Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеJemand klopfte ihm auf die Stirn. Merkwürdig. Eric verstand nicht, woher es kam, aber er öffnete vorsichtig die Augen. Er lag im Schatten einer großen Tanne. Mit einem Ruck löste sich die Trägheit aus seinen Gliedern und alles gerade Erlebte brauste durch seinen Kopf. Desorientiert setzte er sich auf.
»Yo! Gut geschlafen?«
Jack stand über ihm, er achtete gar nicht auf den müden und erschrockenen Gesichtsausdruck seines Freundes.
»Erzählen. Was erlebt? Wie lange es für dich gedauert? Wen du getroffen?«
Eric blinzelte verwirrt. Jack sprach nicht, er hatte die Hand vor seinem Mund und machte ein nachdenkliches Gesicht. Trotzdem hörte Eric ihn laut und deutlich …
»Also doch, du jemanden gefunden. Dachte ich mir. Nicht wundern, Gedankenlesen jetzt normal für dich. Du wahrscheinlich können besser als ich. Sollen ich aufstehen helfen?«
Eric schwieg. Er analysierte seine eigenen Gedanken und schloss für einen Moment die Augen, überlastet von einer unfassbaren Fülle an Details aus seiner Umgebung. Er sah Jack immer noch vor sich, fast besser als mit offenen Augen. Eric merkte, dass da ständig etwas in seinem Kopf war, was die Erinnerungen an das Erlebte nicht preisgeben wollte. Er spürte den Herzschlag seines Freundes, wie sich die Vibration durch dessen Körper in den Boden übertrug. Er öffnete die Augen, nickte und ließ sich von Jack hoch helfen, wenn man das so nennen konnte. So stand Eric Sekunden später wackelig neben dem Baumstumpf, auf dem er zuvor gesessen hatte. Er erinnerte sich sofort, als er ihn sah. Jack trat ungeduldig von einem Bein auf das andere und überlegte, was er sagen sollte. Moment … woher kam diese Gewissheit? Eric sah Jack an. Der grinste.
»Komisch, ich wissen. Man sich erst daran gewöhnen, Stimmen zu hören. Aber nach Zeit du lernen, sie unterscheiden. Ich will wissen, was du gesehen. Wenn du schon von Sitzplatz fällst, es muss sehr interessant sein.«
Eric musterte Jack, sah ihm in die Augen. Tatsächlich, er konnte genau sehen, was der dachte. Es sah aus, als würden sich hinter Jacks Kopf schleierhafte Bilder bewegen und im Moment sah Eric sich selbst, wie er da im Gras stand. Je mehr er sich konzentrierte, desto mehr von Jacks Emotionen mischte sich unter die Bilder und Eric konnte direkt spüren, was Jack empfand.
»Wie hast du das gelernt?«, war alles, was er zustande bringen konnte.
»Mia haben es gezeigt, wir zusammen meditiert und geübt. Aber ich nicht können so gut. Ich nur Gedanken lesen, keine Absichten oder tiefste Geheimnisse. Aber ich werde besser. Sag schon!«
Eric fühlte sich anders. Es war, als wäre er ein Stück gewachsen und leicht wie nie zuvor. Fast befreit, als ob er jetzt alles tun könnte, wenn er nur nicht so müde gewesen wäre. Er streckte sich und gähnte, bemühte sich, seine wirren Gedanken und Empfindungen irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Als Eric an seinen Armen entlang sah, stellte er erschrocken fest, dass sie sich verändert hatten. Sie erschienen etwas dicker und auch sein Rücken und seine Brust fühlten sich ganz anders an, sein ganzer Körper war wie von einer seltsamen Spannung durchzogen. Schon war er mit seinem Verstand am Ende und gleich darauf war es ihm unangenehm, den kleinen Jack da stehen zu sehen, während er selbst, größer und stärker, jetzt auch noch einen beachtlichen Muskelzuwachs zu verzeichnen hatte. Jack schüttelte den Kopf.
