Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 21
Kapitel 18
ОглавлениеEs war wie ein Erwachen aus einem unwirklichen, gewaltigen Traum. Eric blinzelte, die zusätzlich schützenden Lider vor den Augen öffneten sich und kurz wurde alles viel zu hell. Unzählige Gedanken überschlugen sich, er war hungriger als jemals zuvor in seinem Leben. Seine sonstige Gelassenheit und Ruhe war wie vergessen. Der Traum ließ ihn nicht los und Eric wehrte sich gegen die Idee, die Schuldgefühle einfach zu verdrängen. Er wollte sie nie wieder vergessen. Manou musste beseitigt werden. Er würde wiederkommen, er würde stärker werden und weitermachen. Und dann?
Eric achtete schon gar nicht mehr auf die abwechslungslose, wunderschöne Pflanzenwelt unter sich. Er kam sich vor wie ein Tourist, der über dem Urwald schwebte und die verzaubernden Bilder in sich aufsaugte, sich aber doch nicht daran erfreuen konnte. Ständig hatte er Manou vor sich, der ihn verachtend angrinste und spottend so tat, als hätte er Angst vor ihm. Fast hätte Eric wütend nach ihm geschnappt, so real überkam ihn die triezende Einbildung. Unter dem linken Ärmel von Manous langem schwarzen Mantel sah er ein Stück von einer Narbe auf dem Handrücken. Eric erinnerte sich mit Genugtuung an seinen Angriff mit dem Stachel und der Schwanzspitze. Er hatte Manou eine tiefe und schwere Verletzung zugefügt, die den Menschen beinahe einen Arm gekostet hätte und sich von der Hand bis zur Schulter zog. Aber es reichte ihm nicht. Er wünschte sich mehr. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Eric das Gefühl, wirklich zu wissen und annähernd beschreiben zu können, was das Wort Hass ausdrücken sollte. Wer es täglich und mit Leichtigkeit aussprach, hatte keine Ahnung. Eine Belastung, ein zerreißendes Gefühl. Etwas, das alles und jeden verändern konnte, für Generationen und unsichtbar. Tückisch und kostspielig, wie ein Virus verteilbar. Schlecht. Wie ein falsches Versprechen.
Eric sah unter sich eine Bergspitze aufragen, die nicht von Wald bedeckt war. So hoch, dass er den Schnee darauf gerade noch unter Wolkenschleiern erkannte. Die grüne Natur umringte den Berg, hielt ihn für immer dort fest. Eric sank langsam auf den stummen Koloss zu und suchte nach einer Sitzgelegenheit. Er fand eine lange Spitze und landete an ihr, grub seine Krallen in das uralte Gestein und umklammerte den turmhohen Felsen mit dem Schwanz. So verweilte er und überblickte den Wald, sah überall nur Grün, wohin er auch schaute. Es war früh, sicher noch Vormittag. Stundenlang war er ziellos und wie in Trance geflogen, weg von allem, was er bei ihrer Ankunft hatte sehen können.
Erst jetzt wurde Eric vollkommen bewusst, was er getan hatte. Mia und Jack vergaß er nicht, aber er verjagte sie aus seinen Gedanken. Er wollte allein sein und klar denken. So, wie er es gewohnt war. Doch gerade jetzt kam es ihm unmöglich vor, sich auf etwas Anderes zu konzentrieren als auf seine Wut und den unbeschreiblichen Hunger. Der Flug war lang gewesen und die absichtlich freigesetzte Energie während der Anreise hatte an seinen Kräften gezehrt. Er spürte, wie sich der Drache seiner Sinne bediente und die Umgebung präzise nach Lebenszeichen absuchte. Er wollte jagen. Eric beobachtete sein eigenes, unbekanntes Verhalten. Abermals sah er etwas kommen, was es um jeden Preis zu vermeiden galt. Er war sich sicher: Wäre es schlimmer und er hätte in einem solchen Zustand von Wut, Hass und quälendem Hunger Menschen oder andere Wesen um sich, dann dürften die keine Fehler machen. Sonst würden sie in einem regelrechten Rausch aufgefressen.
