Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 12

Kapitel 9

Оглавление

Am nächsten Morgen fühlte sich Eric entkräftet, er hatte die ganze Nacht meditiert. Darüber, wieso er sich letztlich doch für das Leben als jemand Anderes oder sogar etwas Anderes und vielleicht in einer anderen Welt entschieden hatte. Die Entscheidung war eher instinktiv gefallen und er stellte fest, dass er sie wirklich nicht völlig verstand. So hatte er nach einer Antwort gesucht, wie Mia es von ihm verlangte. Und die konstante Konzentration auf alles, was ihm so durch den Kopf ging und was eine Antwort enthalten könnte, das Annähern an Ängste und das Zulassen ungewisser Impulse, hatte ihn eine Menge Kraft gekostet. Immerhin, so musste er nicht schlafen und war den Träumen zumindest dieses Mal entgangen. Was gegen die Müdigkeit natürlich nicht half. Außerdem beschäftigte ihn nach wie vor Mias Reaktion und auch die von Jack. Während des gesamten Fluges, vom See im Wald bis zu ihrer versteckten Landung auf dem verlassenen Tennisplatz, hatte keiner von beiden auch nur ein Wort gesprochen oder gedacht. Verunsichert hatte Eric nicht nochmals gefragt, was los wäre und sogar kurz das Gefühl gehabt, etwas falsch gemacht zu haben.

Die Sommerferien waren vorüber, es war Freitag. Da Eric im Anschluss an den eisigen Traum im Fieber über fünf Wochen verschlafen hatte, blieben nur noch zwei Tage Wochenende bis zum Schulbeginn. Er hoffte, dass Mia sie schon früher mitnehmen würde, wohin auch immer. Jack dachte genauso, hatte Eric in Ruhe liegen lassen und auf seine Attacke mit dem Kissen verzichtet. Jetzt, jeder noch im Bett liegend, unterhielten sie sich über das Ziel, für welches Mia eine Reise planen könnte.

»Vielleicht genau die Welt, von welcher mein Vater immer erzählt. Sie können uns vielleicht mit zu Verwandten nehmen. Oder wir auf den Mond fliegen … okay, vielleicht auch nicht. Oder sie uns einfach nur mitnehmen in anderes Haus in andere Stadt.«

»Ich glaube eher, dass es sich um einen Platz handelt, an dem alles, was wir in den letzten Wochen so getan haben, normal und alltäglich ist. Und genau das macht mir Sorgen. Stell dir böse Menschen mit unseren Fähigkeiten vor.«

Jack verstummte. Eric hatte recht, es war etwas beängstigend. Aber er war auch nicht irgendein normaler Mensch. Sie hatten sich bisher noch nicht darüber unterhalten, ob Eric denn nun ein Mensch mit der Seele eines Drachen war, oder ein Drache, der sich als Mensch vor irgendetwas versteckte. Und Eric schien keine Antwort darauf zu wissen oder jene, welche ihn ab und zu tief innen anstieß, nicht annehmen zu können. Mia hatten sie nicht gefragt. Sie hielten es für besser, zuzuhören, anstatt Fragen zu stellen, die sie zu einem besseren Zeitpunkt beantwortet bekommen könnten. Eric überlegte gerade, ob er Jack auf letzte Nacht ansprechen sollte. Doch etwas hielt ihn davon ab. Vielleicht später? Jack schien selbst noch darüber nachzudenken und Eric vertraute ihm bedingungslos und wusste, dass Jack es von selbst ansprechen würde, sofern es ihm wichtig war.

Jack stieg aus seinem Bett, gähnte und nahm seine Plastiktüte mit dem Duschgel, einer Zahnbürste und anderen Dingen, legte sich dann sein großes Badehandtuch um die Hüfte. Eric tat es ihm gleich. Als sie den Flur entlang tapsten, hörte Eric kein Gekicher oder Getuschel. Es freute ihn, dass er in Ruhe mit Jack irgendwo auftauchen konnte, ohne gleich mit lauter Gekreische oder blöden Sprüchen empfangen zu werden. Immerhin waren sie beide etwas Besonderes und dass niemand es wusste, machte die ganze Sache erst richtig interessant. Jack teilte seine Meinung und Eric bewunderte ihn dafür, dass er sich nicht über seine geringe Körpergröße ärgerte und sich auf andere Art wichtigmachen wollte. Er würde sowieso noch wachsen. Sie waren gar nicht so verschieden, dachte Eric.

