ich denken, sie mich in Ruhe lassen. Iss, und dann anziehen, deine Sachen da auf dem Tisch. Du müssen dich waschen gehen und dann wir uns in einer Stunde treffen, damit du endlich können lernen bei Mia!«
Jack nahm einen Schluck Tee aus seiner Tasse, lachte vergnügt und flitzte aus dem Raum. Eric stand auf, nahm seine gewaschenen Sachen und machte sich auf den Weg zu den Duschen. Er hatte das Gefühl, gerade stundenlang mit Jack gesprochen zu haben. Die vielen Worte wirbelten wie Schneeflocken durch seinen Kopf. Er war froh, niemandem auf seinem Weg zu begegnen.
Ein synthetisch anmutender, lieblicher Geruch lag in der Luft. Er störte Eric, schmeckte unangenehm. Als Eric die erste Kabine öffnen wollte, fiel ihm auf, dass Jan wieder allesamt mit einer Münze abgeschlossen hatte. Er probierte jede der Türen erfolglos durch. Als er vor der letzten stand, seinem gewohnten Platz, dachte er darüber nach, was Jack in der Küche beim Abwaschen gesagt hatte. Vielleicht konnte er ja wirklich zaubern. Er sah das Schloss an und stellte sich vor, wie es sich drehte und die Tür mit einem leisen Klicken aufging. Nichts passierte. Eric seufzte und spürte, wie sich sein Inneres beruhigte. Nicht der Rede wert, Jan war eben ein Idiot. Er sah das Schloss wieder an. Aufgeben? Niemals! Er schloss die Augen und wartete, bis er das Bild der Mechanik im Plastikschloss vor sich sehen konnte. Dann bewegte er in Gedanken den Stift nach links, der die Tür versperrte. In seinen Gedanken schwang die Tür auf, aber er wusste nicht, wie es wirklich aussah. Eric holte tief Luft, öffnete die Augen und begab sich verblüfft und überrascht in die kleine Kabine. Als er seine Sachen in der Plastiktüte ins Waschbecken legen wollte, bemerkte er etwas auf dem Spiegel, als er ihn mit dem Blick streifte. Er sah genauer hin und das Herz wollte ihm stehenbleiben. Mit roter Schrift stand da geschrieben:
Wir kriegen dich und deinen kleinen Freund! Schaue ihm beim Sterben zu!
Eric dachte schnell nach. Das klang zwar wie eine Drohung, doch er spürte keine Warnung in sich und hatte nicht das kribbelnde Gefühl, sich in Sicherheit bringen zu müssen. Er strich langsam mit der Hand drüber und die Schrift verwischte. Er roch an der Farbe. Lippenstift, Erdbeere. Der Urheber des störenden Aromas in der feuchten Luft. Seine Muskeln entspannten sich. Ein Wächter würde wohl kaum mit Lippenstift geschmückt durch die Gegend fliegen und ihm dann sowas auf einen Spiegel schreiben. Eric wusste schon während er sich die Frage stellte, dass es Jan und dessen Freunde gewesen waren. Und Ingrid hatte den Lippenstift gespendet, nur sie hatte solche knalligen Farben im Gesicht. Er atmete tief durch, drehte den Wasserhahn voll auf, ließ sich das erfrischende, warme Nass gefallen. Jan … Der konnte was erleben, wenn er ihm das nächste Mal über den Weg lief.
Frisch gewaschen und guter Dinge machte sich Eric auf den Weg zu Mias Büro. Er freute sich richtig auf seine erste Unterrichtseinheit, Jack wartete schon.
»Yo! Endlich. Ich schon gedacht, du vergessen! Findest du, ich sein in letzter Zeit gewachsen?«
Eric wunderte sich über die Frage. Er betrachtete Jack eingehend, dann meinte er:
»Vielleicht etwas, ja. Jedenfalls eher als geschrumpft.«
Jack lachte gefälscht. Dann klopfte er an Mias Bürotür und öffnete sie. Mia stand schon hinter ihrem Schreibtisch, mit einem Schlüsselbund in der Hand und auf sie wartend hatte sie gerade noch schnell ein paar der Pflanzen gegossen, welche Erics Fieber überlebt hatten.