Eric schloss die Augen, erarbeitete sich mit jeder Minute mehr Kontrolle über sein Inneres. Er beruhigte sein Herz, verlangsamte die Atmung, reduzierte die völlig überflüssig hohe Spannung in seinem Körper, welcher gerade nur auf Explosivkraft und Jagd gepolt war. Er ignorierte die deutlich wahrnehmbaren Spuren von Körperwärme unter dem weit entfernten Blätterdach und öffnete vorsichtig seine Flügel, um sich durch die eiskalte Luft in dieser Höhe etwas abzukühlen. Es war wie ein Fieber, welches es zu bekämpfen galt. Klarheit. Keine Hast, keine blinde und übermächtige Rage. Er sah Manou vor sich, dem das Spotten sogleich verging, als Eric zu sich kam und der Schmerz der Schuld in seinem Inneren nachließ. Er kühlte langsam ab. So verharrte Eric über eine Stunde in einer Art meditativen Ruhe, ließ nichts an sich heran und zersetzte geduldig jene heißen und machtvollen Impulse, welche ihn fast um den Verstand brachten.
Als Eric aus seiner Ruhe erwachte und die Augen öffnete, weil die Sonne ihm nun heiß und angenehm in die Flügel fiel, faltete er diese wieder zusammen. Er begann, sich dem Traum anzunähern, ganz am Anfang, als er den Pfeil Manous in den Rücken bekommen hatte. Seine Augen verengten sich. Er kämpfte gegen den Drang an, sofort nach dem Mörder vieler Menschen zu suchen, ihn und seine Gefährten endgültig auszuschalten. Instinktiv spürte er, dass er sie finden würde. Aber war es das Richtige? Er hätte es verhindern müssen … Aber er war doch selbst kein Mörder! Nur um Haaresbreite, dachte Eric, als er sich selbst über Jans blutüberströmtem Körper stehen sah. Der Drache ließ ihn ahnen, dass er alles sein konnte, was er sein wollte. Jede Form, jederzeit und unbegrenzt motiviert. Wollte er töten? Wollte er morden, wüten, manipulieren und foltern, um seine Ziele zu erreichen? Ja oder nein?
Die Wut in ihm wurde zu Verzweiflung. Sie befiel seine gerade abgekühlten Gedanken und drohte, sie zu lähmen. Mit der Explosion und dem erbarmungslosen Feuer vor Augen meinte Eric die Schreie derer zu hören, die durch sie getötet worden waren. Alles in seinem Bewusstsein rebellierte gegen den drohenden Verlust der Kontrolle über sich selbst. Hilflos schrie er all seine Angst, Verzweiflung und Wut heraus, ins eisige Nichts. Der Drache brüllte aus Leibeskräften, drei lange, donnernde Male, bis heiße Funken aus seinem Maul stoben und wie ein glühender Sturm davon wirbelten. Jeder hörte die Rufe des Drachen. Alles Leben im Wald würde spüren, dass er da war.
Seine langen Schreie schwächten Verzweiflung und Zorn, es blieb nur Erschöpfung. Seine Gedanken klarten auf. Er schnürte den Schwanz fester um die Bergspitze, um nicht herunterzufallen. Es war passiert, somit Vergangenheit und nicht mehr zu verändern. Und wahrscheinlich hätte Manou es auch getan, wenn er Eric nie getroffen hätte. Und wenn nicht Manou es tat, dann jemand anderes, denn Manou handelte auf Befehl dieses verdammten, unbekannten Herrschers. Der würde wohl kaum nur allein mit Manou irgendwo im Wald hocken und schlimme Dinge planen. Er musste so viel mehr Macht haben und unzählige Wächter und Diener unter seiner Kontrolle halten. Diese Gedanken hoben Erics Stimmung gewaltig, obwohl auch sie nichts ungeschehen machten. Tod und Verlust waren real und sie blieben es. Unberührt von Lüge oder Hoffnung.
