Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 23

Kapitel 20

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Eric hatte das Gefühl, am glänzenden Boden festzufrieren. Er sah sie beide abwechselnd an. Seath wirkte bei genauerem Hinsehen doch jünger als Mia. Sie hatte grüne Augen, die Eric aufmerksam begutachteten. Sie und Mia kamen auf Eric und Jack zu, Seath stellte sich direkt vor Eric. Sie war ein paar Zentimeter größer als er. Eric erwiderte ihren Blick und sie starrten einander an. Seath schmunzelte, er hörte ihre offenen Gedanken, spürte ihren Herzschlag und eine Art Kraftfeld um sie herum. Etwas Neues. Er wurde aufmerksam, seine Neugier hätte ihn fast dazu gebracht, sie langsam zu umwandern und von allen Seiten genau anzuschauen, vielleicht sogar kurz zu schnüffeln.

»Komm schon, versuche standzuhalten! Mal sehen, ob du es schaffst. Wer zuerst blinzelt, hat verloren!«

Eric wunderte sich. Sie machte einen sehr angriffslustigen Eindruck. Keine Begrüßung, sondern eine direkte Aufforderung zu einem mentalen Duell? Er verschloss seine Gedanken, ehe Seath sie durchstöbern konnte. Ihre jedoch durchdrang er problemlos. Er hörte, wie Jack neben ihm mit Mia sprach, blendete es aus und konzentrierte sich nur auf die grünen Augen, in die er gerade sah. Sie waren ehrlich, strickt und fair. Eric entdeckte nichts Negatives in ihnen und auch nicht dahinter. Ihre Gedanken waren voller Sorgen, gefüllt mit Wissen und einem Hauch von Weisheit. Er versuchte, ihr Alter zu schätzen. Vielleicht waren es dreißig oder fünfunddreißig Jahre, jedenfalls relativ jung. Und trotzdem sah Mia ihr so ähnlich, als ob sie ihre Schwester wäre. Oder ihre Mutter. Eric stutzte und beinahe wäre seine Barrikade zusammengebrochen. Er schickte Seath eine Frage.

»Wer bist du?«

Sie antwortete nicht gleich, fixierte ihn nur stumm, bevor sie sagte:

»Ich bin Mias Tochter und Großmeisterin der Ewigen Wälder und dieser Stadt. Deine Lehrerin, nach Mia. Und du? Was glaubst du, wer du sein könntest? Wie ist dein Name?«

Eric lächelte sie herausfordernd an.

»Finde es heraus«, dachte er, ihre Angriffslust erwidernd, »falls du es kannst … Meisterin.«

Sie lächelte belustigt und fing sofort an, Eric mit Bildern abzulenken. Sie zeigte ihm Jack, wie der genüsslich im Sonnenlicht in der Krone eines großen Apfelbaumes saß und sich an den Früchten bediente. Dann ließ sie den Baum in Flammen aufgehen und zeigte ihm Jacks schmelzende, schwelende Haut und das kochende Blut und Fett, welches aus den Wunden tropfte. Eric begriff, was sie vorhatte und er hätte dem widerstehen können, aber seine Konzentration wurde sofort auf die Tatsache gelenkt, dass diese grauenhafte Vorstellung eben nur eine Erfindung war und dass die sehr leckeren Äpfel gerade überhaupt nicht wichtig waren und dass sich das rauchlose Feuer irgendwie seltsam verhielt. Er blinzelte, angegriffen von der plötzlichen Idee, dass jenes erfundene Geschehen überhaupt nicht unrealistisch sondern völlig im Bereich des Machbaren war. Seath machte einen Schritt zurück und verbeugte sich.

»Ich bewundere deine Kraft, aber du bist zu anfällig für simple Vorstellungen. So kann dich jeder Wächter besiegen, falls es schnell geht. Sich darauf zu konzentrieren, dass es nicht echt ist, macht es nur noch schlimmer, weil du von dem eigentlichen Angriff abgelenkt wirst und nicht mehr standhalten kannst. Merkst du ja. Das musst du anders lösen. Allerdings war es, als wären deine Gedanken gar nicht mehr da! Wie hast du sie so fest verschließen können?«

Eric rieb sich die Augen und warf ihr einen säuerlichen Blick zu. Die Bilder waren nicht schlimm gewesen, er wusste ja, dass sie reine Einbildung waren. Aber es war eine miese Prüfung gewesen, ganz link. Doch schließlich verbeugte auch er sich, unterdrückte einen kurzen Impuls, ihre Gedanken zu überwältigen und tief darin zu lesen.

»Ich konzentriere mich darauf, nicht zu existieren. Dann werden meine Gedanken vollkommen unsichtbar.«

Seath nickte.

»Das hat Mia dir sicher gezeigt, oder? Na gut, nicht schlecht. Wie heißt du?«

»Eric Simila. Grauenvoll, oder?«

Seath grinste.

»Nein, ein schöner Name. Hast du auch einen Spitznahmen? Verzeih meine Neugierde, aber in dieser Welt spielen Namen eine wichtige Rolle.«

»Kleiner Drache, das ist mein Spitzname. Jack hat ihn mir gegeben. Und manchmal … naja. Nicht so wichtig.«

Eric schwieg, empfand es als unangenehm und irgendwie unreif, sich ihr nur als Tier oder Biest vorzustellen. Seath sah Jack an, dann Mia. Die nickte freundlich. Sie wandte sich wieder Eric zu.

»Ich habe mitbekommen, wann du angekommen bist, aber ich hatte leider zu tun und musste zurück hierher. Ich wünsche mir oft, einen echten Drachen zu sehen, aber bisher war es mir nicht vergönnt. Seit bald sieben Jahren warten wir hier auf dich. Ich möchte gerne mit dir sprechen, unter vier Augen. Es gibt sehr vieles zu klären.«

Sie nickte Mia und Jack freundlich zu und die beiden machten sich auf den Weg die lange Treppe nach oben, wo sie verschwanden. Seath zeigte auf die mittlere Tür, durch die sie und Mia gekommen waren. Eric folgte ihr. Wo sie jetzt wohl hinkämen? Nach dem, was er bis jetzt von dem wohl wichtigsten Gebäude gesehen hatte, war er fast süchtig nach neuen Räumen. Der gesamte Komplex, von dem er nach Jacks Aussage noch lange nicht alles gesehen hatte, vermittelte durch seine schlichte Schönheit und grobe, steinerne Massivität ein Gefühl des Schutzes, wie Eric es noch nie in einem Gebäude erlebt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sich die Räume und Gänge viele Meter tief in den Boden bohrten und es hinter irgendeiner Tür sicherlich immer noch tiefer ging.

