Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 5

Kapitel 2

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Eric schreckte mit einem stummen Schrei in der Brust und schmerzhafter Spannung im Körper aus dem Schlaf auf und kippte sofort wieder zurück, von etwas weichem erstaunlich fest im Gesicht getroffen. Orientierungslos griff er reflexartig nach dem, was ihn umgehauen hatte. Er konnte sich vor lauter Anspannung kaum bewegen und sah schließlich nur unscharf den farbigen Stoff des großen, bunten Kopfkissens vor sich. Die Schmerzen im ganzen Körper pulsierten wild in seinen Gedanken. Langsam wurde ihm klar, dass es taghell war und Jack das andere Ende des Kissens fest umklammert hielt, als wollte der ihn sofort noch einmal schlagen. Eric entspannte sich, sein Bewusstsein taute auf. Ja, richtig. Wie fast jeden Morgen. Jack hatte im Heim ein Spiel verbreitet: Wer seinem Zimmergenossen morgens als Erster eins mit dem Kissen verpasste, war von allen Haushaltspflichten entbunden. Der Verlierer musste die Betten machen, putzen, Küchendienst und andere Dinge erledigen, sofern notwendig. Eric hasste dieses Spiel, genau wie seinen Namen. Aber er mochte den lebensfrohen Jack mehr als irgendjemanden sonst. Nur darum ließ er sich das gefallen. Er würde Jack sowieso nie derart mit dem schweren Daunenkissen schlagen, denn der kurze Chinese würde dann wahrscheinlich quer durch das kleine Zimmer fliegen.

Jack war trotz seiner vierzehn Jahre noch immer einen Kopf kleiner als Eric, der etwa eins-dreiundsiebzig groß war. Dies war auch der Grund dafür, dass Eric selbst dann die Betten machte, falls Jack verschlief, denn der konnte es kaum mit den schweren Matratzen aufnehmen oder die Decken schütteln, ohne sie über den Boden zu schleifen.

»Stehen auf, stehen auf! Es schon spät, gleich frühes Stück und ich warten. Wenn du nicht gleich am Start, ich schlagen dich kaputt …«

Eric lächelte müde, resignierend schloss er die Augen und schüttelte den Kopf. Jack war bereits lange hier im Heim, verstand jedes Wort. Und doch schien er die Sprache nicht richtig anzunehmen. Egal, Eric hatte das Spiel verloren. Schon wieder. Bei der Vorstellung, dass der kleine Jack, gerade ein wenig größer als sein Kopfkissen, ihn mit diesem erschlagen wollte, musste er lachen. So vergrub er sich herausfordernd unter der warmen Decke und unterdrückte den stechenden Schmerz in seinem Oberkörper, welcher gerade noch zwischen den Zähnen einer tonnenschweren Bestie zerbrochen war. Jack lachte laut, entriss Eric das Kissen und ließ es drohend über dessen Kopf schweben, während Eric träge zurück in die Realität fand. Auch Jacks nächste Warnung wurde ignoriert und schließlich fuhr das große Daunenkissen schwer und heftig wie ein Hammer auf Eric nieder. In seinem Kopf hallte der Aufprall wie ein splitternder Schlag gegen eine unendliche, berstende Kristallmauer.

»Xiaolong, Arsch hoch! Frühstück! Yo, beweg dich, du Tier!«

Jack wurde ungeduldig, Eric seufzte. Warum merkte sich Jack ausgerechnet solche Worte? Sprach nach sechs Jahren immer noch kein richtiges Deutsch, aber seinem Unmut vielfältig und grob Ausdruck zu verleihen war nie ein Problem. Und dann dieser Name. Xiaolong … nicht auszuhalten! Eric mochte diesen Namen genau so wenig wie jenen, der in seinem Pass stand: Eric Simila. Er begriff nicht, wie seine Eltern ihn so hatten nennen können, aber so war es eben. Seine Mutter, Anna Simila, war vor sechzehn Jahren bei seiner Geburt gestorben. Kurz danach starb sein Vater stark alkoholisiert bei einem Autounfall. Die Nachbarin Mia, eine ältere Tibeterin, hatte ihn bei sich aufgenommen und später adoptiert. Da sie die Leiterin dieses Heimes war, lebte Eric nun hier. Zusammen mit Jack in einem Zimmer, seit ungefähr sechs Jahren. Und gleich am ersten Tag hatte dieser ihm den bescheuerten Namen Xiaolong aufgezwungen. Eric hatte schon damals gefragt, was der Name bedeutete, doch Jack konnte oder wollte es nie wirklich beschreiben. So fand sich Eric einfach damit ab, hatte sich beinahe dran gewöhnt und manchmal ging ihm der Aberglaube dieses Chinesen ohnehin auf die Nerven. Der Name provozierte ihn. Es war, als glaubte Jack, mehr über Eric zu wissen als der über sich selbst. Und jenes vermeintliche Wissen verheimlichte er gezielt, denn sonst würde er die Bedeutung des Namens einfach preisgeben. Manchmal wurde Eric von anderen auch einfach nur Tier oder Biest genannt, vor allem von den älteren. Sie meinten es meist nicht negativ, eher auf merkwürdige Weise anerkennend oder respektvoll. Doch Eric mochte dies noch viel weniger, denn auch der Grund dafür war kein guter. Dass Jack es tat, war nur ein noch deutlicheres Zeichen dafür, dass der etwas ernst meinte.

