Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 15

Kapitel 12

Оглавление

Als Eric aufwachte, war sein Kopf wie leergefegt. Völlig entspannt atmete er kaum noch. Die Sonne stand höher, vermutlich Mittagszeit. Er holte tief Luft und ihm wurde leicht schwindelig. Er hatte tatsächlich geschlafen, ohne zu träumen. Zwar kaum zwei Stunden, aber es fühlte sich fast so an, als wäre es etwas komplett Neues.

Jack war noch immer nicht zurück. Eric richtete sich in seinem Bett auf und starrte seine Füße an. Es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder in Gang kam und seine Gedanken langsam zurückkehrten. Nach einer Weile fiel ihm Crows Besuch ein und er sah den Tisch an. Sofort begann eine Unmenge an Fragen in seinem Kopf zu kreisen. Gab es noch mehr ihrer Art in diesem Heim? Wie viel wusste Haku und wie viele Geheimnisse hatte Jack tatsächlich? Und Mia. Bei dem Gedanken an sie fühlte er eine kurze Spannung im Bauch. Sie musste so viel mehr wissen als sie preisgab. Er dachte an ihren Brief, erinnerte sich sofort an die Zeilen, in welchen sie sich entschuldigte und meinte, sie hätte so vieles vor ihm verborgen. Aus gutem Grund, wie sie sagte. Was sollte das für ein Grund sein? Falls sie auch nur ansatzweise eine Ahnung hatte, was in ihm vor sich ging, warum sollte sie dann trotzdem … Eric blinzelte. Ruhig bleiben. Er war hier, wegen ihr. Sie hatte ihn aufgezogen und versorgt, kannte ihn besser als jeder andere. Mit Ausnahme vielleicht von Jack. Sie hatte versprochen, alles zu erklären. Sobald sie von hier fort wären. Wohin eigentlich? Noch eine Frage, die Jack und er bisher nur spielerisch gestellt aber nicht wirklich ausdiskutiert hatten. Jack wusste es auch nicht. Also hatte Mia auch Geheimnisse vor ihm. Eric gähnte. Abwarten und vertrauen.

Eric entwirrte seine wilden Haare, rieb sich den Kopf und stand auf. Noch während er so dastand, zwang sich ihm eine Frage auf. Wie hatte Crow seine Eltern verloren? Er hatte nicht nachgefragt, es erschien ihm in dem Moment nicht angemessen, sogar fast unwichtig. Aber jetzt wollte er es wissen. Als er kurz blinzelte, zuckte ein grelles Bild seines bizarren Traumes durch seinen Geist. Eric erschrak, seine Finger krümmten sich wie die Krallen des Drachen und eine kurze, heftige Spannung zuckte durch seinen Kiefer. Er hörte ein paar von Jans Freunden draußen vorbeigehen, sie machten sich wohl auf den Weg in die Stadt.

Als er sich angezogen hatte, machte sich Eric hungrig auf zum Essraum. Die Flure waren leer, die meisten unterwegs, wollten sie doch über das letzte Wochenende vor Schulbeginn noch einiges erledigen. Nur viele der jüngsten waren noch da, meist in ihren Zimmern oder in einem der großen Gemeinschaftsräume, in welchen sie mit ein paar der Betreuer oder Ältesten ihre Zeit verbrachten. Gedankenverloren lief Eric am Eingang zum Essraum vorbei. Die riesige Schiebetür war offen und der ausgedehnte Raum fast leer. Nur Jack und Mia saßen an dem großen Tisch. Eric überlegte kurz, ob er doch lieber draußen bleiben sollte. Der Geruch von gebratenem Fleisch und Kartoffeln sowie Mias Tee wehte ihm in die Nase und sein Hunger wuchs ins Unermessliche. Also doch, hinein. Als er stumm auf den Tisch zu ging, drehte sich Mia zu ihm um. Es war, als hätten sie ihn tatsächlich nicht gehört oder bemerkt.

Mia sah müde aus, hatte Ringe um die Augen und offenbar wenig geschlafen. Trotzdem spürte Eric, dass sie in guter Verfassung war. Sie sagte nichts, Jack sah ihn zufrieden an.