»Nicht schämen, so du mich besser gegen Arschlöcher verteidigen. Und du sehen gut aus. Fast wie vorher, glaub mir. Bestimmt niemand bemerken, ohne sehr genau hinschauen. Und ich nicht beneiden, denn du jetzt eine Verantwortung, für die du mehr brauchen als Kraft. Aber Mia werden dir sagen, was es sein, ich es nicht genau wissen. Und dann ich dir erklären, warum ich weiß, was ich wissen. Aber jetzt sagen endlich, was geschehen? Ich gespannt!«
Eric sah seinen Gefährten an, konnte ein dankbares Lächeln nicht unterdrücken. Trotzdem blieb die Verlegenheit. Wortlos ließ er sich wieder auf den Baumstumpf fallen und beruhigte sich, ehe er Jack endlich erzählen konnte, was er gesehen und erlebt hatte. Nur die Bedeutung dessen, was der Drache ihm mitgeteilt hatte, behielt er für sich. Er wollte genau darüber nachdenken, bevor er es teilte. Ein kurzer Anflug von Schuld im Angesicht jenes unterschwelligen Misstrauens, welches der Drache ihm eingepflanzt oder eher in ihm wachgerufen hatte, verschwand sofort wieder.
Jack hörte Eric zu und wie immer, wenn er sich konzentrierte, sagte er kein Wort, stand einfach nur da und starrte Eric an, doch es war nicht der geringste Zweifel in seinem Blick. Obwohl Eric genau spürte, dass sein Freund anfangs Schwierigkeiten hatte, sich alles vorzustellen. Ständig zogen Geräusche und Bewegungen Erics Aufmerksamkeit auf sich und es kostete ihn Mühe, sich auf das Erzählen zu besinnen. Als er fertig war, hielt er sich die Hände vors Gesicht und schloss wieder die Augen. Diese Müdigkeit und Veränderungen … Er machte sich Sorgen, dass er sich nicht an sich selbst würde gewöhnen können. Aber Jack sagte munter:
»Ich gewusst, du sein etwas Anderes. Du haben gefunden, wonach suchen solltest. Geschafft! Jetzt du lernen, deine Kräfte zu kontrollieren, sonst wir alle kriegen Probleme. Jetzt komm, wir schon über drei Stunden hier. Wir sollten zurück zu anderen.«
Eric traute sich nicht einmal, aufzustehen. Was würden die anderen sagen? Er hatte keine Lust auf doofe Blicke oder Geflüster. Unter anderen Umständen wäre ihm so etwas immer egal, aber so, wie er jetzt aussah, wie eine Miniausgabe von irgendeinem Helden, gefiel er sich ganz und gar nicht.
»Hast du nicht erfahren, dass du deinen Körper beherrschen? Du können bestimmen, wie du aussehen. Du dich nur müssen sehr konzentrieren. Und du können dich verwandeln, in alles, was geben dir seine Freundschaft. Darum ich dich beneiden. Ich schon immer wollte fliegen können.«
Eric sah Jack verwirrt an, kaum noch aufnahmefähig, es wirkte so unerklärlich und seltsam. Jack schien im Voraus klare Erwartungen an das gehabt haben, was Eric hätte erleben können. Denn von dem, was Jack gerade sagte, hatte der Drache nichts erwähnt. Bei dem Gedanken an das Drachenfeuer wurde ihm sofort heiß. Er spürte, dass es keiner Erklärung bedurfte. Der Drache hatte völlig recht gehabt. Es war absolut unmöglich, jenes Feuer und dessen Wirkung zu vergessen. Eine merkwürdige, beängstigende Gewissheit ergriff von ihm Besitz, nistete sich schleichend in Erics Bewusstsein ein wie das Flüstern einer glühend heißen Stimme. Er konnte alles tun. Es gab keine Grenzen, außer jenen, welche er sich selbst schuf. Wenn er sich nur an alles erinnern würde … Aufgabe. Es gab eine Aufgabe … welche?
»Wie?«, fragte Eric erschöpft und ratlos, während er noch immer das Gefühl hatte, den Unterschied zwischen gedachten und gesprochenen Worten nicht zu bemerken. Alles war vermischt. Jack wurde ungeduldig.