»Gut, ihr seid pünktlich. Wir werden einen kleinen Ausflug machen und zwar in den Wald, wo ihr euch letztes Mal so vergnügt habt.«
Jack sah Eric fragend an, der zuckte mit den Schultern und beide folgten ihrer Lehrerin bis vor die Haustür, wo sie sich umdrehte und diese verschloss. Mia zeigte die Straße hinunter in Richtung der Sportplätze. Eric sah einen schmalen Verband an ihrer linken Hand, erkannte den Geruch einer ihrer Salben.
»Mia, was ist mit deiner Hand?«, fragte Eric wie automatisch, bevor er sich überhaupt fürs Nachfragen entschieden hatte. Mia sah ihn kurz an.
»Ich habe mich verbrannt. Ist nicht weiter schlimm, mach dir keine Sorgen.«
Eric nickte nur, betrachtete nachdenklich das neue Fenster in der Haustür. Als ihm der Geruch der Teerstraße in die Nase stieg, blinzelte er unwillkürlich und spürte einen merkwürdigen Druck im Gesicht. Etwas in ihm wurde unruhig und wollte hier nicht stehenbleiben. Die Erinnerungen an die zwei Wächter kamen zurück.
»Da lang, ich nehme an, du brauchst mehr Platz als hier. Ihr seid doch auf dem Tennisplatz gelandet?«
Eric reagierte verzögert, vertrieb die eisigen und schmerzhaften Erinnerungen und sah sie verlegen an. Woher wusste sie das? Er hatte ihr weder in Gedanken noch anders davon erzählt. Sie gingen in der Dämmerung zu den Tennisfeldern, die abgesehen von einem Fußballplatz und einem riesigen Komplex aus Sporthallen, Fitnessstudios und Sportbars das Einzige in dieser Stadt waren, wo sich jeder uneingeschränkt austoben konnte. Oder eben unentdeckt etwas anderes tat. Drogen dealen, kleine Bandenkriege austragen oder sich wie Eric versteckt in einen Drachen verwandeln. Als sie einige Minuten später auf dem Tennisplatz standen, umringt von völlig menschenleeren Nachbarfeldern, sah sich Eric um. Auf der anderen Seite des Netzes waren selbst nach so langer Zeit immer noch Abdrücke und Spuren von etwas ziemlich Großem zu erkennen. Offensichtlich war dieses Feld nicht benutzt worden. Mia sah auf die Uhr, schließlich in Erics müdes Gesicht.
»Sei nicht so schüchtern, mach schon! Nur, weil ich deine Lehrerin bin, heißt das noch lange nicht, dass du nicht mächtiger sein darfst als ich! Worauf wartest du noch?«
Eric wunderte sich schon gar nicht mehr darüber, dass Mia seine Gedanken immer richtig verstand. Er konzentrierte sich und bereits nach ein paar Atemzügen stand er wieder als Drache vor ihnen. Er bemerkte sofort, dass es bei jeder Verwandlung etwas schneller und leichter ging.
»Tja, Übung macht den Meister!«, hörte er Mia von unten nach oben rufen. Sie klang abwesend und Eric meinte, eine Art Schrecken in ihrer Stimme zu erkennen.
»Donnerwetter, du bist ja wirklich ein Prachtexemplar. Ich glaube, du wirst für viel Aufsehen sorgen, wenn ich dich den Meistern vorstelle. Aber dazu ist es ja so oder so noch zu früh …«
»Welche Meister?«
Mia und Jack zuckten zusammen, Erics tiefe Stimme in ihren Gedanken und ein kurzer, lauter Ton aus seiner Kehle hatten sie erschreckt.