»Haben du geschlafen?«

»Ja«, sagte Eric und räusperte sich, als ihm seine schwache Stimme auffiel, »nicht viel, aber immerhin.«

»Gut«, sagte Mia, »setz dich. Du kannst später etwas essen. Trink einen Tee.«

Eric fühlte sich plötzlich wie auf dem Weg zur Schlachtbank. Mia sah nicht besonders wütend aus, wirkte jedoch etwas kühl. Er setzte sich und betrachtete unruhig eine Biene, welche durch ein offenes Fenster herein schwirrte und systematisch den Raum absuchte. Er nahm den dritten Becher, welcher noch umgestülpt neben der großen Teekanne stand. Offenbar hatten sie mit ihm gerechnet. Behutsam goss er Tee hinein und beobachtete schläfrig den Dampf, wie der in niemals gleichen Formen und Strömen aufstieg. Endlose Variation und doch oberflächlich jedes Mal so ähnlich …

»Eric, ich habe zwei Fragen. Sieh mich an.«

Mia sah ihn ernst an, lenkte seine Aufmerksamkeit von der Biene und dem Tee auf ihr Gesicht.

»Im Wald bat ich dich, den Stein schweben zu lassen. Ich verlangte Kontrolle. Was war deine Antwort?«

Eric sah sie überrascht an, blitzschnell entwickelte sich eine Kette aus möglichen Absichten Mias in seinen Gedanken. Einen Sekundenbruchteil später sah er ein, dass die wahrscheinlichste zweite Frage sein musste, ob er Jan absichtlich gefoltert hatte. Doch er war unsicher, erinnerte sich aber genau an das, was er zu Mia gesagt hatte.

»Kontrolle ist nicht das Problem.«

»Exakt. Und dann hast du den See angehoben. Als wäre es nichts.«

Mia schüttelte kaum merklich den Kopf, das Erlebnis am See war noch immer sehr präsent.

»Ich nehme das als Beweis dafür, dass Kontrolle in dem Sinne tatsächlich nicht dein Problem ist. So bleibt nur noch eine einzige relevante Frage, nachdem du Jan derart präzise und durchaus kontrolliert gefoltert und vor allem geheilt hast. Ebenfalls, als wäre es nichts. Was genau ist dein Problem?«

In ihren Gedanken sah Eric die Bilder aus dem Duschraum und er verstand, dass sie genau wusste, was passiert war. Als Mia erkannte, dass er ihre Gedanken beobachtete, verschloss sie diese umgehend und sperrte ihn aus. Eric hatte zwei Antworten, konnte sich nicht entscheiden und unterdrückte schnell den Impuls, einfach in Mias Gedanken einzubrechen. Warum hatte sie nicht gleich die zweite Frage gestellt? Hatte sie den Eindruck, er könnte etwas vergessen haben? Plötzlich wurde es still in ihm, seine Gedanken sprangen zurück zu jenem Gespräch mit Jack an diesem Tisch, als er ihn vor Wochen nach seinem Spitznamen gefragt hatte. Jack hatte Eric detailliert beschrieben, wie der damals reagierte, als Jan sich auf Haku stürzte. Und wie Eric auch damals Jan zwar attackiert, aber nicht getötet hatte, obwohl sich laut Jack alle genau dieser Absicht so sicher gewesen waren. Es war exakt dasselbe Muster. Weniger blutig, im Grunde gleich. Auf eine befremdliche, groteske Weise tröstete diese Erkenntnis Eric. Damals hatte er Jack noch gar nicht gekannt. Was auch immer ihn aufgehalten hatte, kam von innen und nicht von außen. Eric blickte auf, war abgedriftet. Doch es war kaum Zeit vergangen.

»Sag du es mir.«

Mia blieb still, war sich seiner Stimmung nicht sicher. Erst durch ihre Reaktion wurde Eric bewusst, wie angriffslustig seine Antwort gerade geklungen hatte. Er nahm einen Schluck Tee. Schließlich meinte sie:

»Ich denke, du weißt nicht, warum. Du weißt nicht, wer du bist. Und das ist okay, du bist jung. Aber du solltest dir sehr schnell überlegen, wer du sein willst, Eric. Sag mir, dass du verstehst, was ich meine.«

»Ja. Ich verstehe.«, flüsterte Eric mehr zu sich selbst als zu ihr. Unerwartet überkam ihn eine Art Schuldgefühl, weil er Mia so abweisend begegnete. Abermals folgten seine Augen der Biene, welche sich gerade wieder aus dem Staub machte. Als er Mia wieder ansah, zeigte ihr Gesicht einen milden Ausdruck, ein Gemisch aus Sorge und Verständnis. Sie umarmte ihn fest, wie früher so oft.

