Читать книгу Drachenkind - იაკობ ცურტაველი - Страница 6

Kapitel 3

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Als endlich die ersten Bäume in Sicht waren, packte Jan seinen Fußball aus und rief laut:

»Herhören! Alle Luschen, die Fußball spielen wollen, müssen sich bei mir melden. Es ist unser Platz! Ich denke, dass es nicht jeder mit mir und meiner Crew aufnehmen kann, aber ihr könnt ja einen Versuch wagen. Alle anderen sollen mit der Kräutertante mitgehen und von mir aus giftige Pilze essen …«

Seine Kumpels grinsten dämlich und ein paar andere lachten gekünstelt, es formten sich Teams unter jenen älteren, welche körperlich gute Chancen hatten, den bevorstehenden Krieg zu überstehen. Jack konnte kaum über die Sitzlehne gucken aber Eric war sich sicher, dass Jan den Stinkefinger knapp darüber schweben sah. Eric stieß Jack in die Seite und bedeutete ihm, das zu lassen. Er hatte keine Lust darauf, sich hinterher mit denen auseinandersetzen zu müssen, nur, weil sie Jack sonst kalt machen würden. Doch Jan hatte sich schon wieder abgewandt und entriss gerade einem der kleineren eine Zeitschrift. Jack sah Eric kurz an, dann meinte er:

»Mich du nicht müssen hindern, ihn zu beleidigen. Das ist Einzige, was ich mit ihm anfangen kann!«

Eric lächelte, dann sah er wieder aus dem Fenster.

Der Bus holperte über einen Feldweg und zog eine lange, staubige Wolke hinter sich her. Die Sonne schien direkt auf die große Wiese vor dem Wald, auf der man zwei Fußballtore abgestellt hatte. Sicher würden die anderen gleich mit dem nächsten Bus kommen und dann wäre diese Fläche nicht mehr wundervoll grün, sondern mit lauter kleinen Punkten besprenkelt, wenn sie alle ihre Handtücher und Decken ausgebreitet hätten. Neunzehn grad, sanfter Wind. Absolut perfekt. Eric hing seinem Traum nach. Hitze, Feuer, Licht. Schmerz … Vielleicht würde er wirklich einmal zu Mia gehen, um mit ihr zu reden. Bisher hatte er nie über seine Träume gesprochen. Etwas tief in ihm hielt ihn davon ab. Ihm war klar, wie die meisten darauf reagieren würden und das wollte er sich nach wie vor ersparen. Jetzt erst recht, nachdem Jan die Bedeutung eines äußerst befremdlichen Namens lautstark höhnisch ausgeteilt hatte.

Der Bus hielt, mit einem Zischen glitten die Türen auf und die ersten stürmten mit ihrem Gepäck auf die Wiese, alle wollten einen der besten Liegeplätze am Waldrand ergattern, in sicherer Entfernung zu den Kickern. Eric ging mit Jack neben sich langsam über das kurz gemähte, wilde Gras zu seinem Lieblingsplatz, etwa einhundert Meter weit in den Wald hinein, wo sich eine versteckte Lichtung befand. Hier konnte man nichts hören, bis auf die Vögel und Insekten, den Wind im hohen Gras und das ruhige Rascheln der Blätter. Vielleicht mal ein Eichhörnchen oder eine Maus, aber mit Sicherheit keinen Jan oder Fußballgeheul. Gedankenverloren beobachtete er einen kreisenden Bussard hoch über ihnen.

Sie setzten sich beide auf jeweils einen Baumstumpf, ihre Stammplätze. Jack starrte Eric erwartungsvoll an, schnippte belustigt eine Ameise von seinem Bein.

»Was?«, fragte Eric.

»Das,« meinte Jack, »na eben deine Fähigkeiten. Ich denken, du sollten was zu sagen haben, ich kann es dir ansehen. Du nicht wissen, ob glauben oder nicht. Du sehen scheiße aus. Müde, fertig. Wie damals, als nicht geschlafen. Heute Morgen du haben über eine Minute gebraucht bis realisieren, dass ich gegen Kabinentür getreten habe. Wenn du schläfst, ich manchmal hören, dass du nicht atmen. Das nicht normal.«

Eric sah auf den Boden. Es war nicht das erste Mal, dass er von Jack bei einer seiner Grübeleien entdeckt worden war. Es schien, als würde Jack daran teilhaben, als könne er Erics Gedanken lesen. Und offensichtlich war er nun darüber gestolpert, dass sein Freund überlegte, von den Träumen zu erzählen. Eric sah auf und dachte nach. Er blinzelte, als eine erstaunlich leuchtende Wolke die Sonne wieder freigab und sie ihm ins Gesicht strahlte. Er hatte nie daran gedacht, etwas Besonderes zu sein, hatte es auch nie gewollt. Wenn es um Dinge wie Mädchen oder gutes Aussehen gegangen war, hatte er sich immer Rat bei Jack holen müssen, denn er selbst war ziemlich schüchtern und unbeholfen in solchen Dingen und manchmal sogar abweisend, weil es ihn kaum interessierte. Überhaupt waren viele Menschen für Eric einfach nur anstrengend, laut und oberflächlich. Aber das, was Mia und Jack gesagt hatten, klang nach dem, was er nicht wollte: Besonderheiten, die auch noch derart übernatürlich klangen, dass sie einfach nicht zu glauben waren. Eric fehlte es keinesfalls an Fantasie oder der Freude daran, sich Unglaubliches vorzustellen. Es war auch nicht so, dass er nicht neugierig wäre oder fantastische Fähigkeiten aus Prinzip ablehnen würde, sollte sie ihm jemand anbieten. Das Problem war eher die Gewohnheit, sich ständig rational und analytisch von den Träumen distanzieren zu müssen, um nicht aus dem Blick zu verlieren, wo sie begannen und die Realität aufhörte. Es ging um eine Art Schutz davor, völlig den Verstand zu verlieren und schmerzvoll in den grausamen Welten zu versinken. Eric blinzelte. Vielleicht war es Zeit, einen Versuch zu wagen? Er sah Jack an und spürte das Bedürfnis, seinem Freund und Bruder wie so oft zu vertrauen und etwas preiszugeben, was so nahe an seinem tiefsten Inneren lag, dass er es kaum beschreiben konnte. Jack lächelte.