Eric war schwarz. So sagten es andere, allerdings hielt er die für farbenblind. Er war nicht schwarz, sondern einfach braun. Im Winter etwas heller als im Sommer. Im Nebenzimmer wohnte Tamara, eine Afrikanerin, sie war fast schwarz. Aber er nicht. Er hatte kohleschwarze Haare, die in gefilzten Strähnen dreißig Zentimeter herunterhingen. Zu dieser Maßnahme hatte Mia persönlich gegriffen, als sie herausfand, dass Eric sich weigerte, sich die Haare schneiden zu lassen. Es sah nicht ungepflegt aus, nur anders. Gut sogar, wenn er sie ab und zu mal wusch und bearbeitete. Vielleicht etwas zu wild, doch Eric war es egal. Was war schon zu wild? Jack hingegen hatte typisch asiatische, total glatte Haare, die er kämmen und frisieren konnte, wie es ihm passte. Am liebsten kurz und mit gefühlt einem Kilo Gel versehen. Das sah nicht schlecht aus, allerdings wirkte es dermaßen übertrieben und glitschig, dass man sich erst daran gewöhnen musste. Er übte wohl noch. Früher hatte er sich nie groß um seine Haare geschert. Jacks Augen waren schmal und wachsam, meist freundlich, manchmal erstaunlich kühl. Eric liebte Jack wie einen Bruder und Jack seinerseits sah in Eric ebenfalls viel mehr als nur einen Freund oder Mitbewohner. Ein erneuter Kissenschlag traf Eric, vor dessen Augen noch immer kleine, brennende Aschepartikel flimmerten, diesmal erstaunlich kräftig. Jack lachte und freute sich offensichtlich über die verschlafene Miene seines besten Freundes, den er soeben aus dessen Träumereien gerissen hatte. Er hatte keine Ahnung, was genau Eric träumte.

Während an diesem Samstag mal niemand die Betten machte, machte sich Eric mit Handtuch und Shampoo auf den Weg zu den Duschkabinen. Bald hörte er wieder jenes Kichern, welches ihn fast jeden Morgen auf dem Flur dorthin begleitete. Es waren die schlimmsten drei Weiber der Welt, wie er zu sagen pflegte. Ingrid, Maya und Ina. Allein diese Namen, so langweilig und so traditionell. Er hatte manchmal was gegen Namen, empfand sie auf seltsame Art wie Schlüssel zu irgendetwas, wie Hinweise oder Passwörter. Als wären die Menschen mit ihren Namen so eng verbunden, wie mit nichts anderem, doch oft schienen diese einfach nicht zu passen. Diese Mädchen, alle drei fünfzehn Jahre alt, guckten jedem hinterher, der ein wenig muskulös aussah und riefen dem dann nach, dass sie ein Kind von ihm wollten. Eric verstand sie nicht und es war ihm auch nicht klar, was daran so unfassbar amüsant sein sollte. Menschen waren so seltsam. Gleichzeitig grübelte er über seine anfängliche und ihre noch immer anhaltende Verlegenheit. Was er wohl täte, falls eine von ihnen ihn ernsthaft ansprechen würde? Er grinste. Immerhin, sie sahen einen Grund, ihm nachzuschauen.

Als Eric schließlich am großen Duschraum ankam, fiel ihm gleich jene hämische Visage auf, mit welcher er in letzter Zeit allzu oft belästigt wurde. Jan, jemand, der sich für was ganz Großartiges hielt. Mia hatte einmal gesagt, niemand würde als Idiot geboren. Viele im Heim waren sich einig: Jan könnte die eine Ausnahme sein. Er war kaum einen Kopf größer als Eric und dennoch schielte er jedes Mal von oben auf ihn herab, soweit das möglich war, um seine imaginäre Vollkommenheit und Überlegenheit möglichst deutlich zu unterstreichen. Er war schwer und stark, sein Spiel allerdings durchschaubar. Jan hatte mehr Respekt vor Eric als vor allen anderen im Heim und doch versuchte er, genau das zu überspielen. Eric erinnerte sich ungern an den Grund, verspürte dann jedes Mal eine gefährliche Spannung in sich, als wollte er Jan umlegen. Jan war der Grund für Erics unfreiwilligen Ruf als Tier oder Biest und ließ kaum eine Chance aus, diese Begriffe möglichst abwertend zu verwenden.

Es war an dem Tag gewesen, als Jack zusammen mit einem anderen Jungen im Heim angekommen war. Jan, damals selbst elf Jahre alt, hatte dem Neuen und damals Siebenjährigen grundlos ins Essen gespuckt. Er hatte gewartet, ob der Kleine vielleicht losheulen oder einen sicher verlorenen Kampf beginnen würde. Doch Haku, der Japaner, wie ihn später alle nannten, hatte sich unbeeindruckt eine neue Schüssel Reis genommen und sich anderswo hingesetzt. Und genau das, nicht beachtet zu werden, hatte Jan schon damals nicht ausstehen können. Er hatte sich auf Haku gestürzt und ihm ins Gesicht geschlagen, den Kleinen am Boden gehalten und ihn nach allen Regeln der Kunst verdreschen wollen, während seine großartige Gang - wie sie sich stolz nannten - darauf achtete, dass niemand dem weinenden Jungen helfen würde. Selbst einige der Älteren hatten einen Moment gebraucht, ehe sie sich so langsam dazu entschließen konnten, einzugreifen. Eric jedoch war aufgestanden, wie aus dem Nichts und stumm wie ein Schatten hatte er Jans Freunde mit ungeheurer Kraft beiseite geworfen und Jan am Hals gepackt, ihn von Haku hochgerissen und scheinbar mühelos quer durch den Raum gezogen.