»Ich sehe, wie schwer es für dich ist. Jetzt trink den Tee und geh mit Jack etwas essen, ich muss ein paar Dinge erledigen, damit nichts fehlt. Wir reisen heute Nacht. Du wirst fliegen, dann wird uns wenigstens niemand angreifen. Ist das in Ordnung? Es sind etwa viertausend Kilometer und wir haben nicht viel Zeit, also ruhe dich vorher aus. Wir können zwischendurch nicht landen, merk dir das. Und mach dir um mich keine Sorgen, das sind nur die Nachwirkungen der Wächter. Das vergeht wieder.«

Eric löste sich aus ihrer Umarmung. Wieviel? Er rechnete nach. Da sie vermutlich nur nachts fliegen sollten, im Schutz der Dunkelheit, müsste er fast fünfhundert Kilometer pro Stunde schaffen. Wie stellte sie sich das vor? Das würden weder sie noch Jack aushalten. Mia verfolgte seine Gedanken, schüttelte beruhigend den Kopf.

»Nur ein Teil der Reise muss versteckt überwunden werden. Danach ist alles etwas entspannter. Und es wäre doch angenehm, wenn wir nicht laufen müssten, oder?«

Eric blieb still. Mia zeigte sich absolut sicher, dass ein Flug die beste Lösung war. Und gehen war ohnehin das Letzte, was er tun würde. Seine Muskeln zuckten kurz, als würden sie aufwachen. So weit und so lange. Tief in sich spürte er, dass er das locker schaffen würde. Er dachte an Zugvögel, die tausende Kilometer zu fliegen vermochten. Aber die mussten sich auch nicht immer Sorgen machen, von irgendwem ermordet zu werden oder plötzlich schreckliche Dinge zu tun, ohne es zu wollen.

»Ist gut. Und was müssen wir mitnehmen?«

Sie lächelte stolz.

»Ihr könnt so gehen, wie ihr seid. Frische Kleidung bekommt ihr dort. Und nein, ich werde dir nicht sagen, wo wir hinwollen. Eine Himmelsrichtung reicht völlig. Meine Kollegen wissen, dass wir verreisen werden, also stellt keine Fragen und behaltet es vor allem für euch. Wir werden uns auf dem Tennisplatz treffen, sobald es dunkel ist.«

Mia stand auf, lächelte sie beide an und verließ den Raum. Eric schaute ihr nach, hatte gerade nach dem Ziel fragen wollen. Dass er fliegen sollte, überschwemmte ihn erneut mit unzähligen, sonderbaren Möglichkeiten. Jack stand auf und verpasste Eric einen freundschaftlichen Schubs.

»Küche«, sagte er nur. Eric grinste. Jack hatte selbst schon wieder Hunger, obwohl er garantiert ausgiebig gefrühstückt hatte.

Auf dem kurzen Weg in die Küche sprachen Eric und Jack kein Wort. Ein kleiner Junge und ein Mädchen kamen ihnen entgegen, beide hatten sich scheinbar ein frisches Baguette stibitzt. Als sie Eric sahen, wurden ihre Schritte langsamer, doch als er so tat, als hätte er nichts gesehen, lachten sie und liefen an ihm und Jack vorbei. Der frische Duft benebelte Eric, er wollte nur noch essen. Sofort. Und sich dann mit Jack unterhalten. Doch bevor sie die Schiebetür zur Küche erreichten, blieb Eric wie angewurzelt stehen. Ein Geruch ließ ihn innehalten, Jack kam zurück und sah ihn fragend an.

»Jan ist da drin«, sagte Eric sofort. Jack lauschte. Jemand war gerade dabei, abzuwaschen. Offensichtlich wollte Jack allein deshalb die Möglichkeit ausschließen, dass es tatsächlich Jan sein sollte. Doch Eric meinte es ernst. Der Geruch war so deutlich, es war Jans Signatur. Eric machte ein paar unsichere Schritte rückwärts, ehe er sich wieder fing und versuchte, klar zu denken.

»Eric, es okay. Keine Gefahr, oder? Die nur abwaschen.«

»Bist du sicher?«, fragte Eric kleinlaut, prüfte seine Reaktionen und sein Inneres. Er hatte Angst, doch sie verflog. Jan würde bestimmt nicht versuchen, ihn anzugreifen. Also, was sollte schon passieren? Jack schob ihn beschwichtigend einen Schritt vorwärts.