»Du solltest dich besser nur in Gedanken mitteilen, sonst werden wir doch noch entdeckt. Und jetzt lass uns aufsitzen, bitte.«
Eric senkte den Kopf und legte sich vor die beiden. Würde man sie nicht sehen? In Mias Gedanken las er, dass sie sich darum kümmern würde. Vielleicht durch Eingriffe in die Gedanken jener, welche sie tatsächlich erspähen konnten. Er sah Mia und Jack direkt vor seinem linken Auge stehen. Mia flüsterte wie verzaubert vor sich hin, beobachtete gelähmt die Pupillen in Erics Augen, welche exakt und ohne Verzögerung selbst auf solche Bewegungen und Veränderungen im Licht reagierten, die sie nicht einmal wahrnahm. Sie erahnte die Bewegung einer Linse in dem großen Drachenauge, welches auf sie scharfstellte. Dann zog sie zwei Mützen aus der Tasche, die sie bei sich hatte.
»Hier, Jack. Damit dir deine Ohren nicht so wehtun.«
Sie gab Jack eine Mütze, wandte sich wie verzaubert wieder dem Auge zu und sah direkt hinein. Eric ließ es geschehen, versuchte nicht, sie mit seinem Blick zu lähmen. Es ging ihn nichts an, was sie dachte. Und doch erkannte er sofort, dass es sich für sie anfühlte, als stünde sie vor einem gewaltigen Feuer, dem sie sich weder entziehen noch verwehren konnte. Schließlich setzte sie zögerlich und mit einem merkwürdig langsamen Blinzeln ihre Mütze auf und beide trampelten ihm übers Gesicht, bis sie ihm buchstäblich im Nacken saßen und sich an zwei seiner langen Hörner festklammerten. Dann stieß er sich ab, Mia entfuhr ein kleiner Freudenschrei und schon fegte er über das Sportparadies hinweg, den roten Sand auf den Tennisplätzen aufwirbelnd, über die nächste Straße, über das Fabrikgelände und schließlich aus der Stadt hinaus in Richtung Felder und Wald.
Jack machte dieser Flug deutlich mehr Spaß, da er einen Schutz für seine Ohren hatte. Mia und er genossen den halsbrecherischen Geschwindigkeitsrausch, bereits nach kaum fünf Minuten sahen sie unter sich die große Wiese und den Waldrand.
»Flieg ruhig weiter, du kannst auf der Lichtung landen, die ich euch zeigen will!«, brüllte Mia gegen den tosenden Wind. Jack fühlte sich stolz, auf einem schwarzblauen Drachen übers Land zu jagen und er genoss es, alles aus der Vogelperspektive sehen zu können. Und sie froren auch nicht, da Eric wie immer eine gewaltige Menge Hitze ausstrahlte. Eric machte sich Sorgen. Er berechnete ihre Geschwindigkeit und ihm selber war gar nicht klar, wie brutal der Wind für seine Passagiere sein musste. Aber Mia beruhigte ihn mit einem munteren Gedanken. Sie hielten sich gut fest und hinter Erics Kopf war es gerade noch erträglich.
Als Eric in der Ferne einen See erspähte, dachte Mia, dass er gleich landen müsse. Schon kurze Zeit später sah er die große Lichtung und bremste stark ab. Schließlich segelten sie langsam in großen Kreisen nach unten und er landete weich auf dem mit Blättern und Zweigen bedeckten Moosboden, wo seine gewaltigen Fänge tiefe Abdrücke hinterließen. Der See schimmerte schwach zwischen den Bäumen hindurch. Es roch angenehm nach feuchter Sommerluft und langsam wurde es ein wenig dunkler. Eric ließ Mia und Jack absteigen. Denen zitterten die Knie, beide hatten ein merkwürdiges Klingen in den Ohren, welches langsam nachließ. Eric verwandelte sich mit einem leisen und zufriedenen Knurren zurück, stand auf, klopfte sich die Erde von der Hose und sah die beiden an.