Als Jans Freunde Eric festhalten wollten, hatte sich Eric wie ein rasendes Tier brüllend von ihnen losgerissen und sich auf den geschockten Jan gestürzt, der sich gerade wieder aufrappeln wollte und gar nicht verstand, wie ihm geschah. Eric versetzte ihm damals einen Schlag und Jan war wie tot in einer Ecke liegen geblieben, aber Eric war ihm gefolgt und gerade, bevor er erneut zugeschlagen hätte, war er wie versteinert stehengeblieben und zu sich gekommen. Jedem der Umstehenden war sofort klar gewesen, dass Eric in dem Moment keine Ahnung gehabt hatte, was geschehen war. Nach einigen Sekunden war er neben Jan auf die Knie gefallen, verängstigt beobachtend, wie Jans Atmung völlig außer Kontrolle geriet. Als schließlich Mia herbeigestürmt kam und die Situation erkannte, hatte sie Eric kaum beachtet und Jan irgendwie aus dessen Bewusstlosigkeit geholt, ihn untersucht und ihm aufgeholfen. Jan war mit einer verstauchten Hand, Kratzern an der Kehle und einem steifen Nacken davongekommen, heulend und nach Luft schnappend in sein Zimmer verschwunden, begleitet von seinen Verbündeten, welche sich kaum getraut hatten, Eric aus den Augen zu lassen. Eric jedoch hatte sich nur wortlos die Tränen aus dem Gesicht gewischt, sich an seinem Platz niedergelassen und seine Mahlzeit fortgesetzt, als wäre nie etwas gewesen. Minutenlang sprach niemand ein Wort, alle starrten Eric an aber vermieden jeglichen Augenkontakt. Eric hatte keine Ahnung, was sie gesehen hatten, war damals selbst nicht einmal in der Lage gewesen, zu erkennen, was genau passiert war. Als Jack noch am selben Abend als neuer Mitbewohner zu Eric ins Zimmer geschickt wurde, hätte er sich fast vor Angst in die Hosen gemacht. Eric durfte sich ihm nicht nähern und Jack schlief die ganze Nacht nicht. Er gab Eric den Namen »Long«, soviel konnte Eric trotz all der fremden Worte begreifen. Nach zwei Monaten hatte sich zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft entwickelt und Jack setzte einfach »Xiao« davor. Schon einen Tag nach der Situation mit Jan hatten die ersten begonnen, Eric nur noch als wildes Tier oder Biest zu handeln. Der hatte sich dem bedrückt und beschämt ergeben, bevor ihm klarwurde, dass vor allem die Ältesten es respektvoll meinten. Lange hatte er niemanden fragen können, auch Jack nicht, was überhaupt passiert war.

So hatte Jan äußerst heftig gelernt, dass diesem Eric nicht zu trauen war und fortan versuchte er, seine Niederlage mit Bosheit zu überspielen. Er nutzte jede Gelegenheit, um Jack zu bedrohen, hatte ihn bisher jedoch nie angerührt. Während er und fast alle anderen Eric damals für viele Tage eher ausgewichen und mit Angst begegnet waren, hatte sich Jan bald erholt und begonnen, seinen Körper zu trainieren, um es Eric irgendwann einmal heimzahlen zu können. Von einem fiesen Jungen hatte er sich, durch Eric traumatisiert, in ein sadistisches, gewalttätiges Wesen verwandelt und sich seinen unangefochtenen Platz als Boss unter fast allen Jugendlichen der Umgebung erzwungen. Er duldete nur die Stärksten als Handlanger und war nie zimperlich, wenn es um Erniedrigung oder schlichtweg gelangweilte Gewalt ging. Eric war Jans letzte Hürde, wegen ihm und in seiner Gegenwart rührte Jan niemanden im Haus ernsthaft an, was jedem im Heim absolut klar war. Doch Eric beanspruchte weder Jans Position noch war er überhaupt an dem idiotischen Spiel interessiert. Er war einfach nur im Weg.

Eric blinzelte, als die Erinnerung verflog und eine zugeschlagene Tür ihn zurückholte. Verwirrt stellte er fest, dass kaum drei Sekunden vergangen waren, obwohl es sich anfühlte, als wäre er ewig lange abgedriftet. Nun stand Jan immer noch da, tatsächlich ziemlich stark und massig, blockierte den Eingang zum Duschraum und seine sechs Kumpel standen bedrohlich lächerlich hinter ihm. Fast alle groß, breit und dämlich, einer von ihnen zerlegte feixend mit offenem Mund einen Kaugummi. Doch die Unsicherheit in ihren Augen war noch immer nicht verschwunden, jeden Tag aufs Neue wurde das offensichtlich. Eric spürte sie wie einen Geruch, konnte ihre Angst fast schmecken. Ihre einzige Sicherheit bestand darin, dass sie Eric nicht allein gegenüberstanden und dass der nicht so war wie sie. Abgesehen davon, dass auch er mit den Jahren stetig stärker geworden war. Bevor sich Eric an ihnen vorbeischieben konnte, öffnete Jan den Mund.

»Morgenstunde hat Gold im Munde!«, rief Jan schrill und Eric war sich sicher, dass Jan ihn am liebsten mit einem harten Stoß am Weitergehen gehindert hätte. Doch das traute Jan sich noch nicht. Eric prüfte gelangweilt und routiniert Jans Begleitung, befand die Situation für ungefährlich. Er war müde und unaufmerksam, doch dieser Typ schaffte es jedes Mal, ihn aufzuwecken. Meistens sagte Eric gar nichts, doch gerade jetzt war es ihm so egal, dass er sich zu einer Antwort hinreißen ließ.