»Meine Träume sind finster. Schmerzhaft. Es gibt verschiedene, aber fast alle habe ich, seit ich denken kann. Ich bin nie so, wie du mich jetzt siehst. Meistens fliehe ich, immer nur in eine Richtung und ich kann niemals zurückschauen, da gibt es nur Finsternis und Schwärze und Angst. Ich weiß nie, woher ich komme oder wie ich dahin gelangt bin, wo ich aufwache. Oder ob ich ein Ziel habe. Die Träume entwickeln sich seit Jahren stetig weiter, sind bis zu einem neuen Abschnitt immer gleich. Ich kann sie zwar beeinflussen aber nicht kontrollieren. Aufwachen ist unmöglich, ich muss jedes Mal ganz durch und spätestens am Ende kriegen sie mich doch. Dann … sagen wir mal, ich sterbe. Und seit ein paar Wochen wird alles immer schlimmer. Letzte Nacht bin ich in einem der Träume weiter gekommen als jemals zuvor. Da ist etwas …«

Eric hielt inne. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden und die Angst ihn erneut überkam. Doch er wehrte sich. Das war viel schwerer als er erwartet hatte. Er sah Jack unsicher an, aber der lächelte immer noch.

»Weiter«, sagte Jack.

»Ja …«

Eric riss sich zusammen. Was sollte er sagen? Alles? Ausgewähltes? Wo sollte er anfangen? Es war unmöglich zu entscheiden, was von Bedeutung war, da er nicht wusste, was all die Dinge zu bedeuten hatten. Er entschied sich, vorerst nur über den letzten Traum und das zu sprechen, was ihn gerade heute real belastete.

»Ich habe das Gefühl, so langsam die Kontrolle zu verlieren. Den Verstand. Ich schlafe zwar, aber es bringt nichts. Wenn ich wach bin gibt es Momente, in denen ich nicht zwischen Traum und Realität unterscheiden kann, falls beide zu nahe bei einander liegen, durch einfache Sachen wie Töne oder Gerüche oder andere Eindrücke … Früher gab es wenigstens noch Nächte, in denen ich ein paar Stunden normal schlafen konnte, aber das ist definitiv Geschichte. Sie verfolgen mich und gewinnen immer. Jedes Mal! Am Anfang sofort, später habe ich gelernt, wie ich fliehen kann. Vielleicht könnte das immer so weitergehen aber im letzten Traum stoße ich auf eine Grenze und kann nicht weiter. Wenn ich im Traum aufwache, ist mein Kopf sofort leer und ich weiß nicht, dass ich träume. Das wird mir immer erst später klar oder sogar erst, wenn ich wach werde. Ich bin lebendig begraben, von Asche und verbrannten Überresten von was auch immer. Ich kann natürlich so nicht atmen, also wache ich auf, bin fast am Ersticken. Sobald ich den Kopf aus der Asche raus habe und so einigermaßen atmen kann, sehe ich nur eine tote Welt, wo alles gleich aussieht. Eine Wüste aus Asche. Es ist unglaublich heiß, den Himmel kann man gar nicht sehen, weil die Luft voller Staub und Rauch ist, es regnet Asche und … naja. Es gibt kaum Licht, dazu ist der Staub zu dicht. Aber da ist diese völlig surreale Trennung zwischen dem, was vor mir ist, und dem, was hinter mir sein müsste. Ich sehe die Überreste meiner eigenen Fußspuren, sie kommen aus der Dunkelheit. Vor mir ist irgendwo Licht. Ich glaube, ich bin nackt. Meine Kleidung ist wahrscheinlich verbrannt, meine Haut ist verkohlt, weil in der Asche noch Glut ist. Und irgendwann spüre ich, dass diese Monster hinter mir her sind. Die Geräusche von ihnen haben mich aufgeweckt. Früher waren es sehr viele und ein besonders großes. Vielleicht ihr Anführer oder … Ach, keine Ahnung. Jetzt ist es nur noch das große Teil und glaub mir, du willst davor weglaufen. Also laufe ich, in Richtung Licht. Aber nach ein paar Schritten sehe ich, dass es kein heller Horizont ist, sondern eben diese Barriere, hinter der Licht ist. Ich bin gefangen. Zurück geht nicht, will ich ja sowieso nicht. Und vorwärts geht nicht, weil diese unendliche Kristallstruktur im Weg ist. Und dahinter …«

Eric machte wieder eine Pause. Der Gedanke an das, was gleich kommen würde, ließ ihn verstummen. Das alles war ihm sehr unangenehm, fast peinlich, jetzt erst recht. So, es waren nur Träume, die hatte jeder mal. Möglicherweise nicht solche, aber sicher auch verrückte. Jack jedoch saß immer noch da und er hörte wortlos zu. Doch sein Gesicht war nicht mehr ganz so entspannt wie am Anfang. Er zog die Augenbrauen hoch und machte ein fragendes Gesicht, wirkte aufmerksamer denn je und wollte mehr, obwohl ihm klar war, dass Eric zunehmend unruhiger wurde.

»Weiter?«, meinte Jack. Eric zögerte, sah die gefährliche Möglichkeit, in der bloßen Erinnerung zu versinken.

»Da ist noch ein Wesen auf der anderen Seite der Barriere. Ich erkenne, dass alles dahinter brennt, das Feuer ist der Grund für die Hitze und das Licht. Die Barriere ist aber unendlich hoch, glaube ich zumindest zu wissen. Wie die Scheibe vor einem unendlichen Ofen. Ich spüre diese Gewissheit im Traum, ich hinterfrage sie nicht. Jedenfalls schlägt dieses … Biest plötzlich von seiner Seite gegen den Kristall, die Mauer ist zwar sehr dick aber mich haut es glatt von den Füßen. Ich kann nicht klar durchschauen, da die Kristalle das Licht so seltsam brechen und verzerren, aber das Ding hört einfach nicht auf, bis es sich schließlich so weit in das Material hineingearbeitet hat, dass ich an einer Stelle klar durchsehen kann.«

Erics Stimme versagte, seine Augen waren geschlossen. Er wollte aufstehen und davonlaufen, verlor fast gänzlich den Bezug zu seiner Umgebung. Doch er blieb sitzen, krallte sich so hart am Baumstumpf fest, dass der Schmerz seiner Finger ihn zurückholte.