»Hören auf, immer nach Erklärung zu suchen. Konzentration! Du müssen an dich glauben, wenn du Selbst beherrschen willst. Und du tun in dein Inneres, sonst du hätten nichts gefunden. Jetzt glaube, was du bist. Mann, das doch nicht so schwer! Hör auf, so viel zu denken. Sei einfach!«
Eric sah ihn an. Er konnte seine Zweifel in dem Moment einfach nicht ignorieren und dachte immer wieder, er säße in einem Traum fest, aus dem er nicht mehr aufwachen würde, während er aber gleichzeitig wusste, dass er sich noch nie so wirklich gefühlt hatte wie jetzt gerade mit dem Drachen auf dem Eis. Er nickte Jack zu und schloss noch einmal die Augen. Aber dieses Mal, um sich auf sein Inneres zu konzentrieren. Er sah den schwarzblauen Drachen, blickte direkt in dessen unfassbare Augen und spürte seine gewaltige Nähe. Je mehr sich Eric dieser Vorstellung annäherte, desto realer fühlte er, wie seine Flügel riesige Mengen des Sonnenlichtes einfingen, währed er einen zitternden Menschenjungen umwanderte und dessen Gedanken und Gefühle überwachte. Er sah durch die Augen des finsteren Wesens, schaute sich den Menschen genau an und ihm wurde schnell klar, dass er sich tatsächlich so gut wie gar nicht verändert hatte. Jack hatte recht. Vielleicht dachte er das nur, weil ihm nun alles an und in sich bewusstgeworden war. Er begriff, was das bedeutete. Bis heute hatte er sich selbst offenbar immens unterschätzt, innerlich und äußerlich. Er hatte sich so viel schwächer gefühlt, als er es scheinbar war. Vielleicht wirkte er einfach nur neu für sich selbst. Doch da war noch mehr. Eine Art betäubendes Kribbeln, irgendwo in seinem Kopf. So viel Neues … Wie sollte er mit dem, was er gerade fühlte, weiterleben? Vielleicht hatte Jack recht: Er würde glauben müssen, um zu verstehen. So holte er tief Luft und fasste einen Entschluss. Er würde damit anfangen, bei Mia all das zu lernen, was sie auch Jack beigebracht hatte. So würde er vielleicht verstehen, was seine Aufgabe war. Als er die Augen öffnete, strahlte Jack ihn an und klopfte ihm auf die Schultern.
»Ja, Mann! Ich denken, du werden besser und besser. Also, wenn wir nicht beeilen, dann fahren die ohne uns, wie letztes Mal und wir verpassen Abendessen!«
Eric lachte. Selbst jetzt dachte Jack ans Essen.
Sie gingen zusammen durch den Wald und unterhielten sich über Erics Erfahrung, die Jack sehr interessierte. Eric beobachtete sich selbst dabei, wie er blitzschnell wählte, was er Jack mitteilte und was nicht, während jeder noch so kleine Sinneseindruck irgendetwas in ihm anregte. So behielt er die Warnungen, welche der Drache ausgesprochen hatte, konsequent tief verborgen in seinen Erinnerungen. Er spürte deutlich, dass er von einer tiefgehenden und potenziell feindseligen Vorsicht befallen war, welche nur all denen entgehen würde, welchen er vertraute. Das betäubende Kribbeln ließ langsam nach, allerdings spürte Eric, dass es nicht gänzlich verschwinden würde. War es schon immer da gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber es wirkte vertraut, fast schon normal.
Jack konnte sich das Erlebnis kaum vorstellen, einem Drachen zu begegnen und erzählte Eric davon, dass Drachen gar nicht mehr existierten, dass sie verehrt würden und nur in der Welt der Menschen noch ständig als miese und ekelhafte Viecher auftraten. Sein Vater habe ihm oft von einem Ort erzählt, der anders wäre. Vielleicht von einer anderen Welt. Jack konnte sich nicht genau erinnern, er war damals zu jung, doch sein Vater hätte ihm kurz vor dessen Tod einen Brief hinterlassen und Mia habe gesagt, er sollte mit dem Öffnen warten, bis in seinem Leben etwas geschah, das es wert sei, Unglaubliches zu glauben. Nun hatte sich Jack offenbar entschlossen, den Brief bei Mia abzuholen.
Jack ging ein paar Schritte vor Eric, weil er es kaum erwarten konnte, den Brief in die Finger zu bekommen. Eric studierte wie im Halbschlaf die Gestalt des Drachen, rief sich die Gefühle wieder in Erinnerung. Zweibeiner oder Vierbeiner? Irgendwo dazwischen, beides funktionierte offenbar und er schien auch mit allen vieren greifen zu können. Plötzlich spürte Eric einen kurzen, stechenden Schmerz, Bilder zuckten grell und heftig durch seine Gedanken. Erschrocken blieb er wie angewurzelt stehen, doch es war schon vorbei. Jack hatte es nicht einmal mitbekommen, doch nun hielt auch er an, weil Eric nicht weiter ging.
