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Kapitel 5

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Jack und Eric hatten die dreißig Kilometer in weniger als zehn traumartigen Minuten zurückgelegt. Berauscht von Höhe, der unglaublichen Aussicht und dem neuen Blick auf Sonne und Wolken, hatte selbst Jack den Großteil seiner Lebensgeister zurückerlangt. Sie waren ein kleines Stück vom Heim entfernt gelandet, auf einem Tennisplatz des verlassenen Sportzentrums. Dann hatten sie sich wie zwei ganz normale Menschen die Straßen entlang geschlichen, sich durch den Hof und die Hintertür geschummelt und jetzt standen sie wie selbstverständlich vor der Tür zu Mias Büro. Das Heim wirkte unbewohnt, so still war es. Nur wenige waren in ihren Zimmern oder beim Essen, die meisten um die Zeit im Sommer noch in der Stadt unterwegs. Jack hob schon die Hand zum Anklopfen, aber Eric meinte:

»Sie ist nicht da.«

»Woher wissen? Du können durch Tür sehen oder was?«

»Nein, nicht direkt. Aber ich kann es fühlen. Sie ist nicht da und es riecht auch nicht so stark nach ihr. Das tut es immer, wenn sie da ist. Glaube ich.«

Jack stellte sich auf die Zehenspitzen und stöhnte. Er sah schon besser aus, allerdings taten ihm die Ohren weh. Vielleicht vom starken Wind während des Fluges, obwohl Eric ihn mit seiner Hitze ordentlich durchgewärmt hatte. Eric hatte sich kaum zurückverwandeln wollen, hätte gern wenigstens nachts die Gestalt des Drachen behalten. Er wollte unbedingt einmal alles beleuchtet von oben sehen und hatte versucht, Jack mit dem Argument zu überzeugen, dass sie auch später immer noch etwas essen könnten. Doch Jack wollte nur den Brief und ins warme Bett. Eric wusste genau, dass er eigentlich gerne mitgekommen wäre. Vielleicht ein anderes Mal. Jetzt wollte er sich sofort in ihr Zimmer begeben, umziehen und im Essraum eine Mahlzeit abholen. Auch Eric war hungrig. Proviant hatten sie total vergessen und Geld für eine Portion Fritten an der nächsten Straßenecke hatte auch keiner. Also latschten sie zu ihrem Zimmer, schlossen die Tür auf. Es sah wie immer aus, roch aber anders.

»Mia war hier. Und da liegt was auf deinem Bett.«

Jack knipste das Licht an.

»Auf dein auch. Und wieso können du mit der platten Nase so gut riechen? Kann ich nicht …«

Eric runzelte die Stirn. Jack jedoch dachte nicht mehr an Erics Nase, er sprang zum Bett, griff sich den Brief und riss ihn ohne Hemmung einfach auf.

»Willst du denn nicht wissen, wer der Absender ist?«

»Nein, ich wissen. Sein still, bitte …«

Eric ging zu seinem Bett, zog sich aus und begab sich zum Kleiderschrank. Der war zwar noch nie bis oben gefüllt gewesen, aber Eric fand glücklich genug saubere Kleidung. Er fragte:

»Willst du mit zum Duschen gehen? Du könntest es am aller besten gebrauchen. Und du solltest vielleicht auch gleich die Zahnbürste mitnehmen.«

Jack antwortete nicht. Er war so ins Lesen vertieft, dass er nur dachte. Ein abwesendes »gleich« konnte Eric in Jacks Gedanken erkennen und er beschloss, auf ihn zu warten und den Brief erst zu lesen. Er watschelte zum Bett, nahm den Umschlag und suchte vergeblich nach einem Absender. Eric betrachtete den Brief so eingehend, dass er vor seinem geistigen Auge schon durchsichtig wurde. Als er schließlich meinte, nichts Ungewöhnliches am Papier entdecken zu können, riss er den Umschlag auf und zog das Pergament heraus. Als Erstes wunderte er sich, dass er kein normales Papier in Händen hielt, doch das war schnell vergessen, als nicht ein einziger Buchstabe auf dem Blatt zu finden war. Eric sah zu Jack hinüber, der scheinbar immer noch las. So viel konnte doch auf dem kleinen Blatt gar nicht stehen. Er ging zu ihm herüber und schaute ihm über die Schulter. Jacks Pergament war ebenfalls leer und trotzdem sah Eric in seinen Gedanken die Zeilen wie kleine Bäche vorbeifließen.

»Wie kann ich meinen lesen?«

»Was?«

»Wie kann ich meinen Brief lesen? Er ist leer, genau wie deiner …«

Jack blickte auf.