»Es sieht mich an und direkt in mich hinein, irgendwie. Die ganze Zeit hält es den Blickkontakt und ich kann nicht wegschauen, obwohl ich im Kristall die Spiegelung dessen sehe, was mich bis dorthin verfolgt hat. Ich verbrenne von innen heraus, ich … Es gibt einen Grund, ich weiß nur nicht, welchen. Das Monster hinter mir springt mich an und frisst mich auf, es hält mich in seinem Maul fest und beißt zu, ich spüre das alles und kann nichts dagegen machen. Das Ding wiegt Tonnen und allein der Aufprall hat mich schon fast erledigt. Ich bin einfach klein und schwach und … Fuck!«

Eric stand auf, öffnete die Augen und machte einen Schritt zurück, vorbei am Baumstumpf. Das plötzlich blendend helle Sonnenlicht ging direkt in jenes Feuer über, welches gerade durch seine Gedanken tobte. Er tastete unwillkürlich seinen Oberkörper ab, etwas kribbelte in seiner Nase. Sie blutete leicht. Wütend und verzweifelt wischte er sich das Blut aus dem Gesicht, setzte sich wieder hin und ballte die Fäuste, versuchte, sich zu beruhigen. Jack stand auf, doch bevor er irgendetwas sagen konnte, fuhr Eric fort:

»Genau in dem Moment durchbricht das andere Wesen die Barriere und alles ist nur noch Feuer und hell. Und ich bin definitiv abgekratzt. Verbrannt, gefressen, such’ dir was aus. Was noch besser ist als vor ein paar Monaten, weil es etwas schneller geht als stundenlang von diesen Dingern gefoltert zu werden. Sie wollen irgendetwas von mir aber ich verstehe sie nicht. Ich weiß nur, dass ich sie alle vernichten will, dass ich sie langsam und so bitter wie möglich zerfleischen will. Ich will, dass sie leiden, sehne mich nach ihrem Blut und weiß ganz genau, wie es sich anfühlen würde. Ich glaube, ich habe schon einige von ihnen verletzt aber das ist lange her. Ich weiß, wie sie sich bewegen, wie sie funktionieren … Aber ich bin einfach zu klein und noch zu schwach, um mich zu befreien. Ich habe das Gefühl, dass ich genau dafür da bin. Und was hinter dieser scheiß Mauer ist? Ich weiß es nicht. Aber es ist viel, viel schlimmer und stärker. Es sucht nach mir.«

Eric bebte vor Zorn. Eine unfassbare Aggression, Hilflosigkeit, Schmerz und Verzweiflung entluden sich in genau diesem Moment und es gab nichts, woran er das schwere Chaos abreagieren konnte. Er fühlte sich schuldig und irgendwie zerstörerisch bloßgestellt, überwältigt und geschockt, lebensmüde. Er spürte Jacks Anwesenheit und war kurz davor, ihn einfach stehenzulassen. Doch schon in der nächsten Sekunde blockierte er den triebartigen Impuls zur Flucht. Was konnte Jack dafür? Eric schmeckte das eigene Blut, das machte alles nur noch schlimmer. Wie automatisch öffnete er seine Hand und fing die schnellen Tropfen auf. Er hielt die Augen offen und starrte ins Gras zwischen seinen Füßen, beruhigte langsam seine Atmung und sog den saftigen Duft des Waldes in sich auf, um jenen von Asche und seinem brennenden Fleisch zu vertreiben. Er ließ das Gefühl der warmen Sonne auf seinen Handflächen gegen den schwelenden Schmerz verkohlter Haut antreten. Es funktionierte, wenn auch langsam.

Jack wich langsam vor Eric zurück, setzte sich wieder auf seinen Platz und starrte seinen Cousin nur ungläubig an, als ob der ihm gerade die Freundschaft gekündigt hätte. Eric war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Doch er würde mit Sicherheit gleich irgendetwas sagen, um diese unerträgliche Stille zu brechen. Dann, als er sich gerade für seinen Ausbruch entschuldigen wollte, löste sich die Verspannung aus Jacks Gesicht und er flüsterte mehr zu sich selbst als zu Eric:

»Es tut mir so leid … unglaublich.«

Eric blieb still. Das war das Letzte, was er erwartet hatte. Jack, immer offen für alles Unglaubliche, wirkte zweifelnd. Jack hatte ja schon erzählt, dass er den Geschichten seines Vaters nicht geglaubt hatte, aber so hatte Eric ihn noch nicht erlebt. Der kam langsam wieder zur Ruhe, leckte das Blut von seiner linken Hand. Seine Stimme war leise.

»Was denkst du? Glaubst du, ich hab sie nicht mehr alle? Oder wie?«

Jack sah ihn entschuldigend an.

»Nein, das nicht … Ich denken Geschichte meines Vaters und über deine Träume. Du sagen, du haben auch andere? Wenn du wirklich so geträumt, dann will ich gerne etwas wissen.«

»Was denn?«, fragte Eric erleichtert und auch neugierig. Jack stand auf und stellte sich genau vor Eric. Der sah hoch und wunderte sich, seine Frage klang fast wie eine Drohung:

»Was hast du vor?«

Jack holte einmal tief Luft, dann sagte er:

»Ich herausfinden, ob du wirklich ein Drache, wie ich dir Name gegeben habe.«

»Was?!«

Wie ein Stromschlag zog das Wort Drache durch Erics ganzen Körper, so, als ob es ihn direkt betreffen würde und nicht einfach nur sprachlos machte. Jack sah ihn an und sagte unruhig:

»Es sich krank anhören, aber wenn du einer sein, dann bitte nicht so groß! Du müssen nur glauben, dann es funktionieren. Und ich dir helfen.«