»Was ist? Eric, alles okay?«
Jack kam zu Eric zurück, als der nicht reagierte. Die Bilder hatten sich wie Blitze in seinem Geist eingebrannt. Er sah Jan auf dem Boden liegen, blutend und mit entstelltem Gesicht und verdrehten Gliedern. Mit weit aufgerissenen Augen. Er war tot.
»Eric, hey! Augen auf, Bruder!«
Eric öffnete bestürzt seine Augen. Jack stand vor ihm, starrte ihm direkt ins Gesicht und hielt ihm eine Hand auf die Brust, prüfte seinen Herzschlag. Eric wusste nicht, wie er auf das, was gerade passiert war, reagieren sollte.
»Ich … Hast du das auch manchmal? Du siehst plötzlich Dinge und …«
»Was? Du sehen etwas?«, fragte Jack, der ein wenig besorgt wirkte, als Eric seine Frage nicht beendete.
Eric blickte ihn ratlos an.
»Ehm … nichts. Ich … sorry. Ich habe gerade Jan gesehen und … er sah nicht so toll aus.«
Jack lachte.
»Jan? Warum so überrascht? Er nie toll aussehen. Oder du noch etwas Anderes gesehen?«
Jack schien zu merken, dass Eric ihm nicht alles sagte. Als Eric ihm in Gedanken zeigte, was er gesehen und gespürt hatte, fror Jacks Gesicht quasi ein. Er starrte ihn an.
»Nein, sowas ich nicht kennen. Du sehen das zum ersten Mal?«
Eric nickte, Jack dachte nach.
»Eric, ich weiß nicht. Aber es sehen aus wie ein Problem. Du müssen mit Mia reden.«
Eric bestätigte nur, sein Herz beruhigte sich und ihm lief ein kühler Schauer den Rücken runter. Der Anfang eines neuen Traumes? Vielleicht. Stumm gingen sie weiter.
Als sie nach ein paar Minuten die Wiese überquert hatten und an den Feldweg kamen, mussten sie feststellen, dass niemand mehr da war. Eric seufzte. Wie sollte er so erschöpft die dreißig Kilometer bis in die Stadt schaffen? Er ließ sich auf den Hintern ins Gras fallen und sah lachend Jack dabei zu, wie der fluchend und schimpfend wie ein Tiger auf und ab ging.
»Diese Verrückten! Sie doch nicht einfach uns vergessen! Wenn ich Jan in Finger bekomme, dann machen du ihn fertig! Er bestimmt wieder gesagt, dass wir mit ersten Bus nach Hause! Warum glauben die ihm das? Scheiße …«
Schließlich ließ auch er sich schnaubend neben Eric ins Gras fallen und betrachtete ihn wütend.
»Da du sehen. Wenn du schneller, wir schon in Bus zu Abendessen sitzen können! Aber du ja so langsam!«
Eric sah ihn an, schlief beinahe ein. Jetzt wirkte Jack noch ein wenig kleiner, aber sein Selbstbewusstsein hatte sich mit Erics innerlicher Veränderung scheinbar noch gesteigert. Jan … Wieder sah er das Bild vor seinen Augen aufglimmen, vertrieb es jedoch gleich wieder.
»Ich war nicht zu langsam, wir sind zu spät. Vielleicht ist Mia schon mit dem ersten Bus gefahren. Nach all dem, was du mir über sie erzählt hast, glaube ich nicht, dass sie uns einfach vergisst.«
Jack beruhigte sich wieder und dachte einen zustimmenden Gedanken. Dann sah er zum Himmel, an dem die Abendsonne glühte und ihr warmes Licht großzügig verteilte. Eric wunderte sich über die plötzliche Anspannung in Jacks Gesicht und auch er sah zum Himmel. Er spürte es mehr, als dass er es sah: Dort oben, einige hundert Meter über ihnen, schwebten fünf oder sechs Punkte, die sich aber nicht bewegten. Sie hingen Still in der Luft, direkt über ihnen. Eric stieß Jack in die Seite.
»Was ist das denn?«, fragte er und sah wieder nach oben.