»Du bist aber nicht Morgenstunde und aus deinem Munde kommt den ganzen Tag nur Scheiß. Woran du meinetwegen ersticken darfst, du bist so langweilig. Jetzt lass mich durch, es gibt hier Leute, die wissen, dass man sich waschen sollte.«

Mit diesen Worten schob er Jan einfach beiseite und ging zur hintersten Kabine. Da hörte er Jan hinter sich:

»Nur dreckige Tiere waschen sich. Ach ja: Ich habe herausgefunden, was Xiaolong bedeutet!«

Eric hielt inne. Es nervte ihn schon, wenn Jack ihn so nannte, aber aus Jans Mundwerk klang das gleich noch ein paar Nummern provokanter. Und falls der es wirklich herausgefunden haben sollte, würde er es sicher nicht für sich behalten, denn er wusste, wie sehr Eric davon irritiert war. Aber Eric dachte an einen von Jans dämlichen Witzen: »Dein Name bedeutet Hundefutter« oder sowas in der Richtung. Das mussten Jans Freunde sich immer ausdenken und der musste es auswendig lernen. Denn kleine Spickzettel brachten ihm nichts, er konnte ja kaum einen Satz lesen. Eric drehte sich langsam um, sah Jan in sein blödes Gesicht und fragte, ehrlich interessiert:

»Ja? Sprich. Erleuchte mich. Lass mich raten … Hat es was mit meiner Hautfarbe zu tun?«

Jan lachte überlegen. Offenbar erfreut, dass die Nummer Früchte trug.

»Alle mal herhören«, dröhnte Jan und sah sich bedeutungsvoll um, »dieser Idiot da vorne nennt sich ›kleiner Drache‹. Ist das nicht süß? Oh, wir wussten alle, dass du schwul bist. Fick dich! Tragisch, ein Krüppeldrache! Hat ja nicht mal einen Schwanz … oh, doch, da! So klein, ich habe ihn übersehen. Sorry!«

Eric sah ihn erstaunt und ärgerlich zugleich an. Dann drehte er sich zu Haku um, der gerade mit Duschen fertig war und wartete, dass der Ausgang frei würde.

»Stimmt das? Weißt du, was es bedeutet?«

Haku sah ihn an, als wäre er sich nicht sicher, ob er antworten wollte. Dann meinte er:

»Ja. Es ist kein Japanisch. Hat bestimmt mehrere Bedeutungen. Altes Chinesisch. Frag Jack, der hat dir den Namen verpasst, oder?«

Eric hörte sich noch eine Weile stumm das Gekicher und den Spott der anderen an, beobachtete aus den Augenwinkeln, wie außer Jan und seinen Kollegen niemand ihn so recht beleidigen wollte. Schließlich drehte er sich um und betrat seinen Stammplatz, die letzte Duschkabine, in der sich auch ein Waschbecken und ein Spiegel befanden. Als er auf die alte Glasplatte blickte und einen Sprung darin erkannte, durchfuhr ihn ein leichtes Schaudern. Mit dem Finger berührte er die Beschädigung, fühlte die scharfe Kante und starrte auf das von Feuchtigkeit und Kondenswasser milchige, verzerrte Spiegelbild. Er erinnerte sich wieder an seinen Traum, dachte an die kristallartige, merkwürdige und unendlich wirkende Barriere und etwas Lebendiges dahinter, für ihn unbeschreiblich beängstigend.

Seit Jahren, eigentlich seit Anbeginn seiner Erinnerungen, hatte Eric nachts diese Träume. Sie entwickelten sich langsam weiter, wie der von letzter Nacht, ein anderer blieb sogar jedes Mal exakt gleich. Eric hatte gelernt, sie bedingt zu beeinflussen, konnte sich aber nicht gegen sie wehren. Sobald er einschlief, würden sie irgendwann kommen und ihn überfallen. Aufwachen war dann unmöglich. Nur durch den Tod würde er aus den Träumen herauskommen. Heute war das riesenhafte Ungetüm auf der anderen Seite erstmals kurz davor gewesen, die Barriere rechtzeitig zu durchbrechen, hatte es am Ende sogar geschafft. Eric schmunzelte müde. Hurra, ein besonderer Tag. Etwas Neues. Wollte es ihn ebenfalls töten? Eric spürte die Angst in sich, erinnerte sich an die Augen, sah seine eigenen im Spiegel und die kranke Müdigkeit, welche sich unmissverständlich in ihnen abzeichnete. Es wurde schlimmer. Die Schmerzen waren für ihn absolut real und er konnte nichts dagegen tun, hatte sich im Wachzustand daran gewöhnt, doch im Traum war jedes Mal das erste Mal. Er war froh, dass er nicht schrie oder sich zu sehr bewegte, während er im Bett lag. Alles blieb in seinem Inneren, kein Ruf oder Wort drang nach außen. Als wäre er in diesem Körper eingesperrt, für immer. Falls es so weiterginge, würde er irgendwann nicht mehr schlafen wollen. Bereits vor ein paar Jahren hatte Eric eine solche Phase gehabt und sich dem Schlaf insgeheim verweigert. Mühevoll war er wochenlang wach geblieben aus reiner Angst vor dem, was auf ihn wartete. Wie damals war es auch jetzt: Mit zunehmendem Schlafmangel wurde er unkonzentrierter. Ab und zu kam ihm einfach die Zeit abhanden, wenige Sekunden seines Lebens waren für immer fort und für ihn fühlten sie sich wie Minuten oder Stunden an. Nur die Konsequenzen all dessen, was er innerhalb solcher Blackouts getan haben mochte, boten eine Chance, die verlorene Wahrheit zu rekonstruieren. Oder Jacks Erklärungen. Jack war immer bei ihm … Eric blinzelte. Ohne Jack wäre er längst in großen Schwierigkeiten.