»Mia ihn verschlossen, mit ihren Gedanken. Du nicht gemerkt, dass Wächter auch Gedanken verschlossen? Aber du konntest lesen, also bei Mia genauso. Bin gleich fertig, dann ich kommen mit.«

Jack wandte sich wieder seinem Brief zu und Eric schimpfte innerlich über seine dumme Frage. Zu müde. Allmählich musste er doch schon auf den Gedanken kommen, dass sich die Telepathie einfach in die Welt einfügte, die er bald kennenlernen würde. Und vielleicht war sie der einzige Weg, wirklich ohne Mitwisser Informationen auszutauschen. Oder genau das Gegenteil, sofern man sich nicht selbst unter Kontrolle hatte und seine Gedanken effektiv verschließen konnte. Er schnappte sich das Pergament, besann sich auf die Augen des Drachen und schon begannen sich die Buchstaben wie Wellen von der Spitze seines Daumes am Rand des Blattes auszubreiten. Er erkannte die saubere Schrift Mias, gerade und gleichmäßig, im krassen Gegensatz zu seiner eigenen, mit der man Briefe verschlüsseln könnte. Er wartete, bis sich die Schrift vervollständigt hatte, dann las er.

Eric, es tut mir leid. Es gibt vieles, was ich dir nicht erzählt habe. Aber aus gutem Grund, das kannst du mir glauben. Ich bitte dich, sei geduldig. Es gibt viele Geheimnisse und sie müssen geschützt werden, ich werde dir zur rechten Zeit alles erklären. Vertraue mir. Wir werden diesen Ort bald verlassen, danach können wir reden. Nun zum Wesentlichen: Ich habe euch absichtlich im Wald gelassen, es war ein Test. Die Wächter waren nur eine Projektion meiner Erinnerungen, sie waren nicht völlig real. Nur für euch beide. Aber so, wie du mit ihnen umgegangen bist, mache ich mir keine Sorgen, dass die echten dich besiegen könnten. Doch ihr wart leichtsinnig. Jetzt, da du weißt, was du tun könntest, verlange ich, dass du bei mir lernst. Du musst unter allen Umständen deine Kräfte kontrollieren lernen. Du bist noch jung, dein Inneres ungestüm. Sei nicht dumm. Teile mir alles mit, was in dir vorgeht. Alles!

Du bist der letzte Drache in allen bekannten Welten, wahrscheinlich mit Abstand das mächtigste Wesen unter allen. Es ist unbedingt erforderlich, dass du verstehst, was das bedeutet. Deine Kräfte gehen über die Vorstellungen der meisten weit hinaus und sie könnten sich rapide weiterentwickeln. Doch nur, weil du so mächtig bist, heißt das nicht, dass du sorglos sein kannst. Ganz im Gegenteil. Solltest du jemals durch falsche Mächte oder Ideen kontrolliert werden, wäre das für alles Leben eine katastrophale Gefahr. Ich warne dich hiermit ausdrücklich. Du wirst verfolgt und gejagt, ab jetzt auch Jack. Sie wissen nun, wo ihr seid. Auf Jack solltest du in Zukunft noch viel eher aufpassen als auf dich selbst. Denn wenn du innerlich stark bist, wirst du nicht leicht zu besiegen sein. Aber falls sie dir deinen engsten Verbündeten nehmen würden, sähe das sicherlich anders aus.

Ich bin irgendwann heute Nacht wieder da, wir müssen uns unterhalten. Sei so lieb und gehe mit Jack in die Küche, ich habe euch dort etwas hingestellt. Ihr habt heute Küchendienst.

P.S.

Pass gut auf euch auf. Vergiss nie wieder, wer du bist, denn sie werden alles tun, um dich zu beeinflussen. Ich hoffe, dass du dir den Luxus Zweifel nicht mehr leistest. Er ist so viel teurer als du glaubst. Was in diesem Brief steht, ist nur für dich gedacht. Jack hat dieselbe Information erhalten. Falls ihr euch über eure Briefe unterhalten wollt, wartet damit, bis es notwendig ist. Lass den Brief fallen, sofort.

Reflexartig ließ Eric den Brief auf den Boden fallen, wo der sofort in Flammen aufging und zu Asche zerfiel. Ein paar Funken stiegen aufwärts an Erics Gesicht vorbei, er spürte sie im Raum und ihr warmes Licht brachte seine Träume in Bewegung. Jack hatte im selben Moment das Gleiche getan. Sie sahen einander an und Eric meinte, Besorgnis im Gesicht seines Freundes zu erkennen. Doch Jack wandte sich ab, nahm sich frische Kleidung und schließlich seine Duschsachen.

»Wir können …«

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