»War ich zu langsam?«
»Nein, eher zu schnell«, sagte Mia freudig, »ich denke, was das Fliegen angeht, kannst du dich auf dich verlassen. Bist du müde?«
»Nein, aber ich schwitze ein wenig.«
»Gut, dann lasst uns weitergehen, wir haben nur ein paar Stunden.«
Sie stapften durch das hohe Gras, tauchten unter tiefhängenden, duftenden Tannenästen hindurch und zählten die Fledermäuse, welche sich jetzt vermehrt zur Jagd aus ihren Verstecken wagten. Eric hörte ihre Rufe und wie sie ihren Ultraschall benutzten. Es war ihm ein wenig unheimlich, dass er sie präzise orten konnte und er hatte auf einmal das Gefühl, sie würden von den kleinen Tieren verfolgt und geprüft. Die altbekannte Illusion, dass ein Wald nachts stiller wurde, löste sich schnell auf. Wo Leben war, gab es keine Stille. Als sie sich an der letzten Baumgruppe vorbei geschlichen hatten, tauchte der See vor ihnen auf. Wie ein großer, glänzender Spiegel mit kleinen Wellen darauf erstreckte er sich bis zum Horizont. Der aufgehende Mond spiegelte sich auf dem Wasser, die langen Schilfrohre in Ufernähe wiegten sich ruhig und im Takt bei jeder warmen Windbrise. Mia stellte ihre Tasche ab und setzte sich auf den Boden. Wortlos taten Eric und Jack es ihr gleich. Als Eric die Gestalt eines merkwürdig bizarren Baumes erkannte, setzte ihm für ein paar Sekunden fast der Atem aus. Es war ein großer, alter Baum, direkt am Ufer. Sein Stamm war leicht geneigt und die Krone hing ein paar Meter weit über das Wasser. Und etwas hatte einen der dicksten Äste abgerissen, die Verletzung war voller Harz und roch wunderbar … Bevor Mia und Jack sein Erstaunen und den Grund dafür erkannten, wandte er sich wieder ihnen zu.
Jetzt saßen sie in einem kleinen Dreieck, jeder sah die Anderen an.
»Das Erste, was ich dir zeigen will, ist die Meditation. Ich denke, dass du nicht lange brauchen wirst, um sie zu erlernen, da Konzentration der Schlüssel dazu ist. Wer willensstark ist, der wird da nicht so viele Probleme haben. Jack kann es schon, er kann sich ausruhen. Danach verlange ich, dass du lernst, Dinge mit deinen Gedanken zu bewegen. Das Türschloss an der Duschkabine war schon nicht schlecht, aber du solltest noch viel weiter gehen. Es könnte dir einmal das Leben retten. Du kannst dich auch hinlegen, wenn du magst. Konzentriere dich anfangs auf irgendetwas, du wirst dir sicher etwas Gutes aussuchen, dann lasse deine Gedanken einfach treiben, halte sie nicht fest. Stelle sie dir vor wie den Wind, der nie stehenbleibt, überall ist und doch gar nicht existiert. Dann erreichst du einen Zustand der Leere, vollkommener innerlicher Ruhe für den Moment. Das ist die Voraussetzung dafür, dass du Dinge bewegen kannst, ohne sie zu berühren. Jetzt lerne und übe! Wenn du nichts mehr denkst und alle Gedanken sich verflüchtigt haben, sag Bescheid.«
Mia lächelte ihn an, Jack legte sich hin. Sie holte eine Wolldecke aus ihrer Tasche und warf sie den beiden hin. Eric legte sich auf den Rücken neben Jack ins weiche, trockene Moos und deckte sie beide zu, sah zwischen ein paar Ästen die ersten Sterne aufglimmen und hörte gespannt den Schritten eines Käfers zu, welcher direkt neben seinem linken Ohr durch das Moos wanderte. Er machte die Augen zu und tat das, was er immer tat, sobald er tagsüber träumte, wenn auch sonst mit offenen Augen: Er überließ sich seinen Gedanken, ließ sie ziehen ins Ungewisse. Unvermittelt landeten sie bei jenem Baum am See, welcher wie ein mystischer Beweis für eine Verbindung zwischen Einbildung und Realität tatsächlich nur ein paar Meter von ihnen entfernt stand. Gab es überhaupt eine Trennung der zwei? Er stellte sich seine Gedanken wie die Wolken am Himmel vor, manchmal ruhig, mal turbulent, hell oder dunkel und immer in Bewegung. Nach einiger Zeit, er wusste nicht, wie lange, wurde sein einst wolkenverhangener Himmel vollkommen blau, kein Hauch von Dunst war mehr zu sehen. Er hatte fast das Gefühl, nichts mehr in sich zu haben, nie einen Gedanken entwickelt oder einen Sinneseindruck gehabt zu haben. Es war wie ein leeres Blatt schneeweißen Papieres, das neu beschrieben werden sollte. Er öffnete die Augen.