Unglaublich. Diese Kraft, die er hatte. Würde er jetzt seine menschliche Form annehmen, fiele er wahrscheinlich bald in die Tiefe, denn der Wind war beachtlich hier oben und der Körper zu klein, um sich an dem großen, relativ glatten Felsen zu halten. Aber jetzt? Er konnte sitzen, wo er wollte, sich alles ansehen und vielleicht sogar verändern. Eric sah sich die Landschaft genauer an, ließ den scharfen Blick über Bäume und überwucherte Berghänge schweifen, die tief unter ihm das Land besiedelten. Er befand sich eindeutig auf dem höchsten Punkt innerhalb einiger hundert Quadratkilometer. Wie hoch? Er strengte seine Sinne an. Noch immer war in der Ferne das Echo seines Gebrülls zu hören, es wanderte durch den Wald wie ein lauter Geist. Als der Ton den Horizont erreichte, erspähte Eric einen riesigen Schwarm dunkler, fliegender Tiere. Vögel? Vermutlich. Der Schwarm explodierte förmlich aus dem Wald empor, verstreute sich über den Bäumen und zog davon. Diese Schönheit … Die Sonne verbarg sich hinter ein paar kleinen Wolken, strahlte warm und golden auf das unendliche Blätterdach. Wäre der Wind auf seinem Platz nicht so schneidend und schnell, Eric hätte die Flügel wieder entfaltet und ein Sonnenbad genommen.
Von hier oben sahen die Vögel über den Baumkronen wie winzige, schwarze Punkte aus, die sich scheinbar nicht bewegten, während sie über den Wald flogen. Eric überlegte, wie es wohl wäre, einen von ihnen zu kennen. Er hatte schon oft gesehen, wie Papageien oder Beos lernten, ein paar Worte zu sagen. Niemals könnte er Tiere ihr Leben lang in einem Käfig einsperren. Für ihn selbst war die Gewissheit, immer irgendwohin verschwinden zu können und einen Ausweg zu haben, fast das Wichtigste in seinem Leben. Seine Freiheit könnte er für nichts hergeben, niemals. Kein Mensch konnte das wollen. Aber sie taten es mit Tieren und selbst untereinander aus niedersten Motiven heraus, nahmen Freiheit, sperrten ein oder verkauften und versklavten, physisch und geistig und vermutlich auf jeder Ebene, die sie sonst noch irgendwann entdecken könnten. Eric dachte an Crow und wünschte sich, der wäre jetzt bei ihm und könnte sich dieses Wunder einer Landschaft ansehen. Crow hatte genau das Gegenteil getan. Er war zu denen gegangen, die ihm nahe erschienen und hatte sie nicht einfach zu sich geholt oder eingefangen. Er hatte eine Entscheidung getroffen, obwohl am anderen Ende seine eigenen, liebenden Eltern standen, welche dadurch zu kurz gekommen waren. Was auch immer ihn mit den Vögeln verband, es musste sehr mächtig sein. Ob jene Krähe, welche er vor ihrer Abreise entdeckt hatte, wohl jemals mit Crow Kontakt haben würde?
Erics Gedanken flogen ziellos umher, erkundeten die Erinnerungen seines Lebens, trafen sich irgendwo, suchten nach Lösungen für Probleme, fanden welche oder fanden keine. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und der Schnee auf dem schmalen Felsvorsprung links unter ihm begann in ihrem Licht zu leuchten und reflektierte bald so viel davon, dass Eric wegsehen musste. Es war wunderbar, hier oben unerreichbar in ungeahnter Höhe zu sitzen. Dann trafen sich wieder zwei seiner Gedanken: Vor dir ist nur Wald, bis zum Strand, links und rechts auch. Und hinter dir? Eric wunderte sich. Er war doch hierher geflogen und hatte dabei unweigerlich in die Richtung gesehen, welcher er jetzt den Rücken zukehrte. Aber er erinnerte sich nicht, war viel zu betäubt gewesen. Um das Gleichgewicht zu halten, breitete er die Flügel aus und nutzte den starken Wind, drehte sich langsam und vorsichtig um. Als er sich wieder sorgfältig festgeklammert hatte, warf Eric einen Blick zum Horizont.