Als sie am Eingang zum Bad standen, hörten sie schon die Stimme von Jan, der mit dem Sieg bei einem Fußballspiel gegen eine externe Mannschaft prahlte. Eric warf Jack einen verwunderten Gedanken zu, der antwortete sofort.

»Sie so unfair gespielt, du dir sicher denken. Die anderen aufgeben, weil Torwärter Arm gebrochen.«

Eric nickte. Immer das Gleiche. Als ihm der fruchtige Geruch einer Seife in die Nase wehte, sah er den roten Lippenstift mit Erdbeeraroma vor sich, in Form einer plumpen Drohung auf einem Spiegel. Eric spürte einen kurzen Druck in den Zähnen.

Sie traten in den nebeligen Raum ein. Fast die Hälfte aller Jungen war schon auf den Beinen. Jan und seine Gruppe hirnloser Kollegen hatten sich wieder in den Bereich hinter der Trennmauer begeben, an der noch eine Extrareihe Waschbecken angebracht war und hinter der man von außen nicht zu sehen war. Sie suchten ständig einen Grund, an den jüngeren vorbeistolzieren und ihre Muskeln zeigen zu können. Die hatten zwar keine Angst, waren aber teils sehr verunsichert. Es war lästig, Jan hatte sich an das erste Waschbecken gestellt und leerte gerade die Zahnpasta eines kleineren, dunkelhäutigen Jungen in den Abfluss. Jacks Gedanken zufolge war der Neue erst vor ein paar Tagen eingetroffen und elf Jahre alt. Als sie Jack und Eric kommen sahen, lachten sie und der Junge bekam einen Schreck. Er schien zu denken, dass der Typ, der da ankam, zu seinen Peinigern gehörte, da er fast noch stärker wirkte als sie. Eric spürte seine Hilflosigkeit und Müdigkeit, der Neue war fertig mit der Welt und fing an, zu weinen.

Eric witterte sofort die durchwachsenen Reaktionen aller anderen auf sein Eintreten, hatten sie ihn doch so lange nicht gesehen. Vorrangig Ungewissheit und Vorsicht, fast Besorgnis. Es wurde ruhiger im Raum. Warum half niemand? Jack ging zu dem Neuen, zog ihn von der Gruppe lachender Trottel weg und tröstete ihn. Eric stellte sich vor Jan neben das Waschbecken und sah ihn an, blickte unbeabsichtigt aber merkwürdig kühl direkt in dessen Seele. Etwas versetzte ihm einen Stich. Eine Art Dunkelheit oder Ungewissheit. Jäh fühlte er sich an seine Träume erinnert.

Jan verging das Lachen, als er feststellte, dass Eric, den er seit über einem Monat nicht gesehen hatte, jetzt beinahe genau so groß wie er war. Eric sah ihn weiterhin einfach nur an, sein Inneres wurde heiß. Als wären Jahre an Abneigung und Verachtung gegenüber Jans Aktionen und Charakter plötzlich alles, was ihm in den Sinn kam. Jans Erstaunen über Erics unerwartet physisch betontes Auftreten war deutlich, er hatte wohl eher mit Worten gerechnet. Doch nun überlegte er, ob es heute endlich darüber hinausgehen würde. Er hielt sich für vorbereitet, war sich seiner Sache sicher und sehnte sich danach, Eric vor allen anderen zu demütigen.

»Na«, tönte Jan, als er sich wieder gefangen hatte, »bist du wieder gesund? Schade, es war so schön ohne dich.«

Eric lächelte kaum merklich. Unfassbar, Jan war an Einfallslosigkeit nicht mehr zu übertrumpfen. Er erkannte Jans Absicht, in dem Moment einfach nur abzutasten, wie Eric so drauf war.