Seath öffnete die Tür, ließ ihn eintreten und folgte ihm einen kurzen Flur entlang. Die Wände waren weiß und sehr rau, in regelmäßigen Abständen waren darin Vertiefungen geschaffen worden, in denen Pflanzen oder Lampen standen. Sie kamen an noch eine Tür und Seath öffnete, führte sie in einen recht großen Raum, kreisrund und ebenfalls strahlend weiß gestrichen. Eric sah nach oben. Dieser Raum war normal hoch. Die Decke hatte in der Mitte ein großes Loch, durch welches Licht hereinkam. Er sah Seath an, die seine Reaktion beobachtete.

»Es sind die Löcher, die wir hier in jedem unterirdischen Raum haben. Durch ein Spiegelsystem wird das Sonnenlicht vom Dach aus fokussiert und durch lange, gebohrte Kanäle in den Wänden verteilt. Jeder Raum bekommt dieselbe Menge Licht und wenn es dann auf das dünne, weiße Pergament oder Glas vor dem Loch trifft, wirkt es wie eine Lampe. An sonnigen Tagen sogar sehr hell. Und es muss nie ausgetauscht werden, nachts benutzen wir Kerzen oder die hellen Gedanken, die wir haben. Sie werden an einen Mentstein in den Lampen geschickt und der kann sie in Licht verwandeln. Sauerstoff bekommen wir durch unser Gewächshaus in der untersten Ebene, weit unter uns. Dort gibt es auch Zugänge zu einem Belüftungssystem, die Kanäle sind allerdings streng geheim. Fragen beantwortet?«

Eric sah sie an und bemerkte erst jetzt, dass seine Gedanken gar nicht mehr verschlossen waren. Er entschied sich, sie geöffnet zu lassen, wollte ihr ohnehin von seinem Traum erzählen und von dem, was bei seiner Ankunft geschehen war. Er nickte und sie wies auf einen der vielen Stühle, die um einen runden, bläulich-türkisen Holztisch herumstanden. Eric setzte sich, sie ging auf die andere Seite des Tisches und ließ sich ihm gegenüber nieder. Dann faltete sie die Hände auf dem Tisch zusammen und sah ihn an. Sie wirkte gespannt, erwartungsvoll. Ihre Angriffslust hatte Eric beeindruckt, sie vermittelte ihm die Kraft und die guten Absichten, die Seath haben mochte. Vielleicht waren es diese Eigenschaften, die sie zur Meisterin dieser Stadt gemacht hatten. Sie sah ihn an. Welche Bedeutung hatte dieser Begriff hier überhaupt?

»Ich stehe zur Verfügung. Frage mich, was du wissen möchtest. Sage mir, was dir auf dem Herzen liegt. Ich werde antworten, falls ich kann.«

Eric dachte nach. Sollte er ganz vorne bei dem Waldspaziergang anfangen, bei dem er den Drachen kennengelernt hatte? Oder reichte es, wenn er ihr gleich von den Träumen erzählte? Er beschloss, alles zu erzählen, aber wieder Details auszusparen. Speziell, was den Drachen und dessen Warnungen betraf. Schließlich kannte er Seath nicht. Er setzte sich bequem hin, dann fing er zu reden an, berichtete ihr von dem ersten Traum, an den er sich noch erinnern konnte, von der Bekanntmachung mit sich selbst, der Hinterfragung seines Spitznamens und seiner Vision, in der er Manou begegnet war, der versucht hatte, ihn zu erschießen. Als er nach fast einer halben Stunde mit der Kurzfassung seines Lebens fertig war, hatte er ihr noch nichts von dem Traum erzählt, der ihm den Anschlag auf die Gebäude der Jugendlichen gezeigt hatte, oder von dem Attentat, welches der Schmied bei seiner Ankunft auf ihn verübte. Seath hatte die ganze Zeit die Augen geschlossen gehabt, seine Erlebnisse verfolgt und in ihren Gedanken gespeichert. Als sie sie öffnete, sagte sie zunächst nichts. Dann stand sie auf, kam um den Tisch herum und setzte sich neben ihn. Eric sah ihr in die Augen und als er ihre Ruhe bemerkte, die fast so stark wie seine eigene war, überwand er sich und begann, von seinem letzten Traum zu erzählen. Es war nicht einfach, alles noch einmal zu durchleben, aber es half, ihn zu teilen. Eric hatte das Gefühl, dass er danach noch besser damit würde umgehen können. Als er fertig war, war es deutlich wärmer im Raum. Seath lächelte ihn an. Eric verstand nicht. Warum fand sie das lustig?

»Ich bin beeindruckt von dir, deiner ganzen Geschichte. Du hast einen unglaublich starken Geist. Es ist sehr schwer, jemanden dort draußen zu finden, der sowohl das als auch gleichzeitig so viel Herz hat. Und jetzt zu deinem letzten Traum. Hast du gesehen, was in den Hütten und Bauten war?«

Eric wunderte sich. Aber er musste nicht lange nachdenken.

»Nein, konnte ich nicht. Ich habe mich viel zu sehr auf die anderen Dinge konzentriert. Aber in deinen Gedanken habe ich gelesen, dass dort die Jugendlichen, Kinder, Schulen und all sowas drin waren und die Leichenteile hinterher … Was soll also anderes als die Jugend dort drinnen gewesen sein?«

»Niemand.«

Eric rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.