Eric sah seinen Freund mit leerem Blick an, wie etwas, das sich gerade unbegreiflich verändert hatte. Er fragte sich, ob Jack wirklich so ignorant war und ein Spiel spielen würde. Eigentlich unmöglich, das wäre nicht Jack. Er prüfte seine Gefühle, warf einen kurzen Blick über die Schulter. Gut, das war also kein Traum. Demnach hatte zumindest einer von ihnen definitiv den Verstand verloren. Doch Jack meinte es ernst. Was aber irgendwie auch nicht dagegen sprach, dass er einer seltsamen Fantasie verfallen sein mochte. Eric hing irgendwo zwischen Resignation, erschlagender Müdigkeit und der eigenen, plötzlich sehr angeregten Neugier. Sein analytisches Denken setzte unvermittelt ein. Er vermutete nichts, was sich nicht erklären ließe. Bestimmt würde ihn Jack hypnotisieren oder so, das hatte er schon einmal getan, um seinem Zimmerkameraden zu zeigen, wie es sich anfühlte. Überrascht stellte Eric fest, dass er sich plötzlich dazu entschloss, nahezu gleichgültig hinzunehmen, was Jack da gerade entwickelte. Er konnte ja auch hinterher fragen, ob Jack noch alle Tassen im Schrank hatte. Ein kurzer Gedanke daran, dass er sich so vielleicht heftiger als vorher den Träumen annähern müsste, erstickte sofort in seiner Müdigkeit. Es war egal. In der nächsten Nacht ginge es ohnehin weiter.

Eric nahm schon mal eine bequeme Haltung ein und wartete auf den ersten von Jacks Schritten. Der wirkte besorgt, aber auch bestimmt.

»Ich sein vollkommen gesund aber du nicht. Du nicht glauben, aber ich will wissen, wer du sein! Ich sehe Geschichte von mein Vater und jetzt ich haben die Gelegenheit, herausfinden, ob sie wahr. Bitte, ich vertrauen dir, warum nicht andersrum?«

Eric dachte nach. Er fühlte sich unbehaglich. Bei der Vorstellung, er könnte sich tatsächlich in etwas verwandeln, was so nicht einmal existierte, wurde ihm schlecht. Er bekam Angst. Wieder analytisches Denken. Was wäre denn, falls sein Freund recht hätte? Kein Mensch wusste, was alles möglich war. Infolgedessen konnte auch niemand mit Bestimmtheit sagen, dass etwas unmöglich war. Es gab nur Wahrscheinlichkeiten. Wie wahrscheinlich war es, dass Jacks Idee nicht völlig wahnsinnig war? Jack unterbrach seine Gedanken.

»Pass auf: Erlaube dies und ich dich nie wieder, ich schwöre bei dein Leben, nie wieder nennen dich Xiaolong. Ich nicht verstehen, warum du Namen nicht mögen, aber ich versprechen. Wenn du nicht offen dabei, ich dich so nennen, weil ich glauben, dass es richtig. Und ich jedem sagen, sie sollen auch. Gut? Hab keine Angst, bitte!«

Eric sah ihn noch verwunderter an. Was war das für ein merkwürdiges Druckmittel?

»Einverstanden«, sagte er und reichte Jack die Hand. Der schüttelte sie und lächelte wieder. Dann machte er einen Schritt zurück.

»Ich werden dir sagen, was du zu tun, dann du machen den Rest allein. Du schon sehen. Augen zu und du wissen, du musst konzentrieren, wie letztes Mal. Also los!«

Eric schloss die Augen. Es wurde total dunkel, obwohl die Sonne ihm immer noch ins Gesicht schien. Sofort erkannte er, dass er sich dennoch ein Bild von seiner Umgebung machen konnte. Das war ihm so nie aufgefallen, weil er sonst nicht einfach die Augen schloss, um den Träumen aus dem Weg zu gehen. Er konnte Jack wahrnehmen, als würde er ihn ansehen und spürte sofort, dass Jack sich entfernte und auf einen dicken, umgestürzten Baumstamm setzte, der etwa zwanzig Meter entfernt auf dem duftenden Waldboden lag. Erschrocken öffnete Eric die Augen. Woher hatte er gewusst, dass da ein Baumstamm war? Jacks Beine waren kaum noch im hohen Gras zu sehen und es sah aus, als hätte er sich hingehockt. Jack lachte.

»Na, schon was gemerkt, kleiner Drache?«

Eric wollte gerade protestieren, als ihm ihre Abmachung einfiel. Er schloss die Augen wieder. Und abermals regte sich bei den Worten so ein merkwürdiges Gefühl, als ob etwas in seinem Inneren ihn ansprechen würde. Er wurde neugierig und entschied sich, Jack den Gefallen zu tun und sich so sehr er konnte auf dessen Worte zu konzentrieren.

»Stell dir vor, wie du auf einer Wiese stehen.«

Sofort konnte sich Eric auf einer grünen Wiese sehen. Er sah nur Gras, so weit das Auge reichte. Jacks Stimme drang wieder zu ihm durch und er fühlte sich bereits so entspannt, dass er sich Sorgen machte, vom Baumstumpf zu fallen oder in einer toten Welt aus Asche und Staub aufzuwachen.

»Hören jetzt genau zu. Ich werden dich leiten bis an den Punkt, an dem du entdecken. Konzentrieren nur auf meine Worte und alles dauern nicht lange. Sehen die Wiese? Stellen dir vor, wie der Mond scheinen. Es ist Nacht. Vor dir Eingang zu Wald, wo wir jetzt auch sein. Gehe durch Wald. Stellen dir mit jedem Schritt vor, wie dich bewusst wird, was um dich herum. Du merken alles. Jedes Geräusch, jeden Geruch. Gehe den Weg weiter, bis zum Fluss. Dem du folgen in Wasserrichtung. Immer in eine Richtung. Du gehen, solange du brauchen. Dann du kommen an einen See, sehr groß, mitten in Wald. Mond in Wasser spiegelt und du dich setzen ans Ufer und beobachten Wasser, das ganz klar ist, wie Spiegel. Solange du wollen. Dann aufstehen und auf Baum neben dir klettern. Du dich setzen auf dicken Ast. Ruhe. Glauben an alles, an was du können denken. Konzentrieren auf dich selbst, auf dein Inneres. Beginnen Suche nach Seele, nach Geist. Frei, Instinkt. Wer bist du?«