»Lernen, damit umzugehen. Los jetzt, ich hab Hunger.«

Als sie in die Küche eintraten, waren dort Jan und die zwei seiner Freunde, welche ihm zu helfen versuchten, als Eric ihn angegriffen hatte. Sie standen an einem der riesigen Spülbecken, arbeiteten sich durch das Geschirr von Frühstück und Mittagessen. Eric blieb in der Tür stehen, Jack ging einfach weiter zu der langen Arbeitsplatte aus Metall, welche direkt an der Wand neben der Tür war und auf welcher immer die Reste des Essens abgestellt wurden. Als Jack sich einen großen, sauberen Teller von jenem Stapel nahm, auf dem einer von Jans Freunden ständig welche abstellte, bemerkten sie ihn. Der Junge hielt inne, Jack nickte ihm freundlich zu und entfernte sich rasch. Ohne Zögern oder Unbehagen begann er, Kartoffeln und Gemüse auf seinen Teller zu laden. Als der Junge seinem Bruder und Jan einen Stoß gab, drehten auch sie sich um und sahen Eric in der Tür stehen. Jan war gerade dabei, eines der großen Fleischmesser abzuwaschen. Als Eric die schimmernde Klinge sah, wurde er unruhig. Jan stellte das Wasser ab und warf Jack einen prüfenden Blick zu. Der war bereits am Essen und beobachtete die Situation, ohne sich einzumischen. Eric blinzelte. Da er sich nicht aus der Hand fressen wollte, musste er sich einen Teller besorgen.

Jan stand einfach nur da, mit gelben Gummihandschuhen, welche vom heißen Wasser leicht dampften und an denen Schaum klebte, der träge auf den Boden tropfte. Er hielt das große Messer fest umklammert. Er wusste, dass Eric nicht auf Stress aus war. Das war der eigentlich nie. Doch seit er im Duschraum aufgewacht war, wütete in ihm eine brennende Angst vor dem Ding, das ihn entweder in echt oder nur im Traum heimgesucht hatte. Ihm war klar, dass etwas Reales passiert war. Er wusste genau, dass weder Tim noch Kay, die zwei Geschwister und seine engsten Freunde, ihn belügen würden. Eric hatte etwas damit zu tun. Doch was sie ihm beschrieben hatten, war unmöglich. Und was er selbst gesehen hatte, ebenfalls. So hielt er es für einen Albtraum, erlebt während jener Bewusstlosigkeit, welche auf seinen Sturz auf den feuchten Fliesen gefolgt sein musste. Wahrscheinlich hatte Eric ihn geschlagen oder er war ausgerutscht und hatte sich den Kopf gestoßen. Jan konnte nicht annehmen, was die Alternative zu dieser Idee wäre, welche an sich schon erniedrigend genug war. Es ging einfach nicht. Egal, was alle anderen sagten.

Jetzt kam Eric unsicher auf sie zu. Jan blieb stehen, obwohl er einen unglaublichen Drang verspürte, Eric aus dem Weg zu gehen. Das Messer in seiner rechten Hand stieß gegen das Spülbecken, als er sich schließlich doch ein Stück bewegte. Eric sah es an und seine langsamen Schritte verstummten. Jan musterte ihn und machte keine Anstalten, die große Klinge loszuwerden. Als Tim das Messer in Jans Hand sah, gab er Jan einen leichten Stoß. Es war klar, dass er und sein Bruder in diesem Moment viel mehr Vorsicht vor Eric empfanden als Jan selbst. Und das nur, weil sie genau wussten, was wirklich passiert war und dass Erics Unsicherheit jederzeit verschwinden konnte. Sie sahen den Moment vor sich, in welchem Eric Jan im Duschraum gewarnt hatte. Ihre Herzen begannen, schneller zu schlagen.

Eric beobachtete die drei, hörte Jack im Hintergrund schmatzen. Die Situation war absurd, so völlig überflüssig. Jan würde ihn ja wohl kaum mit einem Messer abschlachten wollen. Sollte er ihn bitten, es beiseite zu legen? Was war mit seinen Freunden? Sie waren keine Bedrohung, verhielten sich ihm gegenüber eher respektvoll, gar verängstigt. Eric entschied, das Messer nicht weiter zu beachten. Als er weiter ging und sich einen Teller nahm, konnte er Jans rasendes Herz hören und spürte die Schläge im Gesicht. Es kitzelte. Er nickte Jan und den anderen beiden zu, dann machte er sich auf den Weg zu Jack und füllte sich ebenfalls seinen Teller. Die Stille war so gespannt, dass es unangenehm wurde. Nur das hin- und herschwappende Wasser im Spülbecken und die tausenden, platzenden Schaumblasen blubberten und knisterten leise vor sich hin. Die Neonröhren summten sanft, einer der riesigen Kühlschränke begann plötzlich, zu brummen. Trotzdem wirkte es, als wäre es totenstill.