»Was … Warum war keiner da?«

»Wegen dir!«

»Was?«

»Du hast uns gewarnt, mit deinem Traum! Ich habe versucht, euch zu finden. Ihr wart sehr verspätet. Und ich konnte deine Gedanken wahrnehmen. Es ist ziemlich schwer, eine solche Macht nicht zu spüren, wenn man ohnehin danach sucht. Ich denke, ihr wart gerade durch das Zeitloch gekommen, sonst hätte es nicht funktioniert. Ich sah den Traum, als ich auf der Plantage meinen Korb voll machte. Ich hatte eine Vision, genau wie du. Ich sah, wie sich Manou und seine Männer durch den Wald zu uns schlichen und habe sofort alles getan, um die betroffenen Areale zu Räumen, fast eine halbe Stunde bevor sie tatsächlich die Stadt erreichten. Da du irgendwie seine Gedanken hören konntest, wusste ich ja, was sie vorhatten. Niemand war da, es war gerade rechtzeitig. Wir haben sie nicht angegriffen sondern die Gebäude geopfert, um ihnen Sicherheit zu geben. Sonst hätten sie möglicherweise andere, unvorhergesehene Ziele gewählt und wir hatten zu wenig Zeit, ihnen direkt entgegenzutreten. Die Explosion hat großen Schaden angerichtet, aber niemanden verletzt. Nichts, was nicht repariert werden kann. Du hast nur eine mögliche oder wahrscheinliche Zukunft gesehen, nicht die Gegenwart. Das ist alles.«

Eric blieb still, ihm wurde leicht schwindelig. Als er sich sicher war, dass er sich ihre Worte nicht nur einbildete, spürte er ein unangenehmes Kratzen im Hals, vergrub das Gesicht in den Händen. Niemand war getötet worden? Keine Nachricht in dieser Welt konnte ihm gerade jetzt eine größere Freude machen als diese. Er spürte die Hand der Meisterin auf der Schulter.

»Du hast ein großes Herz, vergiss das nicht. Zweifle an den schlechten Taten, nicht an den guten! Manou nicht zu erledigen kann sich vielleicht noch als nützlich erweisen, das wissen wir nicht. Er könnte der Schlüssel zu den Plänen sein, welche Die Sechs und der Herrscher schmieden. Du kannst die Zukunft sehen und Manou steht dem Herrscher am nächsten. Sieh es mal von der anderen Seite. Es wäre auch möglich, dass zwischen ihm und dir eine Verbindung besteht, welche dich sehen lässt, was er sieht und fühlt. Aber das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen.«

Eric sah sie an. Sie lächelte aufmunternd. Er mochte sie, genau wie Mia. Er dachte an die Gesetze, die Regeln, von denen er immer noch nichts wusste und an die Frage danach, wo im Universum sie sich befanden.

»Wo ist diese Welt, dieser Planet? Was … wie kann …«

»Ruhig. Dieser Planet ist sicherlich nur einer von mehreren, auf welchen es Leben gibt. Wir haben nie andere betreten, aber in benachbarten Sonnensystemen existieren welche, von denen wir glauben, sie könnten komplexe Lebensformen tragen. Dieser Planet hier ist der Drachenplanet. Warum er so heißt, wirst du noch lernen. Er ist von der Erde aus weder zu sehen noch erreichbar und auch wir können die Erde nicht sehen. Ich vermute, dass wir nicht einmal in derselben Galaxie unterwegs sind. Das Zeitloch, durch welches ihr hierher gelangen konntet, ist immer in Bewegung. Es wandert, öffnet und schließt sich. Als es auf der Erde entdeckt wurde, war das die erste Chance für magisch begabte Menschen, diese Welt zu erreichen. Nur sie konnten es aufspüren, doch lange vermochte niemand vorherzusagen, wann es wo sein würde. Im Laufe der letzten tausend Jahre konnte durch Beobachtung ein Muster erkannt werden, aber es wird schwächer. Wir glauben, dass es in ein paar hundert Jahren nicht mehr zwischen Erde und Drachenplanet erreichbar sein wird. Auch andere Welten sind mit diesem Netzwerk verbunden. Aber wir können nicht dorthin gelangen, haben die Zugänge bisher nicht gefunden. Wer hierher kommt, kann nicht einfach so zur Erde zurück. Es sei denn, er kann fliegen und das Zeitloch so erreichen. Es hängt hier meist über dem offenen Meer, wie zurzeit auch auf der Erde. Es gibt Abzweigungen an verschiedenen Stellen im Wald, aber die sind extrem schwer zu finden und nur wenige wissen davon.«

Seath machte den Eindruck, als hätte sie schon sehr lange nicht mehr so viel gesprochen. Eric hörte aufmerksam zu, sog die Informationen in sich auf wie ein Schwamm. Endlich gab es ein paar Antworten.

»Gibt es viele Menschen hier?«

»Ja, schon. Es gibt verschiedene Völker, es zeichnen sich unterschiedliche Kulturen ab. Du wirst einige davon noch kennenlernen. Es gibt unglaubliche Wüsten und Steppen, Eis und Berge. Alles, was es auf der Erde auch gibt und noch mehr. Wo das Zeitloch hinführt hat sich über die Jahrhunderte stetig verändert und irgendwann kamen auch immer mehr normale Menschen hierher, wenn sie Teil einer Familie von Magiern waren oder als deren Freunde und Bekannte eine Chance bekamen. Oder zufällig. Es kommt vor, dass Objekte, Tiere oder anderes Material durch Zufall von einer der Abzweigungen des Zeitlochs erfasst werden und so in eine andere Welt gelangen. Wir nehmen an, dass so zwischen Erde und Drachenplanet über Milliarden von Jahren ein reger und zufälliger Austausch an Leben stattfinden konnte, welcher gut zu sehen ist. Es gibt viele Ähnlichkeiten. Der Drachenplanet ist riesig, Eric. Viel größer als die Erde. Es war den Menschen hier bisher unmöglich, ihn komplett zu umrunden oder zu erschließen. Ein Menschenleben ist einfach nicht lang genug dafür, da so viel Unbekanntes und extreme Gefahren und lebensfeindliche Umgebungen dort draußen sind. Auch haben wir hier kaum Maschinen wie auf der Erde. Trotz Magie und einem wirklich mächtigen Netzwerk aus Spähern aller Arten und Gattungen, darunter auch Vögel, können wir nicht alles überschauen. Vor allem deshalb, weil der Herrscher das nicht will und mittlerweile so mächtig ist, dass er es auch wirklich verhindern kann.«

Eric nickte nur, dann meinte er:

»Was genau ist ein Zeitloch?«

Seath lächelte.

»Das solltest du mit den Wissenschaftlern und Forschern klären. Die Astronomen und Physiker in den blauen Bergen sind da sicherlich die Richtigen, vielleicht triffst du sie noch, wenn wir die Völker vereinen. Sie werden bald hier sein, mussten fliehen. Den Grund dafür kann ich dir im Moment nicht nennen, sie halten ihn geheim. Sicherlich hat es etwas mit dem Herrscher zu tun. Ich denke, ein Zeitloch muss so ähnlich wie das sein, was man auf der Erde ein Wurmloch nennt. Aber glaub mir, ich weiß es nicht.«

Jetzt fühlte Eric leichte Zweifel. Zu schön, um wahr zu sein. Und auf der Erde wusste niemand davon? Absolut niemand, außer denen, welche das Zeitloch nutzten? War es denn nicht messbar? Seath beobachtete seine Gedanken.