»Bin soweit«, sagte Eric leise und Mia antwortete:
»Ich habe hier einen Stein, etwa ein Kilo schwer. Sobald du ihn einen Meter über dem Boden schweben lassen kannst, darfst du mich wecken.«
Eric sah den Stein nicht an. Er glaubte Mia einfach. Seine Gedanken löschten sich wie von selbst, sobald sie gedacht waren. Er konnte von vorn anfangen, sofern er es wollte. Oder nur die Gedanken zurückholen, welche nützlich waren. Er fühlte die Masse des Steins. Es musste ein glatter Stein sein, er roch nach Süßwasser und das hieß, dass er vielleicht aus einem Fluss oder einem See stammte und dass das Wasser ihn hatte glatt werden lassen. Eric wusste nicht, ob er es zu wissen glaubte. Er hing zwischen zwei Zuständen, der völligen Gedankenlosigkeit und dem Leben. Beides war doch sehr weit voneinander entfernt, sodass sich der Stein weder in die eine noch in die andere Richtung bewegte. Es hing von seiner Entscheidung ab, ob er die Welt mit den Augen eines Menschen oder mit jenen eines besonderen Menschen sah. Er ahnte, dass er seine Kräfte immer beherrschen würde. Egal, was er damit täte. Aber falls er sie verwendete, um etwas Gutes zu tun, würde er sie vielleicht verstehen. Und das war etwas, was er schon lange gewollt hatte. Die Fähigkeit, hinter die Entscheidungen und Handlungen eines Menschen zu sehen, sie zu begreifen. Damit könnte er selbst den größten Feind besiegen. Oder vielleicht seine Träume.
Eric entschied sich für den Drachen. Den Charakter des Menschen, anfällig für Bestechung und das Streben nach zu viel, ließ er für den Moment einfach zurück. Er entschied sich für ein neues Leben, vielleicht zusammen mit Jack. Hoffentlich … In dem Augenblick, in dem er diesen Entschluss gefasst hatte, spürte er den Stein in seiner Hand. Er hob die Hand, der Stein folgte seiner Bewegung. Eric holte aus und schleuderte den Brocken mit aller Kraft hinaus in den See. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, die perfekt runden Wellen liefen lautlos und ohne Klagen auseinander. Eric hörte das Sprudeln der unter die Wasseroberfläche gerissenen Luft, dann vernahm er Mias Stimme. Sie lag ebenfalls mit geschlossenen Augen einfach nur da, dachte in Ruhe nach und verfolgte die Gedanken ihres Sohnes, sobald diese sich ein wenig öffneten.
»Kontrolle, nicht Gewalt. Du solltest ihn schweben lassen, nicht fortschleudern. Das ist einfach.«
Etwas in Eric bewegte sich mit mächtiger Kraft, als hätte Mias Kommentar ihn irgendwie provoziert.
»Kontrolle ist nicht das Problem, Mia.«, sagte Eric kühl.