Warm und kühl, windstill und feucht, so wunderschöne Sommernächte gab es selten. Eric war einer Stimme durch den Wald gefolgt, nun saß er auf einem sehr dicken Ast in der Baumkrone und eine innere Leere breitete sich aus. Er fragte sich kurz, ob es an dem starken, Öligen Geruch der Baumrinde lag. Seine Sinne waren so geschärft, dass er einen Fisch auf der anderen Seite des Sees vor sich sehen konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben war ihm wirklich alles bewusst, er verstand. Er tauchte ein in ein Gefühl aus Farben und er sah die Entspannung. Alles wurde verändert und verkehrt oder verknüpft. So konnte er erkennen, zu welchen Leistungen seine Sinne wirklich fähig waren. Eric erlaubte die Idee, dass er vielleicht etwas sein konnte, von dem er nichts wusste. Er spürte, dass er genau das eigentlich längst als Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Etwas in seinem Inneren gab ihm Kraft und trieb ihn vehement voran, auf der Suche nach etwas anderem. Eine unsichtbare Gewalt, welche ihn trotz aller Erschöpfung und Sorge am Leben hielt. Er akzeptierte die Möglichkeit der Veränderung, der Idee einer inneren Verwandlung. Es war genau das, was durch die letzten Wochen erneut mit ihm geschah, wenn auch nicht im positiven Sinne. Kein Zweifel hing mehr an ihm fest, er dachte nicht mehr an Jan, nicht an dessen Freunde und nicht mehr an Jack. Jeder Sinn war auf ein Signal aus seinem Inneren gelenkt, als würde er auf etwas warten. Zeit verstrich unbeobachtet und wertlos.

Schließlich fühlte Eric etwas. Es war wie ein leichter Druck, der irgendwo in seinem Körper auftauchte, er konnte nicht ausmachen, wo. Eine merkwürdige Hitze. Sie war nicht schmerzhaft oder schädlich, wurde aber so schnell stärker, dass Erics Ruhe jäh in Bewegung geriet. Er spürte eine Art Erinnerung, kurz und heftig sah er nur Feuer und Glut, fühlte sich sofort extrem an die im Augenblick eigentlich so fernen Träume erinnert. Erschrocken öffnete er die Augen. Wenn er nicht wie gelähmt gewesen wäre, wäre er ins Wasser gefallen. Von dort unten, drei Meter unter seinen Füßen, sah ihn etwas an, das er so noch nie gesehen hatte. Es war unter der Wasseroberfläche, wie hinter einer kristallinen Barriere. Die Umrisse eines riesigen und fast schwarzen, tiefblau geschuppten Kopfes, fast so groß, wie Eric selbst, und große, mandelförmige Augen. Eric blinzelte und wusste nicht, ob er glauben konnte, was er da sah, aber er tat es. Er akzeptierte das Wesen, was da wie ein schattiges Phänomen mit glühendem Blick unter ihm war und ihn ebenso anschaute, wie das Wesen hinter der Kristallmauer. Eric sah direkt in die Augen des Geschöpfes, die ihn vollkommen in ihren Bann zogen, ihn fesselten und beherrschten. Sie hatten eine leuchtend goldgrüne Farbe und trotzdem glaubte Eric, darin die Hitze und das rote Feuer eines ganzen Waldbrandes zu sehen. Er konnte die Hitze spüren, bemerkte, wie er sich völlig vergaß und die altbekannte Angst ihn langsam umschloss. Die Augen des Wesens bohrten sich so tief in sein Inneres, dass er sich schon wunderte, überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen zu können. Das Wasser bewegte sich minimal, dann kam der Schock: Das Biest sprang mit einer Urgewalt nach oben und schnappte zu, riss Eric mitsamt dem dicken Ast aus der Baumkrone und zog ihn unter Wasser. Die Beschleunigung ließ Eric fast ohnmächtig werden, er konnte weder schreien noch sich bewegen, blitzschnell war alles vorüber und es formte sich eine neue Realität, ehe er auch nur annähernd etwas denken konnte.

Er sah eine Landschaft, bläulich schimmernd und an manchen Stellen die rote Sonne reflektierend, es wurde Abend. Eisplatten, größer als Fußballfelder. Das hellblaue Muster im Eis war so bildschön, dass Eric sich wünschte, er könnte es malen. Der Himmel war klar und weiß-rote Wolken zogen mit rasender Geschwindigkeit über ihn hinweg. Die eisige Kälte erfasste Eric so brutal, dass er fast augenblicklich erstarrte. Er spürte eine Erinnerung. Dies war der Beginn von einem der ältesten Träume, der bereits lange verstummt war. Er würde erfrieren, einsam und verloren. Doch etwas war anders.

Am Horizont sah er etwas am Himmel, es bewegte sich sehr schnell, wurde immer größer. Erst sah es wie ein großer Vogel aus, aber schon bald erkannte Eric die schwarzblaue, trotzdem leuchtende Farbe und die mandelförmigen, unbeschreiblichen Augen. Der eiskalte Sturm, welcher die Wolken wie Schafe vor sich her hetzte, verschwand augenblicklich. Kein Ton, als hätte man nach einer Woche lauter Musik plötzlich den Strom abgestellt. Die Stille war so erdrückend, als würde er vergessen, wie sich Hören überhaupt anfühlte. Das Tier schwebte einen Moment lang weit über ihm im Kreis, schien sich umzusehen. Dann faltete es die Flügel zusammen und fiel wie ein Fels aus der Luft. Im letzten Moment, kaum zehn Meter über dem Boden, klappten die riesigen Flügel blitzschnell wieder auf und eine erbarmungslose Druckwelle fegte Milliarden von Eiskristallen über den weißblauen Boden, schlug Eric stechend kalt um die Ohren und wehte ihn um.