»Ich sehe, du vollbringst wieder Großes. Weißt du überhaupt, warum du dich die ganze Zeit, jeden Tag, seit Jahren, wie ein dummes, überflüssiges, lästiges, sadistisches Stück Scheiße verhältst? Macht es dir Spaß? Ist dir langweilig? Was ist es, Jan? Und warum immer nur die Jüngeren? Oder nur dann ältere, falls sie schwächer sind? Hast du Angst? Traust du dir nicht mehr zu? Fühlst du dich minderwertig? Allein? Abgelehnt? Was ist dein Problem, Jan?«

Eric verlor langsam die Geduld, sah die Gedanken hinter Jans Stirn langsam und träge arbeiten. Er hatte bereits mehr gesagt als er überhaupt wollte. Offensichtlich gelang es Jan nur unter Einsatz größter Leistung, den Satz seines selbst gewählten Erzfeindes zu verstehen und die völlig offensichtliche Ironie am Anfang zu entschlüsseln. Als er es vollbracht hatte, baute er sich so richtig vor Eric auf und schielte auf ihn herab, soweit das noch möglich war.

»Weißt du«, sagte er in seinem gefährlichsten Tonfall, »wo ich herkomme, wärst du schon längst tot. Wir hätten dich umgelegt … erst verprügelt oder gefoltert, dann umgelegt. Und du hättest nie eine Chance gehabt. Die du auch nachher nicht haben wirst, wenn meine Leute und ich uns mal um dich und deinen kleinen Reisfresser da kümmern werden. Du hast ja keine Ahnung, was auf euch wartet. Du hast keine Ahnung.«

Eric blieb still. Dass Jan Jack ins Spiel brachte, machte alles nur noch schlimmer. Er hörte das Rauschen eines einzigen Wasserhahns, den vor lauter Neugier und Aufmerksamkeit für Jan und Eric niemand abstellte. Als warteten alle darauf, dass sich die so lang angestauten Spannungen zwischen den beiden genau jetzt entladen würden. Eric sah die Erinnerungen in Jans Geist, den Moment, in welchem er sich an Jack austoben wollte, während Eric nicht da war. Erst jetzt fiel ihm Jans Nase auf, welche noch immer leicht gerötet war. Jan spielte mit seinen Muskeln, wertete Erics Stille als Schwäche und kam noch näher. Beide berührten einander fast.

»Na, was ist, Nigger? Ach ja, du bist ja gar nicht schwarz. Wie dumm von mir. Falsche Beleidigung. Oh, Moment. Du bist schwarz! Ist wohl nicht mein Tag heute. Hilfst du der kleinen Heulsuse deshalb? Hm? Loyalität unter Schoko Muffins? Unter dreckigen Tieren? Warte, nein. Antworte nicht. Es ist mir nämlich scheißegal.«

Er lachte, ein paar seiner Kumpels konnten sich das Grinsen nicht verkneifen. Jemand drehte endlich den Wasserhahn zu. Stille. Eric blickte an Jan vorbei, sah den kleinen Jungen an, der jedes Wort mithörte und sich wieder beruhigt hatte. Er wirkte aufgebracht, fast wütend. Doch er wusste genau, dass er jetzt nichts gegen Jan sagen sollte. So schwieg er und starrte Eric einfach nur hilflos an, mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.

»Hör dir das an. Mach dir nichts draus. Du bist nicht alleine. Er schon.«, sagte Eric leise zu ihm.

Jan lachte laut auf, machte einen Schritt zurück und fummelte dem Jungen durch die rabenschwarzen Haare, packte ihn spöttisch am Nacken und drückte ihn fest an sich.