»Ich weiß nicht. Ich kenne das Bild aus Traum und ich bin sicher, es ein Albtraum. Also sollten wir verstecken, oder?«
Eric merkte Angst in sich aufsteigen, aber innerhalb von ein paar Sekunden dämmte er sie ein. Haku hatte einmal gesagt, dass Angst die größte aller Gefahren wäre, denn sie nahm einem die Kontrolle über sich selbst. Er dachte an den Drachen und das, was der über die Angst gesagt hatte. Jack klammerte sich fest an Erics Arm.
»Ich wissen, was es ist. Das sind Wächter! Ich nicht genau wissen, woher ich den Namen kennen, aber ich bin sicher. Und du auf keinen Fall in ihr Gesicht sehen, dann sie irgendetwas mit dir machen und es sicher nicht lustig!«
Mit einem Satz war Eric auf den Beinen. Er erinnerte sich an einen Traum, in dem er vor den Wächtern geflohen war. Auch er hatte keine Ahnung, wie genau sie funktionierten, aber vermutlich waren diese hier echt und er zweifelte nicht an Jacks Vermutung, dass sie nicht zum Feiern gekommen waren.
»Steh auf!«, rief er Jack zu und der gehorchte.
»Also, du derjenige mit Drachenseele, lassen dir was einfallen! Ich dir nicht verzeihen, wenn die mich noch länger von Esstisch fernhalten! Denk dir was aus! Scheißegal, was du machen, aber machen es schnell, sie kommen näher!«
Eric verstand die Angst, die Jack zu schaffen machte. In seinen Träumen hatten ihn diese Wesen verfolgt und sie hatten ihn mit ihren Gedanken fast umgebracht. Es war lange her und der Grund dafür, dass er damals nicht mehr schlafen wollte. Er dachte an den Drachen, aber der war ja leider nicht mehr da …
»Du bist es doch selber, du Genie! Schaffen sie uns vom Hals, sonst sie uns Hals umdrehen! Das können deine erste Aufgabe sein, die Arschlöcher entfernen!«
Eric stand wie festgefroren im Gras. Jack hatte recht. Aber er konnte doch nicht … Doch, er konnte. Eric dachte an seine Entscheidung und schloss die Augen. Er suchte den Drachen und fast sofort begann sich in seinem Brustkorb die gewaltige Hitze breit zu machen. Er erinnerte sich an sein Feuer, spürte, wie es sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreitete und ihm fast die Augenbrauen wegbrannte. Schockiert und geblendet stolperte er ein paar Schritte von Jack weg, um ihm nicht zu schaden, er erlebte abermals den Schmerz der enormen Temperatur, doch schlagartig wich dieses qualvolle Gefühl einem anderen Empfinden, viel stärker und unbekannt. Es war kein Schmerz mehr. Es ging so schnell, dass Eric es kaum merkte: Alles an ihm verlängerte sich, wurde größer, schneller und stärker. Er erkannte gleich das Gefühl der Erkenntnis wieder, welches der Drache ihm schon gezeigt hatte. Seine Wirbelsäule streckte sich schlagartig und sein Skelett veränderte sich rapide, seine Augen nahmen jede kleinste Bewegung und jedes Detail auf, seine Ohren konnte er zwar nicht mehr spüren aber er hörte das Rauschen der näherkommenden Wächter und Jacks Herzschlag so deutlich, als würden sie ihn anschreien, während sich die Fasern seiner Kleider und Schuhe glühend zersetzten und auflösten. Eric fühlte sich so stark, dass er gleich einen Freudenschrei ausstieß, der sich als markerschütterndes Brüllen entpuppte, welches jegliches Leben im angrenzenden Wald verstummen ließ und hunderte Vögel aus den Bäumen trieb. Als die Wächter zu fallen begannen und die Verwandlung beendet war, schnappte er sich Jack vorsichtig mit dem riesigen Maul und öffnete die mächtigen Flügel. Jack war von dem Anblick des Drachen so verblüfft, dass er lediglich den Fetzen eines Gedankens hervorbrachte:
»Shit! Passen auf, du mich fast aufgefressen und …«
Eric stieß sich mit den Hinterbeinen vom Boden ab und es fühlte sich an, als wäre er von einer gefährlich harten Sprungfeder nach oben geschossen worden. Er sah in Jacks Gedanken den kurzen Schock der extremen Beschleunigung, erinnerte sich an seinen Traum und das ihn anspringende Monster, mahnte sich selbst zur Vorsicht. Er jagte in Richtung Himmel und schoss schließlich mit irrsinniger Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit auf den Wald zu. Er spürte hinter sich die Wächter, wie sie versuchten, ihn und Jack einzuholen. Aber er gab sich noch nicht einmal Mühe, sie abzuhängen. Vielmehr spielte er mit seinen Kräften und wollte herausfinden, wo das hinführen würde. Jack hingegen machte das alles eher weniger Spaß. Eric hatte den Geschmack von Jacks Kleidung auf der langen Zunge und spürte, wie Jack langsam abrutschte, da er nicht fest zupacken konnte, ohne ihn mit seinem Gebiss zu töten. Besorgt spürte Eric die haardünnen Fasern des Stoffes und eine Sekunde später hatten ein paar der messerscharfen Zähne das Gewebe zerfetzt und Jack fiel wie ein Stein.