Der Drache war riesig. Bis zum Kopf mindestens elf Meter hoch und von der Schnauze bis zur Schwanzspitze mussten es mehr als siebzehn Meter sein. Die Maße wehten einfach wie eine Gewissheit durch Erics Geist, er hatte nur Augen für die Schönheit des Drachen, der ihn mit seinem lähmenden Blick misstrauisch anstarrte und jede Bewegung von Eric scharf verfolgte, der sich mit tauben Gliedmaßen und zunehmend bläulichen Lippen wieder aufrappelte. Seine Schuppen glänzten leicht, fingen das magische Blau des Eises und die Farben der Wolken ein und als Eric die Muskeln und Krallen des Tieres sah, machte er instinktiv ein paar Schritte zurück, was der Drache seinerseits ohne Verzögerung mit einem Schritt auf Eric zu beantwortete. Weiter konnte Eric nicht, er war wieder von den Augen eingefangen. Doch der Drache blieb nicht stehen. Eric konnte die Augen nicht deuten, war sich nicht sicher, ob er Tod und reine Bösartigkeit oder nur Vorsicht und Offenheit in ihnen sah. Das gewaltige Wesen wirkte eher so, als wäre Ersteres der Fall, martialisch und brutal. Doch etwas in Eric machte ihm klar, dass es sinnlos war, die Situation menschlich zu bemessen. Er hatte keinen Menschen vor sich. Die Hitze, die der Drache ausstrahlte, war angenehm aber sehr stark und das Eis unter ihm fing an zu schmelzen. Der Drache knurrte leise, senkte leicht den Kopf und kam immer näher. Eric spürte das grollende Geräusch im Bauch, beobachtete, wie der mächtige Ton die Oberfläche des Schmelzwassers kräuselte. Er spürte eine Stimme in seinem Kopf:

»Ich kenne dich. Bleib stehen.«

Er schnüffelte an Eric, der ihm erschrocken ausweichen wollte aber nicht konnte. Der Drache wirkte, als würde er Erics Angst sofort erkennen. Seine Augen verengten sich, blitzschnell und brutal schlug eine seiner Klauen keinen Meter neben Eric ins Eis und die langen, scharfen Krallen gruben sich langsam, unaufhaltsam und unter splitterndem Knacken in das steinharte Eis. Eric erschrak heftig, spürte den Aufprall in den Knien und einige der kleinsten Splitter trafen ihn am Kopf, in welchem sich erneut Worte formten:

»Bleib stehen.«

Der Drache öffnete sein Maul einen Spalt weit, näherte sich bis auf kaum eine Armlänge. Eric erkannte Zähne, in mehreren Reihen und Größen, wie er sie noch nie gesehen hatte und eine Art Greifzunge mit langen, schlangengleichen Gliedern, vermutlich genauso gefährlich wie die unglaublich spitzen Zähne selbst. Der Drache atmete die eisige, sauerstoffreiche Luft ein, was seinen Schlund kurz feurig aufglühen ließ. Wie ein kurzer Windstoß von hinten zog die Luft schnell und heftig an Eric vorbei und er taumelte vorwärts, wäre fast in sein Verderben gestolpert. Ein merkwürdiger Geschmack entstand in seinem Mund und kribbelte in der Nase, kreiste hinter seiner Stirn und wehte durch seinen Kopf, er öffnete das Maul noch weiter, atmete eine unglaublich heiße Luft wieder aus und Eric spürte genau dieselbe Panik wie in seinem Traum, bevor das Monster ihn erreichte und auffraß.

»Die andere Seite. Endlich. Wach auf, das hier ist real. Zeige keine Angst. Vertraue niemals blind, sonst vertraue ich dir nicht. Das wäre sehr schlecht für dich.«

Eric glaubte, sich verhört zu haben. Selbst, falls er überhaupt verständliche Worte erwartet hätte, dann hätte er irgendetwas Gebieterisches oder Stolzes und vor allem vornehme Sprache erwartet. Aber dieser Drache kam nicht aus irgendeinem Märchenbuch und vermutlich waren ihm Sprache, Goldschätze und Prinzessinnen ebenfalls völlig egal. Es gab nichts in Erics Leben, was diesen Moment hätte beschreiben oder vorbereiten können. Er zitterte am ganzen Leib, es beunruhigte ihn, dass die erste Mitteilung dieses Riesen nach dessen direkter und derber Warnung, einer offenen Drohung sehr nahe kam. Und nun, wo er das Maul des Tieres keinen halben Meter vor sich hatte, überlegte er schon, wie bequem er darin Platz hätte. Seine Zunge bewegte sich langsam, tief im Inneren der Nüstern erkannte er höllische Glut und ein heißer Lufthauch wehte ihm erneut ins Gesicht, erinnerte ihn fast zynisch daran, dass er bald erfrieren würde. Eigentlich. Gerade jetzt war das unmöglich, bei der Hitze, welche er vor sich hatte. Erst jetzt wurde Eric bewusst, wie unglaublich dunkel der Drache war. Die Schuppen machten irgendwas mit dem Licht, es war beinahe unmöglich, ihre wahre Farbe und Beschaffenheit zu bestimmen. Seine Klauen zuckten kurz, er zog sie aus dem Eis und neben Eric blieb ein beachtliches und dampfendes Loch im Boden zurück, welches sich sofort mit Schmelzwasser füllte.

Eric kämpfte gegen den Drang an, wegzulaufen. Würde sowieso nicht funktionieren. Er vertraute einfach auf die Freundlichkeit des Drachen und hoffte, dass der sein Misstrauen verlieren würde. In einer Geste, welche ihn instinktiv überkam, kniete er sich mühevoll hin und verneigte sich. Unterwerfung. Einen Moment lang, es kam ihm wie ein Leben vor, geschah gar nichts. Der Drache las immer noch seine Gedanken und Gefühle und Eric spürte seine Unentschlossenheit, erkannte gelähmt aus den Augenwinkeln, wie ein kurzer Ruck durch die gigantischen Schwingen ging und die Hitze immer stärker wurde. Doch dann, Eric hatte schon geglaubt, er würde abermals sterben, faltete er seine Flügel ganz zusammen und machte einen Schritt zurück.