Ein lautes Geräusch riss Eric aus seinen müden Gedanken und er erschrak so heftig, dass er das Gefühl hatte, abermals von den messerscharfen Zähnen einer schweren Kreatur durchbohrt zu werden. Sein Atem stockte, das Herz raste. Jemand hämmerte lautstark gegen die Kabinentür.

»Ja, Mann! Was ist?«, rief Eric abwesend.

»Aufmachen oder beeilen, wie du wollen. Aber beides schnell! Ich muss duschen, auch schnell! In Viertelstunde frühes Stück, Essen! Und Jan hat alle anderen Duschen mit ein Münze abschließen! LOS!«

Jack, der immer leicht allergisch auf Menschen reagierte, die ihn von Broten mit Nutella und Bananen mit Honig abhielten, bearbeitete lautstark die Tür, als wollte er sie durchbrechen. Richtig, das Frühstück. Aber der Sprung im Glas des Spiegels und die damit verbundenen Bilder gingen Eric nicht mehr aus dem Kopf, wie eine Art Abkürzung in eine tote, für ihn jedes Mal tödliche Welt. Und da war das mit dem Namen.

Als Eric sich fertig angezogen hatte, beeilte er sich in den Essraum, wie ihn hier alle nannten. Die meisten hielten »Speisesaal« für spießig und man konnte mit Recht sagen, dass die Bezeichnung nicht richtig passte. Die fünfzig Stühle waren fast alle verschieden und der lange, alte Holztisch sah aus, als hätten all die Jahre ihn auch innerlich altern lassen. Bei jeder Bewegung wie etwa dem Abstellen eines schweren Topfes krachten die Holzbalken und man musste aufpassen, dass die Tischbeine immer im Gleichgewicht blieben, sonst würde die Tischplatte seitwärts herunterfallen. Vieles war verschlissen und an der Grenze zur Neuanschaffung, doch Mia kalkulierte präzise und sparsam. Nichts war unzureichend, nichts überflüssig. Trotzdem behandelten alle die Möbel und das Gebäude an sich dankbar. Niemand wollte hier ausziehen. Wohin auch? Sie waren alle hier, weil es für sie keine unmittelbare Alternative gab. Hier ging es ihnen gut und sie waren sicher.

Eric suchte mit geübtem Blick nach Jack. Er würde ihn gleich fragen und versuchen, es ein für alle Mal klar und deutlich aus ihm herauszubekommen, warum er gerade so einen komischen Namen gewählt hatte. Jack, Haku, Mia, die Köchin und zwei junge Mädchen waren die einzigen Asiaten im Haus. Fast alle anderen kamen aus Europa, die meisten aus Deutschland, ein Paar aus Britannien. Sie waren ein bunt gemischtes Völkchen, manche hatten sehr lange Reisen hinter sich. Wenn Jack ihm nicht sagte, wieso gerade der Name, dann würde Mia es ihm vielleicht sagen. Eric vermutete dahinter eine der Angewohnheiten, die viele Asiaten aus kulturellen oder Spirituellen Gründen an sich zu haben schienen: Sie gaben Namen, die nicht einfach gut klingen sollten, sondern fast immer auf gewisse Eigenschaften des Trägers verwiesen. Mia konnte ihm reichlich über sie erzählen. Sie wusste viel, hatte die Welt bereist und war sogar einmal in Amerika gewesen, um einen Schamanen zu besuchen, der ihr hatte zeigen sollen, wie man sein Totem oder sowas finden könne, wie die Geschichte dahinter aussah und was es bedeutete. Eric hatte nie verstanden, warum sie so viel Zeit, Geld und Mühen für eine derartige Reise verschwendete, deren Sinn letztendlich darin bestand, sich geistig in ein Tier oder Objekt zu verwandeln und so sich selbst kennenzulernen, oder sich damit zu verbinden. Oder andersherum. Mia hatte Eric damals oft erklärt, dass seine Ansicht ziemlich naiv und schlichtweg verkehrt sei, aber er hatte sich über die Vorstellung amüsiert, Mia könne sich in Gedanken in einen Terrier verwandeln und dann den Postboten verjagen. Dennoch: Manchmal fragte sich Eric, wieviel Wahrheit in den Mythen und Ideen steckte und im Geheimen faszinierte es ihn manchmal, wenn Mia oder Jack stundenlang keinen Ton von sich gaben und Meditierten, ihrer Umwelt entflohen oder sie umso genauer analysierten. Er spürte, dass er leicht dasselbe tun könnte, oft geschah es von ganz allein, doch er tat es einfach nicht bewusst oder auf Anfrage. Oft ließ Eric Dinge einfach bleiben, obwohl er sie unbedingt tun wollte. Aus welchem Grund auch immer.

Jack hatte sich neben Haku gesetzt und die beiden sprachen leise mit einander. Es sah komisch aus, wenn Jack, der gefühlt gerade so bequem über Tischkante und Becherrand sehen konnte, sich mit dem mittlerweile deutlich größeren Haku unterhielt. Der musste sich immer in recht unangenehme Haltungen versetzen, wenn Jack mit ihm nicht laut reden wollte. Eric nahm sich einen Teller, schaufelte ihn mit Toast voll und ging zu den beiden. Als sie ihn kommen sahen, hielt Jack inne und grinste verlegen, als hätte er sich gerade über ein Geheimnis mit Haku austauschen wollen. Offensichtlich hatte er gehofft, Eric würde später kommen.