Eric bekam einen solchen Schrecken, dass er verzögert reagierte. Er stürzte sich in die Tiefe hinter Jack her, der ihn in Gedanken verzweifelt rief. Etwa zweihundert Meter über den Baumkronen streckte Eric eine seiner Klauen aus und packte Jack um die Hüfte, als würde er eine Flasche auffangen. Schnell spreizte er seine Flügel und im letzten Moment presste ihn ein warmer Aufwind wieder nach oben. Jack dachte nun gar nichts mehr, er hatte endgültig genug. Eric lockerte seinen Griff etwas, um sicherzugehen, dass er Jack nicht verletzte. Die Wächter rauschten noch immer hinter ihnen her, doch sie kamen nicht näher. Eric wollte ihre Gedanken lesen aber ihre Sprache oder Form der Kommunikation wirkte fremd, er konnte nicht zu ihnen durchdringen. Jack hatte sich von seinem kleinen Schock erholt. Er sammelte seine Kräfte, in Erics Kopf schallten seine Gedanken wie die Schläge auf einen Gong.
»Los, mach was! Sie sind noch nicht sicher, ob du mit ihnen fertig werden, aber ich! Also beenden Spielereien und fangen endlich an! Hören? Das nicht witzig! Gefahr! Eric, konzentrier dich!«
Eric bemerkte, dass er wie berauscht war. Es war einfach so unreal, so unglaublich und komplett unmöglich. Er hatte sich in einen Drachen verwandelt und jetzt flog er mit seinem Freund in der Hand mühelos über einen Wald. Er hatte Jack verstanden und wusste, dass der recht hatte. Eric sah sich kurz um, doch da waren keine Wächter mehr zu sehen. Jack las seine Gedanken.
»Ich sagen ja, du zu langsam! Sie können verschwinden und dann wieder da sein! Sehen nach vorne! Ich hoffen, du haben Feuer unter Arsch …!«
Noch bevor Jack zu Ende gedacht hatte, spürte Eric eine minimale Veränderung des Luftdrucks, etwa vierhundert Meter vor ihnen. Er sah sofort hin, erkannte die Wächter und ihre Augen sahen direkt in seine. Rot leuchtend und ausdruckslos steckten sie in gesichtlosen Köpfen, welche unscharf wie von dunklem Rauch umgeben schienen. Aber er konnte nichts spüren, sie schienen ihm nicht zu schaden. Kaum eine Sekunde später drehte er sich reflexartig auf die Seite und wich ihnen knapp aus, wendete geschmeidig. Er versuchte, sie mit seinen Augen so festzunageln, wie der Drache auf der Eislandschaft es mit ihm gemacht hatte. Und mit einem Mal las er ihre Gedanken und inneren Muster, er verstand sie einfach. Es waren nur zwei Absichten:
»Nehmt ihn. Tötet den Drachen.«
Offensichtlich hatte Jack Erics Gedanken gelesen, denn er erbrach reflexartig und hatte kaum noch Körperspannung in sich, weshalb Eric wieder fester zupacken musste, ehe er sich mit aller Kraft auf das Feuer in seinem Inneren konzentrieren konnte. Es war wie ein kurzes, unbekanntes Würgen, fast zwanghaft öffnete Eric das Maul und schoss den Wächtern vor sich eine enorme Flut sprudelnden Feuers entgegen. Zwei von ihnen gingen in Flammen auf und stürzten trudelnd in den Wald. Die anderen vier kamen so schnell näher, dass Eric nicht lange wartete: Einem Instinkt folgend, der ihn wissen ließ, dass noch viel mehr möglich war, holte er tief Luft und spie einen dichten Strahl blendend heller Flamen auf die restlichen Geschöpfe, die von der Hitze dieser leicht blau schimmernden Plasma-Erscheinung wie kleine Fliegen zerplatzten. Eric schloss die Augen bei dem Anblick, um nicht alles von ihren Innereien sehen zu müssen, musste aber sofort feststellen, dass er den Geruch und das Empfinden für das Geschehen so nicht blockieren konnte. Der unbekannte und faule Gestank kribbelte in seinen Nüstern und er konnte ihn schmecken, spürte plötzlich einen enormen Hunger. Eric horchte und wartete, ob er vielleicht noch ein paar Wächter hinter sich hatte. Doch nichts war mehr zu spüren, bis auf den keuchenden und kreidebleichen Chinesen in seiner Faust. Eric flog einen halben Looping, drehte sich dann wieder mit dem Bauch nach unten und glitt langsam auf den Strömen des atmenden Waldes zurück zur Wiese. Eric hatte noch nie gemerkt, dass der Wald atmete. Er hatte sich noch nie so frei gefühlt. Und noch nie hatte er sich solche Sorgen um Jack gemacht, der gerade bewusstlos wurde.