Eric bewunderte die Geschmeidigkeit, die er trotz seiner Größe und des vermutlich hohen Gewichts besaß und traute sich kaum, den Kopf zu heben. Aber er überwand sich wieder. Er musste sich dieses Wesen unbedingt von allen Seiten ansehen. Der Drache folgte ihm mit dem Blick, als er ihn umrundete und legte sich schließlich hin. Der lange, starke Schwanz kroch wie eine riesige Schlange über das Eis auf Eric zu und bäumte sich ein Stück vor ihm auf, ermahnte ihn, nicht zu weit zu laufen. Er erkannte eine Art Spitze am Ende, welche glänzende, offensichtlich messerscharfe Kanten hatte und scheinbar eine Art Stachel verbarg.

»Bleib dicht bei mir. Es ist nicht viel Zeit.«

Eric hielt Abstand, als er die Zacken auf dem Schwanz erkannte. Sie waren so lang wie seine Hände, ihre Kanten sahen ebenfalls unglaublich scharf aus. Plötzlich stand der Drache auf und spannte die Flügel zu voller Größe aus, tat einen sanften Schlag und fächerte. Er streckte sich ausgiebig, als hätte er lange geschlafen. Erics Herz sprang ihm fast aus der Brust, er hatte die plötzliche Bewegung nicht erwartet und musste sich zusammenreißen, um normal weiter zu atmen. Offensichtlich war es dem Drachen völlig egal, von allen Seiten bestaunt zu werden. Er überwachte jeden Millimeter und jede Bewegung, beobachtete die Umgebung gezielt und hielt seine Nüstern in den Wind, als wäre etwas in der Nähe. Sein starker Hals war so beweglich, dass er Eric mühelos selbst dann hätte erwischen können, wenn der sich auf die Schwanzspitze gestellt hätte.

Eric stand wie in kleines Lebkuchenmännchen neben den riesigen Hinterbeinen des Drachen, hatte noch nie etwas derartig Kraftvolles gesehen und schauderte, als der Drache die unglaublichen Krallen erneut gegen jeden Widerstand ins Eis bohrte. Er schien die Kälte gern zu spüren. Im Zoo hatte Eric einmal neben einem ausgewachsenen Elefantenbullen gestanden und dessen Beine und Füße hatten ihm schon Angst gemacht. Wieder fühlte er sich klein und unbedeutend, was die lauernde Angst in den Untiefen seines Geistes noch weiter schürte. Seine riesigen, hautbespannten Flügel warfen einen noch blaueren Schatten durch die leicht transparenten Schuppen, von welchen sie dicht und fein bedeckt waren. Die Flügel erinnerten Eric entfernt an jene einer Fledermaus, nur so viel größer, dass der Vergleich lächerlich erschien. Er lief unter den gewaltigen Bauchmuskeln durch und flitzte auf die andere Seite. Es war wie ein Wunder. Der Drache blieb ruhig, ließ sich betrachten. Er schluckte, ihm wurde heiß. Dann fragte er vorsichtig:

»Darf … darf ich dich berühren?«

Das riesige Wesen sah ihn an und senkte den Kopf, der Ansatz eines Nickens. Eric streckte die Hand aus und berührte zögerlich die Stelle an den Vorderbeinen des Drachen, wo bei ihm ein Handgelenk gewesen wäre. Sofort spürte er ein Prickeln auf der Haut an seinem linken Handgelenk. Ein Schwall von Empfindungen überkam ihn. Temperatur, Oberflächenstruktur, eine Art Energie oder ein Gefühl von Lebendigkeit und Zeit. Er spürte sich selbst, durch sich selbst. Die Schuppen waren so unfassbar hart, dass Eric nicht verstehen konnte, wieso er nicht wie eine Ritterrüstung quietschte, wenn er sich bewegte. Und sie waren nicht so heiß, wie Eric erwartet hatte, eher angenehm kühl und doch strahlte das Tier mittlerweile eine derartige Hitze ab, dass Eric aus weiterer Entfernung wohl nur einen flimmernden großen Haufen erkannt hätte und bereits knöcheltief in einer warm dampfenden Pfütze stand. Er stellte sich wieder vor den Drachen, sah den Kopf weit oben auf sich hinuntersehen und versuchte zu begreifen, wie das sein konnte. Ihm war irgendwie klar, dass er sich selbst sah, als er fröstelnd die rechte Faust ballte und der Drache knurrend die Krallen seiner Rechten aus dem Eis zog und die Bewegung nachahmte. Aber wie? Mühevoll formulierte er eine Frage, völlig berauscht von der Situation.

»Wer bist du?«

Der Drache knurrte erneut, diesmal eher nachdenklich als drohend. Er begann, Eric mit langsamen, lautlosen Schritten zu umrunden, als ob er seine wehrlose, vor Angst erstarrte Beute studierte. Eric spürte eine fast hungrige Lust, als er den Drachen wie eine Schlange hinter sich fauchen hörte.

»Ich habe so lange auf diese Chance gewartet, so oft versucht, dich zu erwischen. Fast hätte ich es geschafft. Du bist es wirklich. Die andere Seite.«

In seiner Stimme lag eine Art Wut oder Gier, vielleicht auch Trauer, Eric war völlig unsicher und überfordert. Er wollte sich umdrehen, doch der Drache ließ ihn nicht, wirkte allein mit seiner Präsenz und seinem Blick so schwer auf ihn ein, dass Eric einfach stehenblieb und nur durch die Hitze spürte, dass das Wesen sich ihm von hinten näherte. Er wurde unruhig, erlaubte Eric mehr Bewegungsfreiheit, wirkte unentschlossen und plötzlich tatsächlich wütend.

»Ihr Gift hat es verhindert. Jedes Mal.«

Eric drehte sich langsam um und beobachtete, wie sich ein langer, spitzer Stachel aus der Schwanzspitze schob. Der Stachel war über einen halben Meter lang und kam glühend näher. Eric warf ihm einen irritierten Blick zu, wusste nicht, was er erwarten sollte. Wie ein eigenständiges Wesen glitt der Schwanz um ihn herum, drängte ihn immer näher an den Drachen heran, bis er schließlich direkt zwischen seinen Fängen stand.