»Es ist messbar, kann aber ohne gewisse Begabungen nicht lokalisiert werden und ist dadurch enorm schwer zu erklären. Es äußert sich in Messungen ähnlich wie Gravitationswellen und selbst die sind noch weit davon entfernt, restlos erforscht oder verstanden zu sein.«

»Welche Begabungen?«

»Du hast dich sicher schon gefragt, was Magie eigentlich ist oder was wir damit meinen. Wir bezeichnen damit die Wandlung und Auswirkungen einer sehr schwer greifbaren Energieform. Wir können sie spüren und beeinflussen. Sofern der Einfluss zu geplanten, vorhergesagten, wiederholbaren Konsequenzen führt, sprechen wir von Kontrolle. Wir können also diese Energieform beeinflussen und manche können sie kontrollieren, bis zu einem gewissen Grad. Wir wissen aber nicht, woher sie stammt, was sie freisetzt und wie genau sie funktioniert. Wir vermuten, dass unsere Körper ein bestimmtes Material enthalten, welches uns dafür empfänglich macht. Das gilt auch für Pflanzen und Tiere. Es muss einen Austausch zwischen Drachenplanet und Erde gegeben haben, welcher alles angefangen hat. Möglich, dass unsere Vorfahren von hier stammen. Die Menschen haben sich definitiv nur auf der Erde entwickelt, aber es ist möglich, dass dies ohne den Drachenplaneten nie passiert wäre. Es gibt viele intelligente Lebensformen, einige davon sind dem Menschen kognitiv voraus und fast alle sind uns körperlich überlegen, in spezialisierten Bereichen. Menschen sind körperlich Generalisten und keine Spezialisten, wenn man die Evolution betrachtet. Manche glauben, die Vorfahren des Menschen hätten eigentlich keine Chance gehabt, ausschließlich durch höhere Intelligenz ganz nach oben zu kommen. Sie vermuten, dass Magie einen Teil dazu beitrug. Zuerst unbewusst und kaum relevant, später maßgeblich, da angeregt und bewusst gepflegt.«

Eric sah sie schweigend an, speicherte jedes ihrer Worte ab und sah seinem Inneren dabei zu, wie es aus all den Antworten neue Fragen hervorbrachte. Doch jetzt interessierte ihn nur eine.

»Wer ist dann der Herrscher? Ist er ein Mensch? Was ist mit ›Die Sechs‹? Wer sind die?«

Seath schwieg. Sie wirkte unschlüssig.

»Das wissen wir nicht. Ich glaube, er ist kein Mensch. Er könnte einmal ein Mensch gewesen sein oder in irgendeiner Form menschliche Züge gehabt haben. Wir wissen, dass das Phänomen des Herrschers viele Jahrhunderte in dieser Welt zurückreicht, vielleicht sogar ganz bis zu den Anfängen der Zivilisation auf der Erde. Er kam von dort hierher, als die ersten Magier vor Auseinandersetzungen mit Unbegabten flohen. Du hast sicher davon gehört, was man früher mit Menschen gemacht hat, welchen man Hexerei oder dergleichen vorwarf. Jedenfalls gab es schon immer Magier, welche sich dem Herrscher anschlossen, um von seiner Macht zu profitieren und ihm zu helfen. So erfuhr er von dem wandernden Zeitloch und kam auf diesen Planeten. Ich denke, er war schon einmal hier, es würde sogar Sinn ergeben, wenn sein Ursprung in dieser Welt läge. Wie er auf die Erde kam und warum? Keine Ahnung. Aber nach all dem, was uns Erinnerungen und Überlieferungen zeigen, ist er eher kein Mensch. Niemand hat ihn je wirklich gesehen, es gibt nur schattenhafte Bilder und verschwommene Eindrücke, nur Vermutungen. Aber ich sage dir, er ist absolut real. Und der Grund dafür, dass du hier bist. Vielleicht.«

Seath brach ab und begutachtete Eric eingehend, sprach mit einem Zögern in der Stimme weiter.

»Ich will dich nicht erschrecken, aber vielleicht ist er einfach nur das Gegenstück zu dir, ich weiß es nicht. Er scheint zu allem bereit zu sein, um an dich heranzukommen. Wir nehmen an, dass er maßgeblich an der Verbreitung der Magie unter den Menschen beteiligt war, ich meine innerhalb der letzten paar tausend Jahre. Er beeinflusst sogar die Unbegabten. Er sucht nach etwas und nutzt jeden, ob offen oder verborgen, um danach Ausschau zu halten. In jeder Zeit gibt es Extreme, er ist sicherlich eines davon, du ebenfalls. Aber wer Die Sechs sind, das will ich dir gern sagen: Es sind diejenigen, welche anfänglich die vier Gesetzte unserer Welt definiert haben. Sie sind viele hundert Jahre alt und haben die Zeit genutzt, um sich beständig durch den Herrscher und die Finsternis zu stärken. Sie halten sich durch Opfer und dunkle Magie am Leben. Dunkle Magie nennen wir jene Form von Magie, welche durch die Finsternis gespeist oder motiviert wird. Sie sind extrem mächtig, die engsten Vertrauten des Herrschers. Gemeinsam arbeiten sie mit ihm an seinem Ziel. Sie sehen sich als die Lösung der gestörten Balance in allem, was die Menschen treiben und in ihrem Treiben zerstören. Sie glauben, der Mensch sei ein Gift in der Natur und sie seien die Heilung. Vielleicht hatten sie recht, was das Gift angeht, aber da sie selber auch Menschen waren, konnten sie keine Lösung darstellen. Sie sind von denselben Bewegungen getrieben, nur eben viel stärker. Möglich, dass sie mittlerweile Dinge sehen und verstehen, an welche hier niemand auch nur denken kann. Zeit genug hatten sie ja. Welches Ziel der Herrscher hat? Das weiß hier niemand. Du bist wohl ein Teil davon. Wir wissen, dass er vor allem nach dir so erbarmungslos gesucht hat. Warum? Auch das ist nicht klar, er scheint seine wahren Ziele mit niemandem zu teilen, den wir beeinflussen oder ausspionieren könnten. So bleiben viele seiner Absichten für uns ein Rätsel, vor allem das letzte, langfristige Ziel. Wir sind ständig auf der Suche nach Daten und Hinweisen. Es ist mühsam. Wir befinden uns in der denkbar schlechten Position, nur zu verhindern, dass er findet, was er sucht. Wir können niemals sicher sein, dass die Suche nach etwas nicht nur eine Art Beschäftigungstherapie für uns ist, während er sich anderen Dingen zuwendet. Ich sage dir, wir stehen vor sehr großen Schwierigkeiten, solange wir sein wahres Ziel nicht verstehen.«