Ohne Vorwarnung spürte er den See in seiner Hand. Die Masse der Milliarden Liter Wasser, den Lebensraum für unzählige Organismen. Er hob wieder langsam die Hand und das Wasser folgte seiner Bewegung. Es löste sich von seinem Becken, mitsamt allem Inhalt. Ein heftiger Windstoß begleitete das dumpfe und saugende Geräusch der Luft, welche urplötzlich und gewaltsam aus allen Richtungen zwischen Boden und Seewasser gezogen wurde und wie ein Sturm zur Mitte des Beckens rauschte, um den Naturgesetzen der Balance folgend jeden Raum zu füllen, der vorher vom Wasser eingenommen war. Nichts konnte wirklich leer sein, zumindest nicht hier. Eric schmunzelte. Was wäre, wenn die Finsternis nicht leer wäre und das Nichts kein Nichts, sondern nur eine Illusion, in welcher sich etwas anderes versteckte?
Im Mondlicht konnte man die Fische und alle anderen Tiere wie in einem monströsen Aquarium fast zehn Meter über dem Boden schweben sehen, Erics Augen erfassten unzählige winzige Organismen und Teilchen. Er erkannte ein merkwürdiges Gebilde an der Stelle im Wasser, an welcher die von allen Seiten einströmende Luft zusammengeschlagen und nach oben vorgestoßen war, in die gewaltige Wassermenge hinein. Ein kochender Pilz aus wirbelnden Luftblasen sprudelte wie schwerelos umher. Mitgerissener Sand, Steine und Pflanzen färbten die kleine Explosion in den Farben der Erde, schimmerten im Mondschein.
Erschrocken von dem kurzen, unnatürlichen Wind und den Geräuschen, richtete sich Mia auf, während das Echo des lauten Sauggeräusches langsam verhallte. Sie traute ihren Augen nicht, stellte sich sofort hin und stupste Jack an, der aus gemütlichen Träumereien erwachte und das Wasser zunächst mit noch fast geschlossenen Augen ruhig anglotzte, wie es da ein paar Meter vor ihnen in der Luft schwebte. Schließlich erreichte das Bild sein Bewusstsein und er verstand, dass er nicht mehr träumte. Jacks Augen weiteten sich langsam, die Gesichtszüge entglitten ihm. Der See war erstaunlich tief, an einer Stelle erkannten sie eine lange, dicke Säule aus Wasser, der Inhalt eines tiefen Loches. Groß wie eine kleine Stadt und voller organischer, wahnsinniger Lichtspiele, schwebte der See nun vor ihnen und stieg langsam immer weiter nach oben.
»Jack, was siehst du?«, flüsterte Mia zu Jack, der erst sich selbst schmerzhaft in die Finger biss und dann Mia in den Arm kniff. Beide schrien kurz auf, dann wurden sie sich einig, dass sie wirklich nicht träumten.
»Ich sehe … auch …«, kam es langsam aus Jack heraus. Er dachte nur, konnte nicht sprechen.
Eric erhob sich nun ebenfalls, stellte sich hinter die beiden und genoss den unglaublichen Anblick, während er das Gewicht des Sees angenehm schwer irgendwo tief in seinem Inneren spürte. Als Fische und andere Wesen zunehmend hektisch in Bewegung gerieten und sich Druck und Bewegung im Wasser zu sehr änderten, ließ Eric es behutsam wieder in dessen Becken sinken. Ein leichtes Erdbeben rollte durch den Waldboden und über die angrenzenden Wiesen, als sich hunderte Millionen Tonnen Wasser gleichzeitig niederlegten und den Boden großflächig fast einen halben Meter absenkten. Eine heftige Druckwelle fegte ihnen um die Ohren, feucht und diesig ließ sie die Bäume im Wald rascheln. Eric ließ seine Hand sinken, beruhigte das Wasser und beobachtete fasziniert eine kochende Bewegung in der Mitte des Sees, fast einen Kilometer entfernt. Als er vorsichtig ausatmete, flimmerte die Luft. Ihm war heiß.