»Ist es wahr?«

Eric verlor vor Schreck fast den Teller und seine Gabel fiel laut klirrend zu Boden, als er die laute Frage hörte. Er drehte sich um. Jan kam mit dem Messer auf ihn zu, hielt es unverändert fest umklammert. Jetzt spürte Eric genau das, was er so sehr vermeiden wollte. Den Hauch einer realen Gefahr, welche ihn sofort anregte und direkt erahnen ließ, dass das Drachenfeuer in Bewegung geriet. Auch Jack stellte seinen Teller ab und platzierte sich neben Eric.

»Ob es wahr ist! Sag es mir.«

Eric wusste nicht, was er sagen sollte. Welche Frage stellte Jan eigentlich? Er erkannte Jans Zweifel und Angst, doch er verstand ihn nicht.

»Jan, was meinst du? Was genau willst du wissen?«

Erics Stimme wirkte noch relativ ruhig, seine ehrliche Ahnungslosigkeit wurde auch den anderen bewusst. Jan blieb stehen. Er schien nicht glauben zu können, dass Eric ihn nicht verstand. Nach ein paar unendlich langen Sekunden meinte er:

»Was ist da passiert, im Duschraum? Was haben wir … wie … warum bin ich gestürzt?«

Seine Stimme wurde schwächer. Eric war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass sich Jan erniedrigt fühlte, oder daran, dass er etwas sah, was weder Eric noch sonst jemand gesehen hatte. Seine Freunde mussten ihm alles erzählt haben. Glaubte er ihnen nicht? Eric schaute Jack an, dessen Gesichtsausdruck sich gerade veränderte. Es schien, als würde Jack etwas erkennen, was er nicht begriff. Er schickte Eric einen Gedanken.

»Eric, er etwas gesehen. Schau in seine Erinnerung. Siehst du?«

Als Eric Jacks Hinweis folgte und sich Jans Gedanken genauer ansah, wurde ihm leicht übel. Er sah dasselbe dunkle Mischwesen, welches er in seinem kurzen Traum am Morgen gesehen hatte, wie es Jan und dessen Freunde geschlachtet und von ihrem Fleisch gezehrt hatte. Es stand an Erics Stelle im Duschraum, die glühenden Augen waren der Quell aller Schmerzen, welche Jan empfand. Jan hatte alles gespürt, jede Sekunde der physischen Qualen erlebt, doch der Ursprung war jenes bizarre, bitterböse Monster und nicht Eric selbst. Es war, als hätte der Drache Jan etwas eingepflanzt, einen furchtbaren Keim, einen materialisierten Schmerz. Plötzlich stand das Wesen über Jan, der große Kiefer mit den vielen langen und scharfen Zähnen kam Jan immer näher und die lange Zunge umspielte seinen blutigen Hals, leckte die rote Flüssigkeit ab. Das Ungetüm führte die Zähne an Jans Gurgel, durschnitt langsam die Haut aber biss nicht zu. Jan spürte die Hitze aus dem Inneren des Wesens, hörte währenddessen genau jene drohenden Worte in seinen um Hilfe schreienden Gedanken, welche Eric kurz vor Jans Heilung ausgesprochen hatte. Die Fänge der Bestie hielten Jans Kopf und Körper so fest, dass der sich keinen Millimeter bewegen konnte. Schließlich wurde es schwarz um ihn und er erwachte, verwirrt und von Schmerzen geschüttelt, die dann schnell verschwanden. Als wäre alles nur ein Traum gewesen betrachtete Jan seine Hand, dann den blutverschmierten Boden des Duschraumes, schließlich sein blutiges Handtuch. Als er Eric anblickte, packte der ihn am Hals und stellte ihn spielend leicht aufrecht hin, wobei sich Jan schmerzhaft auf die Zunge biss. Jan sah wieder Eric, doch dessen Augen waren denen des Monsters gleich.

Eric schloss kurz die Augen, wich vor Jan zurück. Der zitterte, er wollte eine Antwort. Blitzschnell suchte Eric die Erinnerungen an den Vorfall in den Gedanken der zwei Brüder, welche sich neben Jan gestellt hatten. Sie hatten Eric in menschlicher Gestalt gesehen, wie alle anderen auch. Das Monster existierte nur in Jans Kopf. Doch die Folter hatten alle gesehen. Was sollte er nun sagen? Ja, ich habe dich gefoltert. Nein, ich sehe in Wirklichkeit ganz anders aus, das war ich nicht. Fast hätte Eric gelacht. Die Situation hätte unwirklicher nicht sein können. Als Jans Hand mit dem Messer nach oben schnellte und er es auf Erics Brust richtete, stellte sich Jack vor Eric.