»Ich mach doch nur Spaß, du kleiner Schokokuss, du … Alles halb so wild, mein Freund. Ist er nicht niedlich? Ganz schön dunkel, hm? Immerhin, ein echter Schwarzer. Keine schmutzige Mischung wie du, Eric! In ein, zwei Jahren ist er groß genug, um mir den Schwanz zu lutschen. Bis dahin, alles cool. Welpenschutz. Kein Stress …«

Jack riss Jans Hand weg, stellte sich zwischen ihn und den Neuen. Eric erkannte Haku, der den kleinen Jungen an die Hand nahm und ein paar Schritte weg zog. Eine abgründige Welle des Zornes überrollte Eric, unwillkürlich machte er einen Schritt zurück, unterdrückte die drohende Verwandlung. Er verspürte ein heftiges Kribbeln in der Wirbelsäule und sah sich selbst, wie sein langer Drachenschwanz hell glühend Jans Herz durchbohrte, bevor er ihm langsam und genüsslich den Kopf abriss. Eric blinzelte, prüfte erschrocken und blitzschnell seinen Körper. Gut, keine Verwandlung. Jan lachte wieder, stand vor Jack und sah ihn gehässig an.

»Okay, dann du zuerst. Mund auf!«

Seine Freunde lachten, Jan streckte in einer einladenden Geste die Hand nach Jack aus, der sich keinen Zentimeter bewegte. Noch bevor Jan etwas tun oder sagen konnte, sagte Eric:

»Jan, du begibst dich gerade in Lebensgefahr. Du musst aufhören. Stopp.«

Eric hatte Mühe, sich im Griff zu halten. Er fühlte genau, was der Drache vorhatte, doch es stand im völligen Gegensatz zu dem, was seine menschliche Seite zulassen konnte. Was er wollte, was er sollte. Nicht dasselbe. Zu verschieden. Kein Kompromiss möglich aber eine Aktion jetzt sofort erforderlich. Mechanisch und schwer tobte der Konflikt in seinem Inneren, er sah die Lust des Drachen langsam dazukommen und erkannte jede mögliche Bewegung von Jan, welcher zweifelsfrei gleich versuchen würde, Jack mit schlechten Absichten zu berühren. Das würde nicht passieren. Auf gar keinen Fall. Es war nicht mehr wichtig, ob Jan nur spielte oder es ernst meinte. Die Idee reichte aus. Die Umstehenden schienen genau zu erkennen, dass mit Eric etwas nicht stimmte. Mit einem erstickten Klirren zerbrach eine Fliese unter Erics rechtem Fuß, obwohl er sich überhaupt nicht bewegte. Sein Blick war eine Mischung aus Furcht und klar erkennbarem Hass. Jack erkannte jetzt, was gerade passierte. Er ließ Jan einfach stehen, ging zu Eric und sah ihn prüfend an, ehe er meinte:

»Jan. Bitte, hören auf. Genug. Wir gehen.«

Doch Jan wollte nicht aufhören. Warum auch? Was konnte schon passieren?

»Oooh, seht ihn euch an! Jetzt macht er ernst, der kleine Drache! Komm doch her, ich bin doch so allein, oder nicht? Halte den einsamen Jan davon ab, Jack sein großes Maul zu stopfen …«

Jan machte einen schnellen Schritt auf Jack zu und griff nach dessen Haaren, doch er erreichte ihn nicht. Er erstarrte mitten in seiner Bewegung. Eric wandte sich an den kleinen Jungen, bevor er die Kontrolle verlor.