Ein dunkler Streifen, gräulich oder schwarz. Und er bewegte sich sichtbar. Eric erinnerte sich sofort. Die Strudel aus finsteren Wolken, wie langsame Wirbelstürme. In seinen Träumen hatten sie das Licht eingesogen und alles unter sich begraben und erstickt. Eric lief ein kalter Schauer über den Rücken, die Zacken und Stachel auf seinem Panzer erzitterten. Dies war vielleicht das allererste Mal in seinem Leben, dass er die mysteriöse Dunkelheit wirklich würde erkunden oder berühren können. Sollte er vielleicht hinfliegen? Er spürte, wie der Drache in ihm sich regte. Ja, er sollte. Der Hunger kam jäh zurück, überrollte ihn wie die Wellen eines Meeres. Doch ihm war auch klar, dass er anderswo erwartet wurde. Also nicht jetzt. Und schon gar nicht allein, in einer unbekannten Welt. So kehrte er zum ersten und vielleicht interessantesten Gedanken zurück. Wo befand er sich eigentlich? Es konnte nicht die Erde sein, soviel war sicher. Eine fremde Sonne, ihr Licht war irgendwie anders. Und fremde Monde, von denen er bereits zwei kannte. Da das Meer aber so stabil gewirkt hatte, erwartete Eric schon fast, dass es noch mehr Trabanten gab. Skepsis. Er kam schon wieder mit dem Verstand an ein Ende. Es wurde langsam Zeit, alles zu erfahren, was er in dieser Welt brauchen würde. Es behagte ihm nicht, sich auf einem fremden Planeten so dicht vor einem Phänomen zu befinden, welches er seit Jahren immer wieder erlebt hatte und von dem er trotz all der Zeit nur eines wusste: Es bedeutete ein quälendes, schmerzhaftes Ende. Es sei denn, er änderte etwas. Soviel hatte Eric verstanden, doch das brachte neue Fragen. Er schüttelte sich kurz, löste die Umklammerung der Felsspitze mit seinem Schwanz und stürzte sich in die Tiefe.
Die Flügel dicht am Körper anliegend beobachtete Eric die ersten Baumkronen des steilen Abhangs, wie sie scheinbar immer schneller auf ihn zu flogen. Es war ein wirklich hoher Berg. Er zählte die Zeit, seine Augen maßen sorgfältig die Entfernung. Drei Kilometer, vier, fünf … Die Zahl wuchs und wuchs, Schnee und Eis lösten sich auf, aus trockenen Gräsern wurden Nadelbäume, unter welche sich schließlich alle möglichen Pflanzen mischten und als er bei elf Kilometern angelangt war und schon seit einigen Minuten flach am Steilhang nach unten schoss, kamen die Bäume plötzlich so schnell näher, dass er einen Schrecken bekam. Eric breitete die Flügel aus und fing seinen Fall in einem großen Bogen ab, stieg in einer langen, eleganten Kurve wieder aufwärts und hielt sich schließlich wenige hundert Meter über den Baumkronen, die im Licht der Mittagssonne aus solcher Nähe noch viel leuchtender wirkten.
Er sauste über den Ewigen Wald, der sich gerade eben als nicht ewig entpuppt hatte. Zwischen den Bäumen war der Waldboden kaum zu erkennen, aber sobald Eric einen Blick werfen konnte, sah er haufenweise Pilze und manchmal sogar kleine Bäche und Flüsse. Er erkannte etwas, das sehr ähnlich wie ein Hirsch aussah, der gerade sein Geweih an einem der Bäume rieb. Doch das Tier war locker fünfmal so groß, wirkte sehr stark und schwer. Der ganze Baum erzitterte und dicke, schwere Späne brachen laut krachend aus dem moströsen Stamm. Seine Klauen kribbelten. Beute … Nicht jetzt. Wie konnte das Leben hier jenem auf der Erde so sehr ähneln? Man musste eine Verwandtschaft annehmen, bei dem Aussehen und der Form. Gleichzeitig wirkte es zuerst sehr unwahrscheinlich, dass sich die Natur auf diesem Planeten so auffallend gleichartig zu der auf der Erde entwickelt haben sollte. Auch die Pflanzen zeigten große Ähnlichkeit, sie wirkten jedoch generell etwas größer und kräftiger. Eric erinnerte sich an die sichtbare Erdkrümmung über dem Meer auf der Erde und dem Meer hier. Der Unterschied war klar. Dieser Planet war größer, hätte vielleicht andere Rhythmen von Tag und Nacht. Und nach dem, was er so sehen und fühlen konnte, gab es so gut wie ausschließlich wildes Leben und Nahrung im Überfluss. Entfaltung wäre hier höchstens unter Pflanzen ein Problem, aber nicht für Tiere oder Wesen, welche sich fortbewegten und von ihnen ernährten. Genug Nahrung … Eric schnaubte genervt, als dieser Gedanke ihn erneut durch ein Zucken der Kiefermuskulatur an seinen immensen Appetit erinnerte. Er verliebte sich in diesen Wald, spürte dessen Kraft und Fähigkeit, zu beschützen und zu heilen. Die Luft hier war so unglaublich rein, dass selbst halbwegs bekannte Dinge und Stoffe so anders rochen und schmeckten, dass Eric aus der Faszination kaum herauskam. Er hob wieder den Kopf und beschloss, einen Bogen um die Route zu fliegen, die er vermutlich auf dem Hinweg genommen hatte. Er drehte scharf nach rechts, beschleunigte und zog sich mit heftigen Schlägen dichter unter die kleinen, weißen Federwolken.