Langsam begannen Erics Gedanken, sich zu verknoten. Er war zwar noch aufnahmefähig, doch die neuen Fragen sprudelten förmlich aus seinem Geist heraus. Es war schwer, jene zu finden, welche unmittelbar wichtig erschienen. So viele Details, alles neu und gemessen mit den Augen, mit welchen er auf der Erde aufgewachsen war, sehr befremdlich und unglaubwürdig. Und erstaunlich vieles von dem, was diese Welt gerade zu bedrohen suchte, war nicht erklärt oder verstanden. Bis heute. Wie konnten sie dann so lange überleben, wenn der Herrscher doch schon Jahrhunderte oder sogar tausende Jahre existierte und offenbar kein Interesse daran hatte, seine Feinde atmen zu lassen? Und welche Regeln meinte Seath? Wie lebten sie hier überhaupt? Gab es ein Gericht, eine Art Regierung? Seath verfolgte seine Gedanken aufmerksam, nickte ihm erstaunt zu.

»Ich sehe, vielleicht bekommen wir hier doch nicht alles Wichtige geklärt. Wie ich sagte, der Herrscher sucht nach etwas und verfolgt eindeutig Ziele. Er braucht die Menschen als Arbeitskräfte. Nun lass mich dir kurz die Regeln erklären und das System, welches wir hier in den Wäldern und den meisten der dicht besiedelten Areale pflegen. Sie sind eher eine Philosophie als tatsächliche Regeln im üblichen Sinne. Nummer eins: Kausalität. Die Konstante, die alles bestimmt. Natürliche Selektion, ein Vorgang, der wie alles andere seine Quelle in Veränderung findet, also einer Variable, und diese Veränderungen haben eine Ursache. Wir betrachten den Begriff der Kausalität als unantastbar im Rahmen unserer Wahrnehmung und Beschaffenheit. Eine Aktion erfordert eine Reaktion, egal welcher Art. Wenn dieser Dominoeffekt nicht existierte, würden das Rad der Zeit oder die Entwicklung des Lebens irgendwann einfach stehenbleiben, die Natur wäre nicht Natur und so weiter. Es bedeutet auch, dass alles, absolut alles, immer mit allem anderen verbunden ist. Zumindest durch die Zeit. Diese Verbindungen zu sehen oder zu verstehen ist nicht zwangsläufig einfach, für die meisten Wesen gar nahezu unmöglich. Dieses Gewebe aus Verbindungen kann brechen, aber niemals von selbst, sondern als Konsequenz anderer Ursachen. Was bedeutet, dass die Verbindungen in anderer Form wiederkehren. So ergibt sich auch der Begriff der Verantwortung. Nichts, was du tust, ist ohne Konsequenz. Nummer zwei: Kurz gesagt, nichts ist perfekt. Nehmen wir an, es gäbe einen Zustand von absoluter Perfektion und Balance. Ein solcher Zustand bedeutet Stillstand, Stillstand ist zeitlos und ohne Ziel, dahe wertfrei. Kein Gefälle, kein Fluss. Kein Unterschied, keine Dynamik. Keine Fehler, keine Entwicklung. Soll heißen: Es gibt immer, in irgendeiner Form, einen Unterschied oder eine Divergenz, was die Dinge ins Rollen bringt. Sprichwörtlich gemeint, sagt man das so? Egal, entschuldige bitte. Wo war ich … Ach ja. Nummer drei ist eine Idee, eine Folge der ersten zwei. Es gibt immer einen Weg, eine Möglichkeit. Das kann ein Ausweg sein, ein Weg zu einem Ziel im Raum oder ein Weg, etwas zu erreichen. Nicht nur gebunden an Materielles, sondern ganz allgemein. Es müssen nur zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens, du musst den Weg erkennen. Zweitens, du musst genug Kraft aufbringen können, um ihn auch zu beschreiten. Was auch immer du dir also vorstellen kannst, ist möglich, solange du genug Kraft dafür hast, die resultierenden Forderungen oder Bedingungen zu erfüllen. Merk dir das. Speziell für jemanden wie dich, dessen Kraft und Macht allem Anschein nach sehr unbegrenzt ist. Daraus resultiert eine enorme Gefahr. Aber dazu kommen wir noch. Nummer vier: Gehe niemals allein. Diese Welt ist extrem gefährlich, Eric. Speziell jetzt, während des Krieges. Du siehst keinen Rauch, keine Armeen oder Bomben. Du verstehst nicht, was Krieg hier bedeutet. Vieles findet im Verborgenen statt und es gibt Wesen und Dinge, welche die Menschen hier nur auf die harte Tour kennenlernen konnten. Wir haben uns unseren Platz auf diesem Planeten sehr, sehr hart erkämpfen müssen. Wir arbeiten jeden Tag hart daran, unser Recht auf unseren Platz zu erhalten. Solange wir stark sind und zusammenhalten, ist unser Leben insgesamt tatsächlich sehr unbeschwert. Aber je mehr der Herrscher oder andere Faktoren uns schwächen, desto schneller geraten wir an den Rand der Auslöschung. Nicht nur durch den Herrscher oder durch uns selbst. Auch durch sehr finstere Kreaturen, welche uns gern loswerden möchten. Sobald wir Fehler machen, zu weit in die Natur eingreifen oder nicht aufpassen, werden sie uns definitiv ausrotten. Sie erhalten die Balance. Wir nennen sie Dämonen.«

Eric sah sie schweigend an. Er hatte nichts dergleichen erwartet, konnte verwirrt keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war schwer definierbar, dieses Gefühl von Verständnis und gleichzeitiger Ratlosigkeit. Er hatte die Gesetze verstanden, jedes einzelne, konnte sich aber nur schwer vorstellen, dass diese ausreichten, um eine ganze Welt in Ordnung zu halten. Staaten stellten ihre eigenen Gesetze auf, sie missionierten, bekehrten, bestachen, belogen, betrogen. Nur um ihre Gesetze, die von ihnen geschaffenen Regeln zu verbreiten und ihre Art und Lebensweise zu erhalten und zu erzwingen. Und in dieser Welt gab es keine Gesetze, nur diese vier Regeln oder Ideen? Sie waren so logisch, so verständlich. Und trotzdem waren sie höchstens ein Ansatz, aus dem sich viele andere ableiten ließen. Ursache und Wirkung, keine Perfektion, unbegrenzte Möglichkeiten, niemals allein gehen. Vier simple Prinzipien aber kein einziges Gesetz, welches denen einer Zivilisation aus seiner Zeit entsprechen würde. Und was um alles in der Welt waren Dämonen? Wirklich das, was er dachte?