Ein leichter Ruck ging durch seine gewaltigen Muskeln, als er nach kurzem Schweben auf den Hinterbeinen landete. Kurz stand er aufrecht da, überblickte die große Wiese und die anliegenden Felder. Dann ließ er sich vorsichtig auf alle viere fallen, stützte sich mit seiner Linken ab und legte Jack ins Gras. Der sah sehr krank aus. Eric las Jacks völlig orientierungslose Gedanken und spürte besorgt, welche Schmerzen er empfand. Vielleicht hatte Jack sich beim Erbrechen verletzt oder sich während des Fluges was gebrochen. Oder - Erics Drachenherz machte einen Sprung - hatte auch Jack den Wächtern in die Augen gesehen? Eric wusste nicht, was er tun musste oder was überhaupt geschehen würde, falls das so wäre. Er bereute immer mehr seine Unwissenheit, verdammte sich dafür, nicht wie Jack bei Mia gelernt zu haben. Er senkte seinen großen Kopf, roch an Jack. Angstschweiß und Erbrochenes, hunderte anderer Noten und Aromen, sogar das warme Blut in seinen Adern. Eric zog die empfindliche Schnauze zurück, verdrängte müde das Gefühl des Hungers und unterdrückte irritiert den Drang, den kleinen, warmen Körper mit der Zunge zu untersuchen. Schließlich legte er sich hin, ringelte Jack mit seinem Schwanz ein, damit er es warm hatte und legte den Kopf auf die großen Pranken. Vorsichtig grub er die Klauen in die kühle, feuchte Erde der Wiese und zuckte zusammen, als der Tastsinn sein Bewusstsein mit den Bewegungen unzähliger Wesen überflutete, welche sich in der Erde, zwischen den Grashalmen der Wiese und überall um sie herum bewegten.
Hatte er Jack verletzt? Er war wirklich unvorsichtig gewesen, hatte vielleicht zu lange gespielt. Was hatten die Wächter gewollt? Den erhaschten Absichten nach Jack nehmen und den Drachen töten wollten. Warum? Ein grimmiges Knurren entwich Erics Kehle, er öffnete die Flügel und drehte sie in die tief stehende Sonne. Wie kamen sie darauf, einem kleinen Menschen etwas antun zu müssen? Er stellte keine Bedrohung dar. Eric hob den Kopf. Seine Art zu denken hatte sich auch verändert. Er stellte fest, dass er alle Zweifel verloren hatte. Nicht verwunderlich nach dem, was gerade gewesen war. Er sah Jack wieder an, den er mit seinem Schwanz fest umschlungen hielt, wie eine Würgeschlange ihre Beute. Er hatte gar keine Probleme gehabt, sich in den Drachen hineinzuversetzen und dessen Gestalt anzunehmen. Er konnte es einfach, es war wie angeboren, mehr noch, es erschien wahrhaftig. Und er hatte einen Schwanz! Irgendwie kam ihm das komisch vor, das befremdliche Gefühl, dass die Wirbelsäule nicht einfach am Hintern endete und der Körper überhaupt so anders war. Er bewegte ihn belustigt auf und ab, wiegte Jack und konnte sein Gewicht doch nicht merken. Nur erahnen, Eric spürte Jacks Lebenszeichen, wie sich ihre deutlichen Schwingungen von den tief schwarzblauen Schuppen verstärkt durch den eigenen Körper bewegten. Da regte sich sein Freund. Jack hustete und keuchte, sein Gesicht sah in der frühen Dämmerung noch gruseliger aus als zuvor. Eric ließ ihn nicht los, beugte sich mit dem langen Hals über ihn und bohrte seinen Blick in ihm fest, während er unwillkürlich schnüffelte.