Seine tief schwarzblauen Schuppen reflektierten die Sonne nur zum Teil, den viel größeren Rest der Energie nahm er in sich auf, atmete sie förmlich ein. Der feuchte, duftende Atem des Waldes, der Geschwindigkeitsrausch der Freiheit und all dies fast völlig lautlos, abgesehen von den verhaltenen Klängen des Lebens überall in der Umgebung … Besser ging es nicht. Eric erreichte beinahe die Hälfte jener Geschwindigkeit während der Anreise, aber dieses Mal hatte er einen klaren Kopf und nahm alles auf, prägte sich jeden Baum und jedes Blatt ein und stellte fest, dass manche Bäume einen Hauch von goldenem Glanz auf ihren Blättern trugen. Sie wirkten wie metallisch glitzernde Skulpturen mitten im Wald, alle paar Kilometer konnte er einen dieser merkwürdigen Riesen erspähen.
Seine Gedanken waren nur noch auf die Landschaft und seine Begierde nach neuem Wissen gerichtet. Er musste die Regeln dieser Welt erfahren, wollte sie und sich selbst endlich verstehen und am liebsten jedes der von Mia angedeuteten Geheimnisse aufdecken. Wo sollte er anfangen? Eric lockerte die strenge Kontrolle über seine eigenen Gedanken, fühlte sich wieder ruhig genug, um sie frei fließen zu lassen. Er suchte nach einer realen Konstante im Leben, einem Faktor, der sich nie veränderte, dem Grundstein aller Geschehnisse. Wenigstens etwas, worauf man sich unbedingt verlassen konnte. Es dauerte nicht lange, bis er die richtigen Ideen geordnet hatte. Vielleicht gab es wirklich nur dieses eine Prinzip: Kausalität. Aktion, Reaktion … was jemand wollte, würde zu Taten führen, welche ihrerseits Neues bewirkten … Eric schnüffelte, erkannte zufrieden den leichten Geruch von Baumharz. Sein Verstand taugte doch noch was. Ein erster Schritt schien getan, nichts konnte existieren, ohne dem Prinzip der Kausalität zu unterliegen. Was bedeuten würde, dass er dieses Prinzip im Geiste einfach umdrehen könnte, um zu begreifen, was gerade eigentlich vor sich ging. Welcher Wille oder welche Ereignisse hatten zur Gegenwart geführt? Das Was verlor an Bedeutung, das Warum wurde wichtiger. Woher kam die Finsterns und warum gab es sie überhaupt?