»Schließ deine Augen.«

Jan entfuhr ein leichtes Stöhnen, seine Freunde starrten ihn ratlos an, begriffen nicht, was passierte. Jans beachtliche Muskeln verkrampften, jede Ader unter seiner Haut trat langsam hervor, ein Gefäß in seinem linken Auge platzte und eine blutige Träne rann seine Wange herab. Jene Hand, welche er nach Jack ausgestreckt hatte, zuckte kurz, dann begannen sich nacheinander die Glieder seiner Finger zu verdrehen, angefangen bei den Fingerspitzen. Langsam und scheinbar behutsam, gleichmäßig und unaufhaltbar näherten sie sich dem Punkt, an welchem schließlich die Gelenke zu knacken begannen und ein Blinzeln später mit einem hässlichen Geräusch zerbrachen. Jan konnte nicht schreien, doch er spürte jede Sekunde, war bei vollem Bewusstsein. Die merkwürdige Kraft arbeitete sich seinen Arm entlang, zersplitterte die Unterarmknochen, überdehnte mit einem heftigen Ruck den Ellenbogen und faltete seinen Arm regelrecht gegen jeden Widerstand zusammen. Jeder konnte die unglaublichen Schmerzen in Jans Augen lesen, mit verzerrtem Gesicht stand er versteinert da, während sein Körper zerlegt wurde. Als eine Schulter ausgekugelt wurde und schließlich sein Kopf begann, sich langsam nach links zu drehen, erwachten seine Freunde zum Leben und jene, welche Jan nicht ins Gesicht schauen konnten, kamen wie in Trance etwas näher. Ein paar Anwesende riefen Eric Dinge zu, schrien ihn an, unter ihnen ein hoch gewachsener, kräftiger Junge aus Jans Gruppe.

»Was tust du? Mann, was tust du? Hör auf! Eric! Shit … Helft ihm doch! Jan …!«

Eric hörte sie nicht. Er stand mit einem kaum sichtbaren Lächeln einfach nur da und starrte Jan an, steuerte mit seinem Blick jene folternde Kraft, welche Jan gerade einen Zahn nach dem anderen aus dem Kiefer brach. In jeder Sekunde einen weiteren. Zwei Brüder, Jans engste Freunde und immer Teil seiner Gang, lösten sich schlagartig aus ihrer Starre und versuchten, Jans Kopf festzuhalten, der sich fortwährend und schleichend drehte und Jans Genick schon bald zerstören würde. Doch nichts half, es ging weiter. Mit einem leisen Knirschen verdrehte sich Jans rechtes Knie, laut zersplitterte das Schienbein, schließlich knickte der Fuß um und die Fußnägel wurden ihm gemein langsam von den Zehen gezerrt. Er begann, starr wie Stein seitlich zu kippen. Seine Freunde hielten ihn fest, überall bildeten sich dunkle Verfärbungen unter der hellen Haut, innere Blutungen, verursacht durch die Knochensplitter und Quetschungen.

»Macht einen Witz.«, flüsterte Eric abwesend, während das Blut in dicken Strömen aus Jans Mund quoll und an seinem lebensgefährlich verletzten Körper hinunterlief, sein großes Badehandtuch tränkte und auf den Boden tropfte. Leise spritzte es den anderen auf die Füße und an die Beine. Jans Körper wollte husten, konnte aber nicht. Seine Lungen füllten sich langsam mit Blut. Sein Mund öffnete sich gemächlich etwas weiter, doch es war nicht er selbst, sondern jene mörderische Kraft, welche die Kiefer auseinandertrieb. Immer weiter, bis der Unterkiefer schließlich aus dem Gelenk sprang und sich Risse von den Mundwinkeln aus über Jans Wangen zogen und seine gesamte blutige Zunge zum Vorschein kam. Ein gurgelnder, klagender Ton kam heraus.

»Wie bitte? Nein, Jan. Mach einen Witz.«

In Erics Stimme war etwas Kaltes und Forderndes. Jan blickte nun starr zur Seite, von Eric weg, sein Kopf drehte sich weiter und sein Nacken wirkte merkwürdig verbeult. Er hätte so nicht einmal mehr atmen können, wenn er nicht erstarrt und gelähmt gewesen wäre. Die Halswirbel waren deutlich unter der gespannten Haut zu sehen. Eine Rippe knackte laut, bohrte sich durch die Haut und stach eine Handbreit aus seiner Brust hervor. Ein dünner Strahl hellen Blutes blubberte hervor. Offensichtlich hatte die Rippe Jans Lunge verletzt.

»Mach einen Witz!«, brüllte Eric so laut, dass jeder im Raum zusammenfuhr.