»Was genau sind die Dämonen? Und warum wollen sie die Menschen loswerden?«

Seath kratzte sich am Kopf. Eric war sich sicher, dass sie nicht mehr lange sprechen würde, sie bevorzugte eindeutig Gedanken. Dennoch genoss sie das Gespräch.

»Sie wurden nur ein einziges Mal gesehen, ohne ihre Beobachter zu töten. Und das ist wirklich lange her, es muss sehr nahe an der Zeit gewesen sein, in welcher die ersten Menschen hier auftauchten. Die überlieferten Erinnerungen zeigen uns verschiedene Wesen in dunklen, unterirdischen Höhlen, welche zufällig entdeckt wurden. Wir nennen diese Höhlen ›Die Unterwelt‹. Wir wissen nicht, wie viele und wie groß diese unterirdischen Systeme sind, aber wir nehmen an, dass sie unfassbar weitläufig und vor allem Tief sind. Und glaub mir, du willst da nicht hin. Niemand will dorthin. Es gab Expeditionen und Versuche, tiefer hinein zu kommen. Wir glauben, dass die Drachen dort gelebt haben könnten. Nur dort haben wir überhaupt Hinweise auf ihre Existenz gefunden. Jedenfalls wurden die Besucher der Höhlen von den Dämonen überrascht und in absolut unglaublicher Manier abgeschlachtet. Sie ließen nur einen Menschen gezielt entkommen, damit er oder sie von ihnen erzählen konnte. Diesem Menschen pflanzten sie die Gewissheit darüber ein, dass niemand jemals wieder diese Höhlen betreten solle. Sie gaben uns diese eine Chance. Aber das wäre natürlich viel zu einfach gewesen. Menschen sind neugierig, riskieren immer wieder Kopf und Kragen, um zu lernen und weiter zu kommen. So begaben sich abermals sehr mächtige Magier in die Unterwelt und lösten damit die Auslöschung der ersten Generation eines Wüstenvolkes aus. Hunderttausende starben in einer einzigen Nacht. Wieder ließen sie nur einen am Leben. Wir wissen: Sie kommunizieren nicht direkt mit uns oder anderen, sie warnen nicht, sie verhandeln nicht, erteilen keine zweite Chance vor Ort. Wer dorthin geht, kommt nicht zurück, ohne alles und jeden zu verlieren. Wir denken, sie reagieren auf alles so, was dorthin geht. Erst hinterher wurde uns klar, warum wir niemals Tiere dort gesehen haben. Die sind wohl schlauer als wir. Dass sie uns loswerden wollen, ist eine Vermutung. Als der Herrscher das erste Mal wirklich viele Gefolgsleute bekam und damit begann, sich aggressiv auszubreiten, kamen einige der Dämonen an die Oberfläche und haben all sein Werk vernichtet. Seitdem scheinen sie Menschen auch ohne direkten Kontakt aufzusuchen und zu töten. Als hätten sie erkannt, dass man uns kleinhalten muss, bevor wir zu viele werden. Ab und zu wird ein Dämon gesichtet, natürlich nicht in der Unterwelt, sondern es kann überall vorkommen. Wenn sie nicht in der Unterwelt sind, töten sie nicht ohne Ziel oder Not. Ich glaube, sie beobachten. Vereinzelte Wesen, sie sind extrem wandelbar und noch viel gefährlicher. Glaub mir. Den Namen haben sie verdient. Und es gab sie auch auf der Erde. Von dort kommt der Name und sie sind eindeutig Teil der Menschheitsgeschichte geworden. Weiß man ja. In vielen Formen und Farben, unter vielen Namen. Und schließlich instrumentalisiert. Wahrscheinlich gelangten auch sie durch Abzweigungen des Zeitloches zufällig dorthin. Schade für die Menschen.«

Seath löste ihren Haarknoten und das Haar fiel wie eine Flüssigkeit in langen, seidigen Strähnen über ihre Schultern. Sie kratzte sich am Hinterkopf, dann nahm sie die zwei Nadeln wie ein Paar Essstäbchen in die Hand und band in einer fliegenden Bewegung die Haare zu einem neuen Knoten. Eric staunte. Sie ließ ihn in Gedanken wissen, dass sie nicht mehr sprechen würde. Es ging nicht schnell genug, meinte sie, als sie all seine Fragen erahnte.

»Eric, bevor du weitere Fragen stellst, lass mich dir folgendes erklären. Es ist wichtig. Mia hat mir davon erzählt, dass du den See bei euch im Wald angehoben hast und dass du einen Jungen gefoltert und danach geheilt hast. Sie hat mir davon erzählt, dass du ab und zu Dinge siehst, kurz und unberechenbar. Dazu möchte ich Details erklären. Wir sind uns relativ sicher, dass du potenziell mächtiger bist als der Herrscher. Es gäbe zumindest für uns ab einer gewissen Zeit keinen Weg mehr, dich aufzuhalten, solltest du entscheiden, etwas wirklich tun zu wollen. Egal, was das wäre. Der einzige Weg könnte es wohl sein, dich zu töten. Aber auch das dürfte sich als enorm schwierig herausstellen. Wir sehen, dass du schwer belastet bist durch die Träume. Es gibt vieles, was du noch nicht verstehst. Die Fähigkeit, einen so zerstörten Körper wie den des gefolterten Jungen einfach in Sekunden zu heilen, ist mir unbegreiflich. Ich bin eine der mächtigsten unter allen Menschen. Du wirst sehen, die Menschen und Wesen hier bereiten sich auf den Kampf gegen den Herrscher vor, die vielleicht letzte große Auseinandersetzung mit ihm, vorbei an all den kleinen Anschlägen und unterschwelligen Manipulationen durch Spione und Attentäter. Der Herrscher hat Kämpfer und Millionen unterschiedlichster Wesen. Er reißt alles an sich, überwindet selbst Tiere und Pflanzen, um sie zu versklaven und einzusetzen. Wir Menschen werden kämpfen, mit allen Mitteln. Aber du bist hier, um gegen das zu kämpfen, was wir nicht erreichen können. Den Herrscher und all jene Kreaturen, welche uns wahrscheinlich überlegen sein werden und das nicht nur zahlenmäßig. Du bist auch hier, weil der Herrscher niemals einen Drachen wie dich kontrollieren darf. Dabei geht es nicht nur um uns, sondern um alles freie Leben auf diesem Planeten. Mit dir wäre er wahrscheinlich dazu fähig, alles zu tun. Das darf nicht geschehen. Niemals! Wir haben so lange nach dir gesucht, um zu verhindern, dass er dich bekommt. Es ist reines Glück, dass du hier bist. Wir sind dankbar dafür, das kannst du mir glauben.«