Eric überlegte. Kausalität … Wirklich eine Konstante im Üblichen Sinne? Was wäre, falls sich gar nichts ändern würde, falls alles stillstünde und es keine Aktionen mehr gäbe? Was sollte dann noch folgen? Könnte es überhaupt jemals zu so einem Moment kommen, nun, wo sich doch seit unbestimmter Zeit ständig alles veränderte und bewegte? Die Natur definierte sich durch Wandel und Entwicklung. Konstante Veränderung. Eine konstante Variable. Paradox … Und diese Variable, vielleicht wie ein X in einer Gleichung, war vor allem durch Menschen völlig unkontrolliert beeinflusst. Zumindest auf der Erde. Setzte man ein bestimmtes Ziel voraus, den Fortbestand von Vielfalt und dem Leben, wie Menschen es kannten, so ginge die Gleichung längst nicht mehr auf. Ihre Aktionen führten derzeit keinesfalls zu den gewünschten Reaktionen, im Gegenteil. Zu vieles entfernte sich beständig von dem, wonach Physik und Naturgesetzte verlangten: Balance, Ausgleich. Alles hatte einen Preis. Irgendetwas würde immer verbleiben und fortbestehen, sich wieder wandeln. Ob es das war, was die Menschen gerne hätten, war eine ganz andere Frage. Finster fragte sich Eric, warum sie überhaupt gegen diesen Herrscher ankämpften, wenn sie die Zukunft doch gar nicht sehen konnten, weil sie die Vergangenheit nicht völlig verstanden und nicht jederzet über jede Veränderung Bescheid wissen konnten. Vielleicht hatte der Herrscher eine Lösung für all ihre Probleme und sie wussten es nur nicht. Seltsamerweise erschien es Eric möglich, dass jener Herrscher etwas zu tun vermochte, was Menschen seit Anbeginn ihrer Zeit nicht geschafft hatten. Aber vielleicht wussten die Menschen sehr wohl, was der Herrscher wollte, bloß gefiel die Lösung ihnen nicht, der Preis war zu hoch oder der Weg zu schwer. Oder schlichtweg inakzeptabel nach ihren Maßstäben.
Und was war mit der Magie, von welcher er jeden Tag mehr mitbekam? Oder Telepathie? Nach seinem Kenntnisstad durch aktuelle Wissenschaft weder vollständig erklärt noch nachgewiesen, sogar äußerst unwahrscheinlich im Rahmen bekannter Naturgesetze und Regeln. Die wären dann wohl zumindest unvollständig, dachte Eric. Einstein hätte vermutlich nie eine Formel gefunden, die es ermöglicht hätte, einen Jungen in einen riesigen und echten Drachen zu verwandeln. Oder hätte Thomas Edison geglaubt, dass der Mensch selbst eine Quelle sichtbaren Lichtes sein konnte? Eher nicht. Dennoch, das Leben mit einer mathematischen Gleichung erklären zu wollen, erschien Eric unmöglich. Vielleicht sogar sinnlos. Zumindest mit den Werkzeugen, welche die Menschen sich bisher erschlossen hatten. Er stellte fest, wie lange es her war, dass er sich auf diese Art Gedanken gemacht hatte. Variablen und Konstanten des Lebens und beides zusammen … Letztendlich konnte man immer die Frage stellen nach dem Glauben an das, was sich nicht erklären ließ oder nach dem Zweifel an etwas, was eigentlich unberechenbar war und somit einem Zweifel keine wirkliche Grundlage bot. Warum musste überhaupt immer eine Erklärung gesucht werden?
Eric flog langsamer, wollte sich nicht zu sehr beeilen und noch länger allein sein. Eine Veränderung des Aufwindes, von dem er sich jetzt tragen ließ, brachte ihn dazu, seine Augen zu öffnen und nach unten zu sehen. Er erblickte einen riesigen See, silbern glitzernd und auffallend still. Sein Spiegelbild schwebte darüber hinweg, Eric betrachtete es nachdenklich. Er hatte sich selbst noch nie so gesehen. Er glitt nach unten, ließ seine Füße durch das Wasser fegen und spürte ein fremdartiges, extrem hochfrequentes Kribbeln in den Krallen. Es war wunderbar kühl aber nicht eisig und das Wasser war so sauber, dass er viele Meter tief auf den Grund in Ufernähe schauen konnte. Wenn er sich nicht immer so schwergetan hätte, ins Wasser zu kommen, hätte er gleich sein erstes Bad als Drache genommen. Einige hundert Meter vor sich sah er einen Felsen im See, der ein paar Hände breit aus dem Wasser ragte. Eric spreizte die Flügel, bremste und trippelte ein paar Schritte über den gigantischen Stein.