»Setzen«, sagte Jack und rutschte ein Stück zur Seite, »wir haben gerade über Namen geredet. Du willst wissen, warum ich dich so genannt?«

Eric ließ seinen Teller sinken und eine Toastscheibe fiel zu Boden. Jacks ungeschönte Ehrlichkeit diesbezüglich verwunderte ihn. Er hatte mit einer billigen Ausrede gerechnet aber Jack schien nicht daran interessiert, sich noch länger vor einem Geständnis zu drücken. Haku sah Eric freundlich an, nahm seinen Teller, verabschiedete sich von ihnen und setzte sich an einen anderen Platz. Die drei waren engste Freunde, doch nach all den Jahren behandelte Haku Eric noch immer mit einer Art Respekt, welche Eric fast unangenehm war. Eric nahm Hakus Platz ein und begann, sich sein Brot mit einer viel zu dicken Butterschicht zu bekleistern. Er würde abwarten, bis Jack etwas sagte und nicht so tun, als ob es ihn interessierte. Er würde den Eindruck erwecken, dass ihm der Name, der ja nur eine Ansammlung von Buchstaben war, völlig egal wäre.

»Wieso hast du mir so einen Namen gegeben? Stimmt das, was Jan gesagt hat, oder wollte er sich nur wichtigmachen? Und wieso konntest du es mir nicht schon früher sagen, ich habe dich oft genug danach gefragt! Warum muss ich es ausgerechnet von dieser niederen Lebensform erfahren …«

Eric zögerte. Das mit der Gleichgültigkeit war ihm gründlich misslungen und Jack machte ein belustigtes Gesicht über die ärgerliche Miene seines Freundes. Er schob sich einen erstaunlich großen Bissen von seinem Nutellabrötchen in den Mund und schmatzte, während er aufmerksam Erics Gesicht studierte:

»Ich denken, wenn du nicht an Glaube interessiert, dann ich kann weiter essen ohne reden.«

Offensichtlich genoss er es, endlich einmal Eric auf die Folter spannen zu können, musste er sich doch sonst eher hinter dem verstecken. Also wartete er geduldig, bis Eric den Kampf aufgab und sich nach ein paar nervenden Sekunden zu seinem kleinen Gesellen hinunter beugte.

»Falls es stimmt, dass es ›kleiner Drache‹ bedeutet, dann habt ihr Chinamänner offensichtlich was bei der Namensgebung missverstanden. Das passt nicht zu mir.«

Jack lachte, schluckte und sah ihm dann fest in die Augen.

»Um das beurteilen, du musst kennen dein Ich. Aber Jan richtig, es können so bedeuten. Und ich meinen so.«

Eric stellte die Teetasse härter als geplant ab und versuchte, sich mit dieser Neuheit abzufinden. Aber in ihm kochte der Zweifel und es ärgerte ihn, dass Jack ihm vorwarf, ihn besser zu kennen als er sich selbst. Was er bisher immer nur vermutet hatte, stimmte also.

»Und warum glaubst du, dass der Name passt? Gibt es dafür eine Erklärung, die auch von Nicht-Buddhas oder Nicht-Schamanen verstanden werden kann?«

Eric wunderte sich über sich selbst. Warum sagte er so was? Sonst schaffte er es immer, in fast jedem Moment der Hektik oder der Enge die Ruhe zu bewahren, soweit, dass manche schon glauben könnten, er hätte gar keine Emotionen. Aber jetzt, wo es doch nur um ein paar Buchstaben ging, vergaß er sich selbst. Er war einfach müde. Vielleicht hatte Jack ja recht, er kannte sich selbst nicht ganz so gut. Was wäre, wenn? Jack grinste nur noch breiter und strich sich über die Haare. Er begriff, dass er Eric geschickt in eine Falle gelockt hatte und plante schon gute Worte, um auf dessen Ausbruch hinzuweisen.

»Da sehen. Du dich nicht so gut kennen. Sonst immer ruhe, aber jetzt? Sehen dich an! Stürmisch. Wie ein Tiger, dem ich in Arsch trete. Der dann auch bestimmt sauer.«

Eric musste lachen. Da war es schon wieder, Jack hatte ihn zum Lachen gebracht, ohne viel zu tun. Und er hatte wieder eines seiner absolut bevorzugten Schimpfwörter verwendet. Es gefiel ihm so gut, weil er fand, dass das Wort Hinterteil zu viele Silben hatte und dass Jan aber doch einen Namen brauchte. Eric biss in seinen Toast, dann fragte er leise:

»Also, wenn du mich so gut kennst, warum dann der Name? Hat das was mit deinem Glauben zu tun?«

»Und Mia«, sagte Jack, schon wieder mit vollem Mund, während er sich schwungvoll eine neue Ladung Tee in seinen Becher kippte. Dann hörte er plötzlich zu kauen auf und sah mit einem Mal furchtbar schuldbewusst aus. Eric wunderte sich. Was hatte Mia damit zu tun? Sie hatte ihn nie so genannt.

»Warum sie und warum der Name?«

»Also, ich gab dir Name, weil du damals Haku geholfen, und du so stark war. Und es war heiß, sehr sogar, eine Wachsfigur auf Tisch geschmelzt. Kurz blaues Licht in dir, war eben unglaublich. Und dein Schrei, deine Augen: Nicht lustig. Aber du haben am Ende helfen wollen, du wolltest Jan helfen, als er kaputt am Boden lag. Arschloch, er nicht verdient …«

Eric sah sich um, aber alle waren mit Essen, Kartenspielen oder reden beschäftigt. Er schob seinen Teller beiseite, der Appetit wich seiner Neugier. Er setzte sich zurecht und glotzte Jack an wie einen fliegenden Hund. Hatte der sie noch alle? Also doch, eine Ausrede, Jack wollte es ihm nicht sagen. Gut, dachte Eric, dann würde er eben Haku fragen. Oder Mia. Was hatte sie denn nun damit zu tun?