Eric hörte ihren Gedanken ruhig zu, nahm sie relativ kühl entgegen. Wie kam sie darauf, dass es dem Herrscher so leichtfallen würde, ihn zu kontrollieren? Seath schüttelte den Kopf, dachte weiter.

»Du bist jung. Du fühlst, bist sehr sensibel. Du bist manipulierbar, durch deine Emotionen. Es ist ganz einfach. Ich sehe, wie wichtig Jack in deinem Leben war und ist. Ich habe das Gefühl, er ist der Einzige in deinem Leben, zu welchem du eine so innige und vertrauensvolle Liebe empfindest. Wenn ich nun hinausginge und ihn töten würde … Oder besser noch, ihn benutzten würde, um dich zu erpressen. Wenn ich ihn vor deinen Augen leiden ließe und das von einer überlegenen Position, strategischer Natur oder anders. Was würde passieren?«

Eric sah sie an und bewege sich keinen Millimeter. Ihm war klar, dass sie ihn prüfte. Und dass sie das, was sie gerade sagte, vermutlich nicht tun wollte. Aber die Antwort war klar. Wäre der Herrscher in der Lage, das zu tun und dabei eine sichere, geschützte Position zu wahren … Eric hatte seine Kräfte nie vollständig eingesetzt, noch wusste er nicht einmal, was er alles tun konnte und wie mächtig er wirklich war. Aber ihm war ohne Umstände klar: Er würde alles tun wollen, um Jack zu retten. Alles. Da gab es keine andere Möglichkeit, keinen Ausweg. Egal, wie sehr sich sein Verstand dagegen wehrte. Und selbst, falls er nicht auf solche Erpressungsversuche einginge: Er wäre dadurch innerlich angreifbar. Und das konnte schon ausreichen, um an ihn heranzukommen, wie der erste Angriff von nur zwei Wächtern deutlich bewies. Eric blickte Seath in ihre grünen, ruhigen und doch angriffslustigen Augen. Sie nickte.

»Korrekt«, dachte Seath, »allerdings könnte ich besagte Dinge vermutlich nicht tun. Du würdest sie sehr wahrscheinlich vorausahnen, bevor ich dazu käme. Das muss ich mir nicht antun. Davon abgesehen gibt es andere Wege, dich zu schwächen. Gifte, Unwissenheit, falsches Vertrauen. Und der Herrscher ist leider nicht dumm, ganz im Gegenteil. Er wird es versuchen und er wird einen Weg finden, falls du ihn nicht vorher überwindest. Würde er dich innerlich schwächen, gäbe es eine Chance. Und würde er es schaffen, dich aller Emotionen zu berauben und dich völlig abzukühlen, dann wäre diese Schwäche beseitigt. Wir könnten dann nichts mehr tun. Selbst, wenn wir nun unsererseits Jack als Mittel nutzen wollten, um dich zurückzuholen. Was auch immer wir ihm antäten, du würdest nicht mehr darauf reagieren. Ohne eine deiner größten Stärken, die Emotionen, wärst du erstaunlicherweise stärker, da so gut wie völlig fehlerfrei. Paradox, nicht wahr?«

Seath lächelte verbittert, Eric knetete müde seine Handflächen. Er dachte darüber nach. Vermutlich war da etwas dran. Angst, Wut, Zorn oder Hass … ohne Emotionen wäre Jan nicht gefoltert worden, ohne sie würde er ruhig schlafen und ohne sie gäbe es keinen relevanten Verlust. Doch was würde er ohne sie tun? Es gäbe keinen Grund. Vermehrung und Fortbestand, dachte er zynisch. Gleich darauf fragte er sich unwillkürlich, ob das für den Drachen überhaupt eine Rolle spielte. Waren wirklich alle Fehler Konsequenzen von Emotionen? Das konnte nicht sein. So viele Trugschlüsse und Fehler geschahen gleichermaßen aus einem Mangel an Informationen oder einer Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit. Allerdings funktionierte der Drache ganz anders und seine Sinne schienen, soweit Eric es bisher erlebt hatte, genau diese Verfehlungen sehr potent auszugleichen. Sofern er sich denn selbst im Griff hatte. Eric stutzte, als er an Seaths Beispiele dachte. Gifte, falsches Vertrauen … sofort dachte er an die Warnungen des Drachen. Was, falls er wirklich bereits vergiftet wäre, wie es der Drache gesagt hatte? Ein heißer Impuls in seiner Brust ließ ihn schweigen. Nicht nachfragen, es war zu früh dafür. Seath setzte ihre Gedanken fort.

»Dass du jeden vorstellbaren Fehler überleben könntest, bedeutet nur, dass du am Ende allein sterben wirst. Nicht, dass du keine Fehler machen wirst oder sie nicht zu fürchten brauchst. Eric, du musst das verstehen. Wir müssen annehmen, dass nur du eine realistische Bedrohung für den Herrscher darstellst und wie gesagt bedeutet dies, dass du stärker sein musst oder es mal sein könntest. Nichts Anderes würde seine jahrelange und brutale Suche nach dir erklären oder rechtfertigen. Und dass er nach dir sucht, wissen wir bestimmt. Warum er das tut? Ich wiederhole es gern, es sind nur Vermutungen. Leider müssen Menschen entscheiden, ob die Wahrheit relevant ist oder ob Vermutungen erst einmal reichen müssen. Ich persönlich bin mir sicher, dass es nicht nur deine Macht sein kann, die ihn lockt. Mit der Zeit könnte er uns wahrscheinlich überwinden. Immerhin sind er und seine Großmeister viele Generationen alt. Sie haben alle Zeit der Welt, um uns in einem langen, zermürbenden Prozess zu besiegen. Du musst mehr Bedeutung haben als eine Beschleunigung dieses Prozesses. Naja. Alles nur Ideen.«

Eric sah auf den Boden, entspannte seine Augen. Er nickte stumm, horchte in sich hinein und entdeckte ein leises Gefühl von Verwundbarkeit. Nichts Neues, aber im Kontext all der Informationen, welche Seath ihm gerade mitteilte, wirkte diese Verwundbarkeit so unglaublich weitreichend und relevant. Das zweite Gesetz: Nichts war perfekt, kein Geschöpf konnte vollständig unbesiegbar sein. Seath stand auf.