Ein schwarzer Brocken, wie Steinkohle. Als Eric nach ein paar Schritten einen Rand erreichte, stellte er sprachlos fest, dass die Kante perfekt Winkelrecht war und die drei Oberflächen, welche er an der Ecke zwei Meter weiter links sah, waren ebenfalls alle im rechten Winkel zu einander. Eric musterte den riesigen Brocken und dachte nach, ob er jemals einen solchen Stein gesehen hatte. Definitiv nicht. Eric vermutete, dass er auf einer Art Würfel stehen könnte. Und der müsste riesig sein, denn an dieser Stelle war der See bereits weit über einhundert Meter tief.
»Woher kommst du denn?«, flüsterte Eric gedankenverloren.
Zu seiner großen Überraschung sah er plötzlich Bilder vor seinem geistigen Auge. Einen verdunkelten Himmel, bewölkt und abendrot. Eine Art Insektenschwarm tanzte in scharfen, geometrischen Mustern über den Bäumen. Die Bäume waren anders als jene, welche er jetzt sah. Sie hatten keine Blätter, sondern eine Art Fell, waren deutlich flacher und irgendwie weicher, wie überdimensionierte Büsche. Ein Lichtfleck erschien, immer heller werdend. Ein gigantisches, glühendes Objekt brach durch die Wolkendecke, es zog einen Feuerschweif hinter sich her, so hell, dass das Bild kurz komplett weiß erstrahlte. Dann berührte der Quader die Erde, fiel mitten in einen Wald. Ein blendend heller Blitz riss den Boden auf, rote Fluten geschmolzenen Gesteins und Feuers folgten der flirrenden Schockwelle und die seltsamen Pflanzen wurden von glühenden Stürmen einfach zerstäubt. Die gewaltige Explosion ließ Boden und Luft beben. Der Fremdkörper bohrte sich mit roher Gewalt in den Grund, trieb mehr und mehr des Bodens in alle Richtungen davon, ganze Fetzen des Waldes erhoben sich und brachen wie eine vernichtende Welle über ihrer Umgebung zusammen. Als die sich auftürmenden, brennenden Massen Eric fast erreicht hatten, verschwand das Bild und langsam nahm der See um ihn herum wieder Gestalt an.
Eric guckte sich um und hatte gar keine Zeit, sich zu fragen, warum er plötzlich diese Bilder erfuhr. Er saß mitten in dem großen See, der von hieraus fast wie ein Meer wirkte. Nur die grüne Wand aus Bäumen, die ihn in weiter Ferne umgab, erinnerte an einen See im Wald. Schließlich fiel sein Blick auf seine Krallen, die sich tief in den weichen Stein gegraben hatten. Er kratzte ein wenig herum, scharrte und schnüffelte. Es war eine dünne, pulvrige Schicht zu spüren und der Stein roch nach Eisen, leicht verbrannt. Er saß also auf einem fremden und ziemlich großen Objekt, das hier vor Urzeiten auf den Planeten geprallt war. Und diese Gewalt hatte einen gigantischen, neuen Lebensraum geschaffen. Die Fruchtbarkeit der näheren Umgebung wäre somit erklärt. Vielleicht lag der Stein auf einem kleinen Vulkan, der durch den Aufprall ausgebrochen war. Aber wie konnte dieser Brocken perfekt viereckig sein? Das legte nahe, dass intelligentes Leben dieses Objekt hervorgebracht hatte, denn Kristalle, welche in solch rechtwinkligen Strukturen wuchsen, würden nie zu solch großen Gebilden heranwachsen und vor allem die Gewalt eines solchen Aufpralls nicht einfach überstehen. Erneut kratzte Eric mit den Krallen über die Oberfläche. Kein Kristall, also keine natürliche Form. Jemand hatte dieses Objekt willentlich erschaffen oder geformt. Er blickte zum Himmel. Warum eigentlich nicht? Er saß auf einem fremden, mit vielfältigem und komplexem Leben überzogenen Planeten. Selten war es ihm wahrscheinlicher oder natürlicher vorgekommen, dass es noch viel mehr solcher Planeten und vermutlich auch hoch entwickelte Zivilisationen geben musste. Er fragte sich, wie lange es her sein mochte, dass dieser gewaltige Kubus hier die Grundlage für einen See geschaffen hatte. Millionen oder Milliarden Jahre? Unwichtig. Er saß doch gemütlich, also war das Alter des Objektes völlig egal. Zumindest, solange er nicht forschen wollte. Eric hielt inne. Relativität. Es kam auf die Situation und den Betrachtungswinkel an, ob das Alter jetzt eine Bedeutung hatte oder nicht. Wobei Bedeutung schon wieder ein Wort oder vielmehr eine Idee war, welche so unglaublich schwierig zu definieren war. Eric nickte abwesend. Ein weiterer Schritt.