»Jan, es reicht. Hören auf. Letzte Chance.«

»Ich muss es wissen, sag es mir!«, brüllte Jan so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Er hatte Tränen in den Augen, stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Die Messerspitze erzitterte, seine Hände schwitzten.

»Rede! Sag es! Ja, oder nein? Bist du …«

Jans Stimme versagte, er konnte kaum noch Atmen. Eric schob Jack beiseite, stellte sich direkt vor Jan.

»Jan, ich habe dich gefoltert. Es ist wahr. Du hast nicht aufgehört, du hast Crow bedroht und du wolltest Jack Schmerzen zufügen. Ich habe dich gewarnt. Ich habe dich deutlich gewarnt. Aber was du gesehen hast, existiert nur in deinem Kopf.«

Jan fiel das Messer aus der Hand, seine Muskelspannung ließ augenblicklich nach. Er schluchzte, sank auf den Boden und krümmte sich, als seine Realität auseinanderfiel.

»Es ist wahr! Es ist … Nein. Aber bist du es? Dieses Ding?«

Eric kniete sich vor ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Jans Zustand war schlecht. Ein Schwächeanfall. Sein Herz schlug ungleichmäßig, er hatte üble Seitenstiche, seine Atmung war krampfhaft. Eric erkannte den nahenden Schwindel, Jan würde ohnmächtig werden, falls er nicht normal atmete.

»Ja«, flüsterte Eric ihm zu. »Ja, sieht ganz so aus. Jan, du musst atmen. Atme, konzentriere dich. Sieh mich an.«

Eric war sich nicht sicher, ob das, was er gerade tat oder sagte, in irgendeiner Form hilfreich für Jan wäre. Doch der blickte Eric tatsächlich mit weit aufgerissenen Augen und Panik in den Gliedern an. Als er sah, dass Eric selbst verängstigt wirkte, bekam er sich langsam in den Griff.

»Leg dich hin«, sagte Tim. Zu dritt halfen sie Jan, sich auf dem kühlen Küchenboden hinzulegen. Sie überwachten seinen Zustand, während Jack kauend mit einer Papiertüte dazu kam, aus welcher er gerade noch den Rest eines Baguettes genommen hatte.

»Atmen eigene Luft«, schmatzte Jack, reichte Tim die Tüte und der hielt sie Jan vorsichtig auf Nase und Mund. Eric beobachtete angespannt Jans Puls. Die Schläge wurden schwächer, aber regelmäßiger. Jans Atmung entspannte sich.

»Willst du vergessen?«, fragte er Jan leise. Er spürte, dass der Drache sich einmischte, kühl und berechnend. Doch Eric ließ ihn, verfolgte unentschlossen und irritiert das eigene Handeln. Jan sah ihn an, mit einem undefinierbaren Ausdruck im Gesicht. Nach ein paar Sekunden schüttelte er den Kopf.

»Nein«, röchelte er, »nein! Lass mich … verpiss dich einfach. Scheiß Bestie, hau ab!«

»Es tut mir leid, Jan. Es tut mir wirklich leid. Das hätte nicht passieren sollen. Hab keine Angst vor mir, ich bin friedlich. Ich will nichts von dir. Aber falls du Jack oder Crow oder Haku jemals wieder bedrohst, werde ich dich töten. Denk daran. Vielleicht werde ich ab und zu in den Träumen nach dir sehen, falls du weiterhin so … unangenehm bleibst.«

Eric erschrak. Nichts dergleichen hatte er sagen wollen, abgesehen von der Entschuldigung. Tim und Kay gafften ihn fassungslos an, der Drache warf ihnen einen feurigen Blick zu und richtete sich auf. Jan atmete wieder schneller.

»Ihr wollt eigentlich nicht so sein wie er. Ganz bestimmt nicht. Oder doch?«

Keiner sagte etwas. Eric wollte kein Wort mehr sprechen, doch der Drache setzte sein Spiel fort. Eric war völlig klar, wie nahe das, was er selbst dachte, an dem war, was der Drache aussprach. Sie waren sich im Grunde einig. Das machte es fast unmöglich, die Sache zu beenden. Er beobachtete mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und bitterem Vergnügen die Gedanken der drei, schließlich meinte Tim:

»Danke für deine Hilfe. Wir kümmern uns um ihn, versprochen. Er wird sich benehmen. Bitte, geh einfach.«

Eric nickte, als er Tims Furcht erkannte und sah, dass der die Warnung verstand. Beinahe hätte sich Eric noch einmal entschuldigt, beobachtete beschämt und unglücklich, welche zersetzende Wirkung das Spiel des Drachen auf alle hatte, die davon betroffen waren. Aber der Drache ließ ihn nicht sprechen. Er zog sich einfach zurück, das Feuer beruhigte sich. Eric nahm sich noch schnell eine ordentliche Menge zu Essen, dann verließ er mit dem großen Teller die Küche. Jack tat es ihm gleich.