Plötzlich ließ die Spannung in Jans Körper nach, hustend und Blut spuckend sank er wie ein Sack Kartoffeln in sich zusammen, fiel einfach schlapp auf den Boden, dürftig aufgefangen von seinen zwei Vertrauten. Es war ein hässlicher Anblick. Eric stieß sie beiseite, sie wehrten sich nicht. Er stellte sich über Jan, packte ihn am gebrochenen Kiefer und starrte ihm in die Augen. Jemand erbrach in eines der Waschbecken.

»Das war lustig. Nicht wahr? So lustig. So niedlich. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich jetzt töten will, wie gern ich dir dein reinrassiges Fleisch von den Rippen reißen würde. Du hast keine Ahnung.«

Eric ging mit dem Mund ganz dicht an Jans blutverschmierte Kehle, spürte die Zunge und Zähne des Drachen, atmete den frischen Geruch tief ein und fühlte das bebende Pulsieren von Jans Halsschlagadern in der Nase.

»Aber ich kann nicht. Er lässt mich nicht. Sei dankbar.«

Eric erwachte schlagartig aus seinem Blackout, erfasste blitzschnell die Situation und blickte flüchtig zurück zu der Stelle, wo er zuletzt gestanden hatte. Als ihm annähernd klarwurde, was er gerade tat, blieb ihm beinahe das Herz stehen. Er sah sich um. Einigen standen die Tränen in den Augen, andere fühlten sich hin- und hergerissen zwischen Faszination, Genugtuung und Panik. Eric roch frischen Urin, jemand hatte die Kontrolle verloren. Außer Haku und Jack sah ihn niemand direkt an, es war totenstill, kaum drei Minuten waren vergangen. Mit einem Mal drang Jacks Stimme zu ihm durch, er schrie Eric an und befahl ihm, aufzuhören. Eric wandte sich Jan zu, der mittlerweile verstummt war. Seine Augen waren verdreht, er war bewusstlos. Er würde sterben.

Eric spürte den Drachen in sich, erregt und ganz bei der Sache. Er fühlte den brennenden Hunger, schmeckte den Geruch von Jans Blut, metallisch, warm und betörend. Plötzlich geriet das Blut auf dem Boden in Bewegung, Jans Körper ebenfalls. Hunderte zersplitterter Knochen und Gelenke im zerstörten und verfärbten Körper setzten sich wieder zusammen, wie kleine Steinchen rollten die ausgerissenen Zähne über die Fliesen und sprangen zurück an ihren Platz, bohrten und keilten sich ruckartig in die Kiefer, ehe diese sich zügig regenerierten und die kraterartigen Bruchstellen verheilten. Muskelgewebe und Haut erholten sich, Nervenfasern wuchsen wieder zusammen. Fast alles vom vielen verlorenen Blut floss in haarfeinen Strömen durch Ohren, Nase, Mund und Tränenkanäle zurück in den Körper, nachdem feiner Sand und Schmutz einfach herausgefallen waren. Als wäre sein Leib von tausenden, dicken Maden gefüllt, bewegte sich alles unter Jans Haut, das teils knirschende und schmatzende Geräusch erinnerte schließlich an schwere Regentropfen auf weichem, dickem Stoff. Nach kaum siebzehn Sekunden schreckte Jan auf, als wäre er gerade einfach nur in einer langweiligen Unterrichtsstunde weggedöst.

Jan gab keinen Ton von sich, er hyperventilierte. Sein Kopf zitterte, er sah die Schweinerei auf dem Fußboden und starrte seine Hände an, bewegte die Finger. Er hatte zwar keine Schmerzen, doch er wusste, dass gerade irgendetwas passiert war. Bloß war der Schreck so gewaltig, dass er sich nicht sicher war, ob er nur geträumt hatte. Sein Körper war völlig gesund und als wäre Jan einfach nur ausgerutscht oder gestolpert, wollte er sich aufrichten. Das große Badehandtuch, noch immer um seine Hüfte geschlungen, war voller Blut. Als er das sah und Eric vor sich erkannte, zuckte er zusammen und der Groschen fiel. Kein Traum. Aber das war unmöglich. Eric sah ihn einfach nur an, spürte einen erneuten Anflug feuriger Hitze in seiner Brust und beobachtete berechnend den völlig unmöglichen Konflikt in Jans Bewusstsein, zwischen der Wahrheit und dem, was in Jans eigener Wahrheit unmöglich sein müsste.