Hunger, Durst. Als Eric von Neugier überflutet an der pulvrigen, schwarzen Substanz des Quaders leckte, erstarrte er augenblicklich. Körper und Geist reagierten mit einem Mal so heftig auf den verkohlten Brocken, dass er sich keinen Meter mehr bewegen konnte. Das blaue Feuer in ihm wurde blendend hell, die Hitze schoss ihm durch den Kopf wie ein Orkan und seine Flügel erglühten kurz beißend hell und heiß. Seine Umgebung wich einer anderen, Eric sah einen Sturm schwarzen Staubes, durchsetzt von höllisch heißen und dünnen Feuerwirbeln und Strömen aus Licht, welche sich in einem einzigen Punkt sammelten. Ein kleiner, schwarzer Drache stand auf dem felsigen Boden eines Tals, welches ausschließlich aus diesem dunklen Gestein bestand. Er schien die Felsen zu zersetzen, plötzlich explodierten die unüberschaubar hohen Felswände und verwandelten sich ebenfalls in das, was wie ein schwarzer Sandsturm aussah. Es war, als wollte der Staub ihm entkommen. Doch das kleine Tier ließ nicht nach, wanderte unaufhaltsam vorwärts und zog die schwarzen Massen an wie ein übermächtiger Magnet. Es absorbierte jene finstere Energie darin bis aufs Letzte und hinterließ nichts als toten, tiefschwarzen Schutt und Sand. Eric erkannte eine Art Kern im Inneren des Drachen, bald das Einzige, was blau glimmend in der Dunkelheit zwischen den vereinzelten, merkwürdigen Feuern zu sehen war. Das dunkle Wesen wuchs mit jedem Schritt, die Augen begannen, brennend heiß zu glühen.
Als die Spannung nachließ, fiel Eric beinahe hin. Einer seiner Flügel klatschte auf die Wasseroberfläche und als er ihn erschrocken anhob, rannen dicke Ströme des Wassers wie heiße Wasserfälle herunter. Eric war sich sicher: Das war eine Erinnerung. Keine Einbildung, keine visualisierte Angst oder eine Art Warnung. Es war Vergangenheit, er spürte es, klammerte sich fest an diese Gewissheit und begriff dennoch nicht, was er gerade gesehen hatte. Schlagartig entschied er sich, dies für sich zu behalten, war sich mit dem Drachen absolut einig, dass niemand diese Erinnerung sehen durfte. Denn was auch immer er da gerade gesehen hatte, es zeigte ihn selbst, als er noch jünger war. Als der Drache noch viel kleiner war. Und das müsste eigentlich unmöglich sein, wollte man dem glauben, was er als Mensch bisher erlebt hatte. Eric richtete sich wieder auf, sein Feuer ließ den Stein unter ihm leicht schwelen, das Wasser in unmittelbarer Nähe war kochend heiß. Er trank einen Schluck, dann machte er sich auf den Rückweg, erfasst von einer seltsamen Spannung und Klarheit. Wieder und wieder ließ er die feurigen Eindrücke in sich kreisen, verinnerlichte jedes Detail und jedes Bild, hielt daran fest und versuchte, die Urgewalt an Eindrücken zu entziffern. Erneut spürte er ein betäubendes Kribbeln im Kopf. Die Erinnerung wurde schwächer.