Als sie in ihrem Zimmer ankamen, schob Jack achtlos alles vom Tisch, was dort lag, stellte seinen Berg an Futter ab und holte sich aus seinem kleinen Kühlschrank eine Flasche Eistee. Beide setzten sich an den Tisch, doch keiner rührte sein Essen an. Jack blickte Eric nachdenklich ins Gesicht.

»Also … haben du gesprochen oder Drache?«

»Beide,« antwortete Eric unvermittelt, »ich wollte mich entschuldigen und dann …«

Er schwieg, begann mit der kühlen Mahlzeit. Seine Gedanken hingen in jenem blutigen Traum vom Vormittag fest. Das war es also, was Jan erlebt hatte. Dass er Eric in jener befremdlichen Form gesehen hatte, war wie ein merkwürdiges Zeichen dafür, dass der Drache äußerst selbstständig agierte und Dinge tun konnte, von denen Eric überhaupt nichts wusste. Und die letzte Drohung in der Küche? Er würde Jan in dessen Träumen besuchen? Eric grübelte, fühlte sich durch das Essen schon etwas besser und gleichzeitig so unwohl wie in dem Moment, als Jack ihm gezeigt hatte, was er Jan vorhin angetan hatte. Als er an Crow, Haku und Mia dachte, schluckte Eric und ließ sein Besteck sinken. Sollte er Jack nun auf all dessen offensichtliche Geheimnisse ansprechen? Was würde der sagen? Zögerlich aß Eric weiter, während Jack bereits fast fertig war. Schließlich entschied sich Eric, nichts zu sagen. Er fürchtete sich davor, Jack erklären zu müssen, was es mit jenem Mischwesen auf sich hatte. Denn er wusste es selbst nicht und solange er so wenig wusste, wollte er nicht mehr darüber nachdenken, was es alles bedeuten konnte. Es machte ihn nur verrückt. Sofort spürte Eric jenes triezende Schuldgefühl, welches immer dann aufkeimte, wenn er Jack etwas verheimlichte. Doch er kämpfte es nieder. Jack hatte selbst so vieles zu erklären, wenn sie erst einmal von hier fort wären.

Jack stopfte sich die letzte Ladung in den Mund. Warum war Eric so still? Er schien nachzudenken, seine Gedanken waren wie verschlossen. Das war neu. Normalerweise war Eric ihm gegenüber völlig offen. War etwas passiert, wovor er Angst hatte? Jack sah Eric beim Essen zu, nippte an seinem Eistee und hatte das Gefühl, Eric käme langsam dahinter, wie viel vor ihm verheimlicht wurde und dass er und Mia viel mehr miteinander über Eric sprachen als offensichtlich. Seitdem er dem Drachen begegnet war, wirkte Eric irgendwie anders. Vorsichtiger vielleicht. Aber da war noch mehr, Eric hatte es selbst gesagt: Er hatte Angst und fühlte, wie er sich selbst Tag für Tag veränderte. Jack rief sich Jans Gedanken in Erinnerung, betrachtete die verschwommenen Umrisse und Formen dessen, was Jan während seiner Folter gesehen und empfunden hatte. Er konnte das Erlebte nicht scharf sehen, hatte es in der Küche nur flüchtig gelesen, doch dass Jan dieses Ding mit Eric verband, war absolut klar. Und Eric hatte ihm abermals gedroht. Dieses Mal sogar damit, ihn in seinen Träumen zu besuchen. Jack wusste nicht, was er davon halten sollte. Er meinte zu sehen, dass der Drache dies nur deshalb sagte, weil er wusste, dass Jan sein Erlebnis zuerst für nicht mehr als einen hässlichen Traum gehalten hatte. Jan fürchtete sich vor diesem Wesen in seinen Träumen, offenbar war es über die Folter hinaus aktiv. So wäre es dann sehr effektiv, ihm mit weiteren Träumen zu drohen. Woher sollte Jan wissen, dass das so nie passieren würde? Trotzdem: Nachdem Eric den See angehoben und Jan einfach so geheilt hatte, war sich Jack kaum noch bei irgendetwas sicher, was seinen besten Freund und übermüdeten, verängstigten Beschützer betraf. Es war, als schlügen zwei Herzen in seiner Brust. Als wären zwei Seelen damit beschäftigt, untereinander auszufechten, wer oder was die Kontrolle übernehmen sollte. Und er konnte im Moment nicht mehr tun als aufzupassen, dass Eric nicht den Verstand verlor. Es war bitter. Jack dachte an Mias Brief und wünschte sich, er hätte ihn nie gelesen.