»Okay, Bruder. Du willst spielen. Cool, dann musst du dir was Besseres einfallen lassen. Ich glaube nicht, dass ich mich plötzlich ein einen blauen Scheinwerfer verwandelt habe und dass jemand so starke Blähungen gehabt haben soll, dass es heiß wurde. Aber du wirst mir sicher gleich eine umwerfende Erklärung liefern, habe ich recht?«

Jack sah nun ernst aus. Er kniete sich auf den Stuhl, um Eric ein wenig mehr Sitzkomfort zu ermöglichen. Schnell stopfte er sich noch was in den Mund und fing an zu erklären, ignorierte Erics Sarkasmus, während der sich ebenfalls etwas von seinem Toast in den Mund stopfte, als wäre er halb ausgehungert.

»Falls du bis zum Ende zuhören, dann ich dir alles sagen, aber falls du nicht offen für Neues, du besser gleich sagen, dann ich sparen Zeit und kann weiter essen. Also: Ich bin nicht einzig, der dich diesen Namen gegeben hat. Mia auch, sie finden, dass es für dich passen. Und Haku dich ganz nah gesehen, als du ihn gerettet. Und wir kennen uns besser als du denken. Ich haben Mia kennenlernt, bevor ich hierher kam. Sie hat mich gefunden, als meine Eltern mich ausgesetzt. Mia mich bei sich im Büro verstecken, damit mich niemand sehen, ich nicht besonders gesund. Dann hat sie von dich erzählt, dass du hier wohnen, und dass ich zu dir in Zimmer soll. Ich dich nicht kannte. Aber ich kannte Geschichte, die sie mir gesagt. Sie einmal gesagt, dass es eine Junge gibt, der alles in sich trägt. Sie mir gesagt irgendwas Schwachsinn von Element in ein großen Plan und sie sagen, er die Seele eines Drachen. Ich fragen, welcher Drache? Aber ich glaubte nicht an Geschichte. Meine Mutter immer gesagt, dass Glaube blöd und überflüssig sei, aber mein Vater war Lama. Aus Tibet. Er Mias Bruder, auch er kennen Geschichte, und er mich erzählt. Aber es nichts zu tun mit Religion, er immer gesagt. Als Vater von Terrorist ermordet, ich noch sehr klein, Mia hat gesagt. Meine Mutter war versoffen, irgendwann sie mich einfach auf Straße gelegt. Arschloch … Und dann, als ich dich kennengelernt, du haben dich so komisch benommen und alles heiß und blau und du haben gebrüllt wie Tier und Jan gepackt wie Beute. Du warst Wut! Jeder hier Angst, dich danach anzusehen, alle gespürt, etwas sehr Krasses in dir. Du wollten ihn töten. Warum hast du nicht? Da hatte ich Angst, mit dich in ein Raum zu gehen. Aber Mia gesagt, ich müssen. Quasi gezwungen. Und das war auch gut, oder? Das alles, mehr kann ich dir nicht sagen.«

Eric saß da wie ein Stein und überlegte, ob er lachen, schweigen oder schreien sollte. Er entschied sich fürs Nachdenken. Aber es kam nichts dabei raus. Ihm fiel auf, dass dies eines der seltenen Male im Wachzustand war, dass er mit seinem Verstand nicht weiterkam. So klar hatte Jack ihm nie von der Auseinandersetzung mit Jan erzählt. Die Art und die Details, welche er nun beschrieb, waren wie ein eiskaltes Bad. Eric spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. War es wirklich so gewesen? Er selbst hatte ja keine Erinnerung daran. Falls auch nur ein Bruchteil stimmte, dann hatte er wirklich keine Ahnung, was eigentlich vor sich ging. Weder in ihm selbst, noch in allen, die ihn sahen. Nach dieser Beschreibung des Ereignisses stellte sich auch die Frage, woher er eigentlich diese angebliche Kraft genommen hatte, um Jan, der schon immer größer und schwerer gewesen war, derart zu überfahren. Töten? Wie kamen sie darauf?

Während Jack ihn abschätzend betrachtete, dachte Eric still nach. Er sah sich selbst in seinem letzten Traum, von innen heraus verbrennend. Träume, von denen niemand etwas wissen konnte. Er dachte an Mia, die ihn immer dazu bewegen wollte, sich einfach mal probehalber zu ihr zu setzen, wenn sie meditierte, um ihren Geist zu reinigen und zu schärfen. Hier, in diesem Heim, hatten alle mindestens einen der zwölf Betreuer oder Erzieher als Bezugsperson. Und Mia war für ihn immer wie eine Mutter gewesen, hatte ihn aufgezogen, obwohl sie ihn nicht einmal genau gekannt hatte. Aber dass sie einen Bruder hatte und der einen Sohn, hatte sie nie in einer Silbe erwähnt. Erst jetzt ging ihm ein Licht auf: Jack war sein Cousin, sie waren praktisch verwandte. Zumindest theoretisch. Diese Idee grub sich wie ein lärmender Bohrer immer tiefer in ihn hinein. Ein kurzer Impuls der Hoffnung zeigte ihm das Gefühl, nicht allein zu sein, eine Familie zu haben. Zwar nur eine Hoffnung, aber es fühlte sich trotzdem gut an.

Jack hatte sich wieder etwas in den Mund geschoben und er sah Eric eindringlich an.