»Niemand ist in der Lage, die Verantwortung zu übernehmen die auf dir lastet. Das ist eben deine Aufgabe. Wir können dich unterstützen, aber am Ende stehst du allein da. Ich fühle mich schuldig, genau wie alle anderen Großmeister, nicht mehr für dich tun zu können als dich zu leiten und für dich da zu sein, als deine Verbündeten und Vertrauten. Sofern du das wünschst. Aber wir glauben an dich, Eric. Welches Opfer du bringen musst sei dir überlassen, wir alle werden es akzeptieren. Jetzt komm mit, ich bringe dich zu Jack. Ich habe euch beiden ein Zimmer freigemacht. Und heute Abend lernst du die anderen Meister kennen, sie kommen aus den umliegenden Städten und bekannten Regionen. In den nächsten Tagen erhältst du deine erste Unterrichtseinheit, du lernst kämpfen. Falls du möchtest, mit Jack zusammen. Bei Mir oder Mia. Und vergiss niemals, wer du bist, verzweifle nicht. Ein wesentlicher Teil der Macht des Herrschers ergibt sich daraus, dass er intelligenten Wesen ihre Namen nehmen kann, so nennen wir es. Kaum etwas ist so sehr mit der Seele verknüpft wie der eigene Name. Es ist kein einfaches Prinzip, vielleicht erkläre ich es dir ein anderes Mal. Aber im Grunde bedeutet es, dass man sich selbst vergisst und nur noch durch den Herrscher existieren kann. Entweder für ihn, oder durch den Kampf gegen ihn. Kurz gesagt, alles dreht sich um ihn. Dieser Zustand kommt schleichend und kann nur schwer durchbrochen werden. Er ist dahingehend ein Genie. Egal, was man tut, er kann es gegen einen verwenden. Infolgedessen wirst du unvermeidlich leiden. Es werden Entscheidungen auf dich zukommen, welche du niemals treffen möchtest. Das erleben viele und noch viele mehr in Zeiten wie diesen. Du kannst, also zweifle nie daran, ob du wirst. Nicht denken, wissen. Es ist nicht viel Zeit und vieles wird sich dir vorerst nicht erschließen. Hab Geduld.«

Eric stand auf und fühlte sich, als hätte jemand ihn kräftig durchgeprügelt. Chaos in jeder Ecke seines Geistes, Informationen über Fragen über Informationen. Müdigkeit. Er wollte noch so viel mehr wissen, aber für heute reichte es. Doch ehe Seath sich der Tür zuwandte, stellte er noch eine letzte Frage. Es war eine Art unbedachtes Öffnen seines Geistes, er sprach es einfach aus und war fast überrascht, als er die eigene Stimme hörte.

»Seath, manchmal fühle ich mich, als wüsste ich nicht, wer ich bin. Fürchten die Menschen mich?«

Seath blieb stehen, sah ihn mit einer Mischung aus Sorge und Mitgefühl an.

»Ja, einige. Andere nicht. Du kannst nicht viel dagegen tun, außer ihnen zu zeigen, dass sie das nicht müssen. Oder sollten sie?«

»Keine Ahnung. Nein. Ich denke nicht. Solange sie mich nicht bedrohen oder … Nein. Ich will ihnen nichts Schlechtes.«

»Gut, dann zeige ihnen das. Sie sind nicht dumm. Wer hierher kommt und dieses Leben führen kann, ist stark oder sehr intelligent, oft beides. Es wird Feinde und Geheimnisse geben, Eric. Feinde der Idee, dich hierher zu bringen. Feinde der Aussicht darauf, sich mit einem Wesen wie einem Drachen einzulassen, von dem man so wenig weiß. Wo Menschen sind, gibt es Missverständnisse und verschiedene Ansichten. Vorprogrammierte Konflikte. Wir helfen dir, wann immer wir können. Denke daran. Aber die meisten wissen auch, dass ihre Kinder und Familien nur dank dir den heutigen Morgen überlebt haben. Und speziell die Krieger sind sehr daran interessiert, dich kennenzulernen. Die Kämpfer aus den Ewigen Wäldern sind sicherlich die stärksten unter allen bekannten Völkern. Viele Widerstandsgruppen sind hier entstanden, unsere Geschichte baut auf Widerstand und Gemeinschaft. Du wirst davon hören.«

Sie verließen den Raum, gingen durch den Flur und durchquerten die runde Halle auf die andere Seite. Dort war eine Holztür, ein paar Schritte neben der Treppe. Seath öffnete sie und sagte:

»Da hinein, dort ist euer Zimmer. Ein Badezimmer ist auch dabei. Es mag hier zwar alt aussehen, aber wir haben warmes, fließendes Wasser und eine Kanalisation. Das haben wir schnell von denen auf der Erde gelernt. Ständig, während all der Zeit, brachten die Menschen ihr Wissen und ihr Handwerk mit hierher, verbanden es mit Magie und dem, was ihnen diese Welt anbot. Auch heute noch gibt es einen regen Austausch zwischen den Magiern hier und auf der Erde. Es ist wunderbar! Wenn ihr beiden mehr über unser Leben wissen wollt, sprecht mit den Menschen. Ihr werdet eng mit ihnen zusammenleben und arbeiten, also keine Scheu. Es ist die letzte Tür, geradeaus. Und mach dir keine Sorgen, alleine seid ihr da nie, hier sind immer auch andere in den Nebenräumen. Und abends ist auch die hohe Halle immer voll, Jack wird sie dir zeigen. Geh jetzt. Falls du Hilfe brauchst, frage Jack oder rufe mich in Gedanken. Die Ferngespräche hier sind kostenlos!«

Sie zwinkerte ihm zu und schloss die Tür hinter sich. Der kurze, breite Flur war ebenso hell beleuchtet wie der Rest des Tempels und er war genau so schlicht und schön wie Seaths Arbeitszimmer. Eric ging auf die letzte Tür zu und öffnete sie leise.

Drachenkind

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