»Komm näher. Wer bin ich? Ich bin du. Wer bist du?«

Der Stachel gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, als der Drache ihn direkt an Erics Hinterkopf führte.

»Du weißt es nicht. Ich weiß es nicht. Sieh dich an! Bist du ein Mensch?«

Eric wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Was war das für eine Frage? Erst in dem Moment wurde ihm klar, was die jeweils mögliche Antwort bedeutete, unter der Voraussetzung, dass der Drache ihm die Wahrheit zeigte. Ein Ja hieße, all dies wäre nicht real, da er nicht der Drache sein konnte, der ihn gerade an der Grenze zum Vertrauen bedrohte. Es wäre nur ein weiterer Traum, wenn auch realer als alles Bisherige. Ein Nein musste bedeuten, er wäre jene Kreatur, also kein Mensch. Was bedeuten musste, dass alles, was hinter ihm lag, entweder verkehrt oder nicht real war. Aber wie konnte dies nicht real sein? Noch während Eric das Nein im Hals stecken blieb, regte sich der Drache:

»So ist es. Nein. Deshalb all der Schmerz, die Angst. Weil du nicht weißt, wer du bist. Weil ich nicht weiß, wer ich bin. Das unbändige Verlangen nach Freiheit und Erinnerung. Nach Vergangenheit, Zeit. Nach der Aufgabe. Eingesperrt in einer Illusion. In einer Hülle aus Lügen und Dunkelheit. Woher kommen die Schritte in der Asche? Wo sollten sie enden? Wie kommt die Trennung zwischen dir und mir zustande? Warum sind wir nicht eins? Ich kenne die Antworten, ich spüre die Wahrheit und sehe die verborgenen Erinnerungen. Aber ich komme nicht ran. Etwas hält dich davon ab … Du bist nicht frei. Ich bin nicht frei. Du bist ich. Ihr Gift … du siehst nicht klar. Ich sehe nicht …«

Der Drache zog den Stachel zurück, wirkte irritiert über sein eigenes Handeln. Offenbar wollte er Eric weder verletzen noch wirklich bedrohen, doch sein Inneres war durchzogen von einer Art Schmerz oder Unwohlsein, es ließ ihn nicht klar denken. Sein Kopf hing direkt über Eric, als wollte er ihn gleich vom Eis schnappen. Eric spürte die verwirrte Erregung des Drachen. Sie war wie ein sich selbst verstärkendes Echo, welches zwischen ihm und dem Drachen, sich selbst, hin und her schoss und beide enorm zu stören begann. Etwas näherte sich. Er spürte eine unermessliche, völlig unbegreifliche Macht in sich selbst, der Drache schnaubte heiß und sah sich kurz um.

»Keine Zeit mehr. Siehst du, da kommt sie. Die Dunkelheit. Wehre dich gegen ihr Gift. Zeige keine Angst, du bist die Angst. Die Finsternis hat Angst vor dir. Sie blockiert dich, verbirgt deine wahre Zeit. Verzehre sie, ernähre dich von ihr. Ich wünschte, ich würde mich erinnern. Du wünschst dir, dich zu erinnern. Du bist ich. Warum sind wir getrennt? Ich werde einen Weg finden. Und dann werde ich sie alle töten.«

Ohne Vorwarnung warf der Drache den Kopf zurück und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus, Eric sah in der Ferne den Vorsprung eines Eisberges abbrechen und krachend auf eine der Schollen fallen. Aus allen Richtungen näherte sich eine Art Dunkelheit, schwarz und genauso finster wie das, was in jedem Traum hinter ihm lag. Wie wallende Unwetterfronten, nur so unbeschreiblich dunkel, dass die Umgebung langsam zu verschwimmen drohte. Der Boden bebte, überall sprangen Risse auf und zerlegten ihre Umwelt in bizarre Splitter. Er drehte sich um, der Drache schien genau zu wissen, was gerade passierte.

»Erinnere dich an dein Feuer. Vertraue niemandem. Vergiss nichts. Sieh genau hin. Vertraue niemandem!«

Eric wollte gerade etwas sagen, als seine Nüstern und der Schlund wie ein Hochofen zu glühen begannen. In seinen Augen stand eine Art Vorfreude, sie waren Feuer.

»Sorry. Aber das vergisst du nicht.«

Blitzschnell krallte er sich mit allen vieren ins Eis, beugte sich zu ihm hinunter, öffnete sein Maul und eine Druckwelle gefolgt von lärmenden Feuermassen schloss ihn ein. Eric schrie, so laut er konnte, wodurch das blendend helle Feuer sofort durch seinen offenen Mund in den Kopf schoss. Er spürte das vibrierende Brüllen in seiner Brust und traute sich nicht, aufzuhören, befürchtete, er könne dem Schmerz dann nicht mehr standhalten. Die Flammen zerrissen ihn binnen Sekunden, der Drache selbst verwandelte sich in reines Feuer und ätzte sich durch jede Faser von Erics Körper, so gewaltig, dass Eric augenblicklich den Boden unter den Füßen verlor und meterweit über das Eis geschleudert wurde, während der Drache ihn auseinanderriss. Mit einem heftigen Aufprall krachte er durch eine dünne Stelle des geschmolzenen Eises ins Wasser, merkte, wie er die Hitze in sich aufnahm, als ob er plötzlich ein paar Ventile in seiner Haut geöffnet hätte. Sie strömte durch seinen Körper, erwärmte ihn von innen, ballte sich dann zu einer Art Kern zusammen, bläulich schimmernd, hell wie Drachenfeuer und so heiß, dass alles um ihn herum explosionsartig zerfetzt und verdampft wurde. Die Explosion trieb das Wasser in einer riesigen Blase auseinander, riss einen unüberschaubaren Krater hinein und vernichtete das Eis. Durch das eigene Feuer erkannte er die Dunkelheit, wie sie sich über ihm schloss, sah die Konsequenzen der Explosion und die kochende Wasseroberfläche sich entfernen, blendend hell durch das tobende Drachenfeuer erleuchtet, welches plötzlich verschwand. Alles wurde finster.

Drachenkind

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