»Ich glaube wissen, was du denken. Das nicht realistisch und du immer zu viel denkst. Aber es ist wahr, Mann, ich schwöre. Alles! Nur müssen du es sehen, wie ein Wahrheit, sonst du werden niemals verstehen. Ich glaube dir. Ich weiß, du dich nicht erinnern. Das nicht leicht für dich.«

Eric sah ihn an. Was sollte das schon wieder heißen? Nun, gut. Falls es stimmte, dass es plötzlich heiß geworden und die Wachsfigur auf dem Tisch geschmolzen war, dann müssten alle anderen es ja gesehen haben. Er drehte sich um und rief halblaut über den Tisch, quer zu Ingrid herüber, die schon wieder hinter einem Regal neben der breiten Schiebetür zum Essraum lauerte:

»Weißt du noch, was an dem Tag geschah, als Jan Haku ins Essen gerotzt hat?«

Sie sah ihn erschrocken an, meinte überrascht:

»Ja, ich glaube, du hast ihn geschlagen oder so. Und dann hat er noch von Mia eine gescheuert bekommen. Wieso?«

»Ich wollte nur wissen, ob an der Situation irgendetwas Besonderes war«, sagte Eric unbeholfen und musste schon im selben Moment daran denken, was Jack sagen würde, falls niemand sonst es gesehen hatte, »habe ich mich verändert? Hat sich sonst was verändert? Hast du jemanden schreien gehört oder so?«

Ingrids Erstaunen wuchs offensichtlich schier ins Unendliche und sie hopste erregt auf und ab, vielleicht, weil er ihr endlich ein paar Sätze wahrer Aufmerksamkeit schenkte. Eric spürte, wie einige andere ihre Aufmerksamkeit unvermittelt auf ihn und Ingrid richteten, fast schon auffällig unauffällig.

»Du dich verändert? Nö«, quiekte sie, »und geschrien hat nur Jan, als Mia ihm fast den Kiefer gebrochen hat, um ihn aufzuwecken. Er war mega K.O. Boah, er hat voll geheult danach. Bis der Arzt kam.«

Eric sah sie verdutzt an. Schließlich drehte er sich wieder weg, um einem längeren Gespräch vorzubeugen und sah seinen Teller an. Sie musste etwas völlig Anderes erlebt haben und wie erwartet, etwas deutlich Wahrscheinlicheres. Er hob langsam den Kopf und blickte in Jacks vergnügtes Gesicht. Beide verstanden einander wortlos. In Erics Blick lag Ruhe, doch er wirkte ein wenig giftig. Manchmal hatte sein Blick eine seltsame Kraft, etwas, das sich nicht deuten ließ und für die meisten verunsichernd wirkte, während es Eric nicht einmal auffiel. Es passierte meist dann, wenn er nachdachte oder jemandem nicht traute. Er sah Jack von oben herab an, aber nur, weil er keine Lust mehr hatte, sich zu ihm herunterzubeugen. Den störte das nicht und er sagte:

»Auch sie sich nicht genau erinnern. War auch noch klein. Alle Menschen leben auf Erde, aber nicht alle Menschen in einer Welt. Vielleicht du lesen ein Buch und du vergessen andere. Vielleicht du versuchen, jemand anderer sein, und vergessen dich selber. Die meisten Leute hier leben in Scheinwelt, gemacht aus falschen Erwartungen und zu oberflächlich. Aber zum Beispiel Mia, Haku, ich und du nicht. Wir sehen können, was passieren, aber niemand anders es sehen. Andere nur glauben, was sichtbar. Wir annehmen, was da ist. Aber du noch nicht gelernt, alles zu sehen. Denn du nicht glauben, dass Dinge sein, die du nicht kennen. Du nie versuchen, dich zu erlernen. Aber du solltest. Jan Arschloch und du trotzdem bereuen, ihn geschlagen zu haben. Verstehe ich nicht, aber ich wissen, du haben gutes Wesen. Du dich mal entscheiden, ob es vielleicht gut, zu suchen, was noch nicht gefunden. Und zu sein, was du sein. Vielleicht Menschen nicht das, was sehen, sondern anders. Vielleicht niemand sein, was zu sein glaubt. Entscheiden dich, ob du glauben wollen, was ich dich gesteckt, oder es zurückweisen.«

»Genau der Ansicht bin ich auch«, sagte eine warme Stimme hinter Eric. Er fuhr herum, blickte genau in das alte, liebevolle Gesicht Mias, die wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war. Sie stand einfach da, sah ihrem Sohn in die Augen und es kam ihm vor, als würde sie aus ihnen lesen, wie aus einer Zeitung. Ihre langen, schwarzgrauen Haare trug sie offen und sie gaben ihrem Aussehen und der sonnengebräunten Haut etwas Besonderes. Sie reichte ihm einen Becher mit Tee.

»Du hast Eigenschaften, die keiner hat. Es wäre Verschwendung, wenn du sie nicht benutzen würdest. Ich bin mir sicher, du wirst schon bald erfahren, was Jack gemeint hat. Komme auf einen Tee in mein Büro, wenn du zu einem Schluss gekommen bist. Und der Name ist ein wichtiger Punkt, über den du ganz besonders nachdenken solltest.«

Sie machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, doch dann drehte sie sich noch einmal um:

»Ach ja, heute werden wir einen Waldspaziergang machen. Wer will, kann ein wenig über die Natur lernen, die anderen können Fußball spielen oder sich in die Sonne legen. Dazu ist der Sommer ja da. Ich bitte euch, allen anderen Bescheid zu sagen, um drei werden wir fahren. Sie können sich in der Küche noch etwas Essen für unterwegs holen!«

Eric blickte ihr gedankenverloren nach, während er den heißen Tee langsam austrank. Jack hatte sein Frühstück bereits vernichtet, stellte sich auf seinen Stuhl und brüllte:

»Yo! Ohren auf! Ausflug, Wald, drei Uhr. Sommer! Ihr wissen, was los ist. Futter in der Küche abholen. Weitermachen …«

Drachenkind

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