»Wahnsinn!«, hörte er es in Jacks Kopf klingen. Er machte den Eindruck, als könnte er sich kaum zwischen Wut und völliger Begeisterung entscheiden.
»Du sein wirklich … Ich meinen … Du können wirklich … Du ein wunderschöner Drache, muss ich sagen. Aber auch bescheuert, leichtsinnig! Wenn du nicht bei Mia lernen, deine Kräfte kontrollieren, ich nie wieder reden ein Wort mit dich. Viel zu gefährlich! Du mich fast umgebracht, du Biest! Ah …«
Eric war erleichtert, ein Stein fiel ihm vom Herzen. Scheinbar ging es Jack etwas besser, er dachte wieder klar und deutlich.
»Willst du denn nach Hause laufen?«, fragte er ihn vorsichtig in Gedanken.
Jack sah ihn giftig an und Eric lockerte die Fesseln seines Blickes.
»Niemals«, röchelte er und versuchte, sich aus der festen Umklammerung von Erics langem Schwanz zu befreien. Völlig aussichtslos, Eric ließ vorsichtig los. Jack fluchte.
»Na toll, jetzt habe ich mich an ein Spitze von dich geschnitten. Es vielleicht giftig, aber noch bin ich ja auch nicht tot …«
Eric erstarrte. Er konzentrierte sich auf sein Inneres. Giftig?
»Nicht für dich«, dachte Eric deutlich und Jack war erleichtert. Eric hielt inne, während Jack sich den kleinen Schnitt genau ansah und die Hand weg zog, als die Schnauze des Drachen sich dem kleinen Tropfen Blut näherte. Hatte er das wirklich gerade gedacht? Woher kam die Gewissheit? Eric spürte gerade noch, wie etwas in ihm sich aus seinem Bewusstsein zurückzog. Als wäre da noch jemand, der ihn gerade hatte wissen lassen, dass der Schnitt für Jack ungefährlich wäre.
Jack machte einen zufriedenen Eindruck. Eric stellte ihn auf dem Boden ab, setzte sich auf und sah auf ihn herunter. Er sah ziemlich so aus, wie eine sehr große Ratte für einen Menschen. Er faltete fast wiederwillig die Flügel zusammen, um Jack aus dem Schatten ins warme Sonnenlicht zu lassen, da der etwas unterkühlt wirkte und sein Geist sich wie zur Erholung nach Licht sehnte.
»Ich werde fliegen, falls du nicht laufen willst. Du musst nur irgendwo sitzen.«
»Ja, direkt auf dein Nacken, ich können mich an Hörnern Festhalten. Gut, lassen mich hoch!«
Eric legte zögerlich den Kopf auf den Boden, weil ihm nichts Besseres einfiel und Jack kletterte unsanft an seinem Gesicht hoch, wäre ihm fast auf eines der schlitzförmigen Atemlöcher getreten. Scheinbar wollte er sich für Erics Rücksichtslosigkeit während des letzten Fluges rächen. Er rutschte auf den harten und glatten Schuppen aus, von denen die meisten mindestens so groß waren wie seine Hände. Er klammerte sich an eines der Hörner, von denen Eric einige am Kopf hatte. Als Jack endlich saß, meinte er:
»Falls du mich aufspießen, ich dich umbringen. Und ich glauben, wir uns beeilen, es werden bald dunkel. Und nicht zu schnell, Wind da oben ist kalt!«
Eric hob vorsichtig den Kopf, stieß sich wieder vom Boden ab und stieg dieses Mal deutlich langsamer und behutsamer immer weiter in den Abendhimmel.