»Tut mir leid. Alles klar?«, sagte Eric. Er hielt Jan die Hand hin, doch der nahm sie nicht und begann, noch heftiger zu zittern. Er sank zurück auf den Boden, mit dem Rücken an der Trennwand. Am liebsten wäre er noch weiter ausgewichen, nur langsam beruhigte sich seine Atmung.

»Warte, nein. Antworte nicht. Es ist mir nämlich scheißegal.«

Eric lächelte ihn an, dann packte er Jan am Hals und stellte ihn aufrecht gegen die Trennwand. Er griff in Jans Plastiktüte, welche vergessen in einem Waschbecken lag, nahm eine frische Tube Zahnpasta heraus und drückte sie Jan in die wieder völlig verheilte Hand.

»Rate mal.«

Jan nahm sie zitternd entgegen und ging zu dem kleinen Jungen, der noch immer die Augen geschlossen hatte und sich fest an Haku klammerte.

»Hey«, sagte Jan mit schwacher Stimme und ging vor dem Kind auf die Knie. Er war den Tränen nahe, »du kannst jetzt wieder hinsehen. Es tut mir so leid … bitte, nimm … bitte … Es tut mir leid, ich … bitte.«

Der Junge öffnete die Augen, sah direkt in Jans Gesicht und überlegte erstaunt und eingeschüchtert genau, was er tun sollte. Er sah die Spuren auf dem Boden, das Blut in Jans Gesicht und dessen psychisch völlig gestörten Zustand. Er nahm stumm die Tube entgegen. Eric nickte ihm zu, schickte ihm einen Gedanken.

»Hab keine Angst. Es ist vorbei. Es wird dir hier gutgehen, ich verspreche es dir. Komm zu mir, Jack oder Haku, falls es Probleme gibt. Zeige keine Angst.«

Eric wandte sich ab und machte sich auf den Weg zu seinem Stammplatz, der letzten Duschkabine. Alle anwesenden Jungs vermieden es konsequent, ihm in die Augen zu schauen. Jene, welche älter und größer als er waren, schienen sich leicht zu verneigen. Eric fühlte ihre aufrichtige Unterwerfung, es war unterbewusst und völlig surreal, selbst für ihn. Als würde der Drache noch immer auf sie einwirken. Sie wichen ihm einfach aus, machten wortlos den Weg frei und starrten auf die blutigen Fußabdrücke, welche Eric hinterließ. Sie alle würden in ein paar Minuten aus ihrer Starre erwachen, einige würden sich Jans Blut von den Füßen und Beinen waschen. An was würden sie sich erinnern? Eric empfand eine Art Enttäuschung, als er ihnen in die Gesichter blickte. Warum unterwarfen sie sich? Er konnte nicht klar denken, war noch lange nicht wieder völlig bei sich.

»Haltet zusammen. Ihr seid so viele. Warum habt ihr dem Kleinen nicht geholfen? Warum steht ihr immer nur da und schaut euch den Scheiß an?«, fauchte Eric genervt. Keiner sagte etwas.

Er schloss die Kabinentür hinter sich und drehte den Hahn auf, hörte, wie nach anfänglicher Totenstille so langsam das Leben zurückkehrte. Leise zwar, als wollte ihn niemand stören, aber es ging weiter. Jemand weinte leise, doch es war nicht Jan oder der neue Junge, welcher noch bei Haku stand. Eric vernahm seine Stimme, als das Kind fassungslos mit Jack und Haku sprach.

»Wer ist das? Was hat er gemacht?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Haku letztlich, als Jack lange stumm blieb.

Drachenkind

Подняться наверх