»Ich hoffe, ich werde meine Entscheidung nicht bereuen«, sagte Eric, betrachtete nachdenklich seine Hand und sah hinaus aufs Wasser, wo sich die größeren Wellen langsam legten und plötzlich Schwärme aller möglichen Fische sich nahe der Oberfläche bewegten. Mia und Jack gaben keinen Ton von sich, beide hatten zu atmen aufgehört. Sie sahen immer noch ständig zwischen dem See und Eric hin und her, konnten nicht glauben, was sie da gerade gesehen hatten. Doch Eric beachtete sie nicht. Er war tief in Gedanken versunken, musterte wieder den Baum. Dieses Mal waren es Mia und Jack, die sich flüchtig fragten, ob sie in einem Traum steckten. Mia regte sich zuerst, ging zum Ufer und berührte mit den Schuhen das Wasser. Als sie sich zu ihnen umdrehte, war ihr Blick abermals kaum zu deuten. Sie kam zurück und ließ Eric nicht aus den Augen, der sie erst jetzt verträumt ansah.
Als Eric völlig in die Situation zurückkehrte und Mias Gesichtsausdruck und Jacks fassungslose Starre erkannte, fühlte er sich leicht unbehaglich. Beide wirkten verängstigt oder eingeschüchtert, wussten nicht, wie sie auf das reagieren sollten, was offensichtlich gerade in Wirklichkeit stattgefunden hatte. Alles war ungemütlich still, kein Tier gab einen Laut von sich, selbst die Fledermäuse hatten sich irgendwo abgehängt und warteten. Worauf? Für eine Sekunde fragte sich Eric, ob er wieder einen Aussetzer gehabt und etwas Wichtiges verpasst hatte, doch als er sich prüfend umsah wurde ihm klar, es war nicht so. Jack hob seine Faust, ohne Eric dabei anzusehen. Sein Blick war nach wie vor fest auf den See gerichtet. Das tat er sehr selten. Ausschließlich dann, wenn einer von ihnen beiden etwas tatsächlich Krasses, wie Jack es nannte, geschafft hatte. Eric berührte mit seiner Faust die von Jack. Der nickte nur stumm. Mia sah sie beide nach wie vor unbewegt an, dann begann sie, die Decken wieder aufzurollen und zu verstauen.
»Was ist?«, fragte Eric ratlos. Doch Mia antwortete nicht, schien nachzudenken. Schließlich meinte sie:
»Eric. Weißt du, was du gerade getan hast?«
»Klar.«
Eric sah sie eindringlich an, empfand große Lust, ihre Gedanken zu durchstöbern. Doch er tat es nicht, respektvoll hielt er sich zurück. Mia nickte nur.
»Wir sollten gehen. Kommt, es wird zu dunkel. Wir werden morgen vielleicht wieder hier sein, ich muss nachdenken und unsere Reise planen. Ich will, dass du die Nacht über meditierst. Ich will, dass du deine eigene Entscheidung verstehst. Und ich bitte dich inständig: Gib der Welt eine Chance.«
Jack sah Mia fassungslos an. Er hatte sich mit vielem abgefunden, aber so hatte er sie noch nie erlebt. Eric beobachtete sie verwundert, aber er wartete nicht und verwandelte sich auf der Stelle, obwohl es hier beinahe zu eng war. Aus der höheren Perspektive warf er erneut einen Blick zu dem zerrissenen Baum am Ufer. Es war, als spürte er eine kurze Erinnerung, er fühlte die Aromen feuchter Holzsplitter im Maul, als hätte er selbst gerade einen Ast aus der großen Pflanze herausgerissen und jemanden unter Wasser gezerrt. Doch die Regung verflog. Er ließ Jack und Mia aufsitzen, löste sich vorsichtig vom weichen Boden des Ufers und schon flogen sie über den See, der im silbernen Mondlicht unschuldig glitzernd wieder zur Ruhe gekommen war, leicht getrübt vom aufgewirbelten Sand des Grundes.