Als Eric schließlich seinen Teller von sich wegschob, fühlte er sich für einen Moment tatsächlich besser. Er sah Jack an und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass der ihn nachdenklich musterte.

»Was ist?«, fragte Eric neugierig.

»Keine Ahnung, Mann. Es einfach schwer, dich anzusehen. Du wirken verletzt und ich können so wenig tun im Moment. Ich müssen dir Dinge erzählen, aber es noch zu früh. Mia gesagt, wir warten, bis wir teilen Briefe, oder?«

Eric starrte ihn an. Ja, das hatte sie. Doch Jack schien zu überlegen, ob es vielleicht schon jetzt an der Zeit war, sich über diese Bitte hinwegzusetzen. Er wollte Eric etwas mitteilen, doch er tat es nicht, weil Mia ihn darum gebeten hatte? Darauf war Eric bisher nicht gekommen. Das klang einfach nicht nach Mia. In ihrem Brief hatte sie eindeutig ihnen die Entscheidung überlassen, wann sie was teilen wollten. Jack jedoch wirkte so, als hätte er eine ganz andere Forderung von Mia im Hinterkopf. Erics Neugier war mit einem Mal so hellauf angeregt, dass er kaum ruhig sitzen konnte. Egal, was Mia vor ihm verbergen wollte, es musste etwas sehr, sehr Wichtiges oder Weitreichendes sein, wenn sie selbst Jack davor warnte, es einfach zu sagen.

»Eric, sorry. Ich werden dir alles sagen, okay? Versprochen. Es nur zu früh, glaub mir. Es einfach nicht an der Zeit. Ich kenne dich. Du längst spüren oder schon wissen, dass ich und Mia viele Geheimnisse halten. Und ich will sagen, aber … Bitte, verstehen.«

Jack wurde unruhig, in seiner Stimme lag ein flehender Unterton. Er wirkte traurig und empfand eine aufrichtige Hilflosigkeit, welche Eric in dem Moment nicht erwartet hatte. Eric wusste, dass Jack seine Gefühle verstand und sie respektierte, ihm war klar, dass Jack großen Anteil an den Sorgen seines engsten Freundes nahm. Was die ganze Sache für ihn auch nicht leichter machte.

»Jack«, sagte Eric leise und merkwürdig berührt, »es ist okay. Ich vertraue dir. Wir haben beide Geheimnisse und ich muss dir auch was sagen, aber es ist zu früh. Ich weiß einfach noch nicht, wie. Mach dir keine Sorgen. Auch du bist nicht allein. Du weißt, ich würde alles für dich geben, oder?«

Jack nickte nur stumm. Jetzt wirkte er tatsächlich deprimiert. Etwas, was Eric bei ihm so gut wie niemals zu sehen bekam. Jack war so ungefähr das Maximum an Optimismus und Widerstandsfähigkeit. Wie konnte er derart bedrückt sein?

»Eric, machen keine Sorgen. Ich nur hoffen, du niemals wieder etwas für mich tun, was dir so schaden wie Jan zu foltern. Du sehen, es sein wie super schlechte Romanze. Wie in Fernsehen. Du alles für mich geben, ich alles für dich geben. Am Ende keiner haben etwas übrig oder einer tot. Dann nichts mehr zu teilen. Sinnlos. Was soll der Scheiß? Behalten etwas für dich!«

Eric lachte überrascht. Wie um alles in der Welt kam er jetzt auf sowas? Jack stand auf, nahm seinen und Erics Teller und das Besteck.

»Gleich wieder da, ich bringen zurück in Küche. Und dann wir schlafen. Heute Nacht reisen. Endlich!«

Er lächelte, Eric sah die Vorfreude in seinen Gedanken und ließ sich von ihr anstecken. Jack verschwand auf dem Flur, Eric hörte seine schnellen Schritte davoneilen. Zum ersten Mal seit unzähligen Stunden hatte Eric ein Gefühl von Glück in sich. Bei dem Gedanken daran, dass er gleich wieder träumen könnte, wurde es sofort kleiner.

Drachenkind

Подняться наверх