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1. Psychotherapieforschung
1.2 Effektforschung und evidenzbasierte Psychotherapie
ОглавлениеIn der Psychotherapieforschung haben sich in den letzten 30 Jahren zwei unterschiedliche Ansätze entwickelt, die von Strauss & Wittmann (2005) als «zwei Welten» beschrieben werden: die Effektforschung und die Prozessforschung. Diese zwei Forschungsparadigmen führen zu sehr unterschiedlichen Sichtweisen auf die Psychotherapie und zu unterschiedlichen Evidenzen. Paradigmenspezifisch resultieren erhebliche Unterschiede in der Einschätzung dessen, ob der Erfolg einer Psychotherapie durch (störungs-)spezifische Techniken erreicht wird oder überwiegend durch störungsunspezifische Faktoren, was manchmal analog der Pharmaforschung als «Placeboeffekt» bezeichnet wird.
Dass Psychotherapie wirkt, ist inzwischen nicht mehr umstritten. An über 80 000 Patienten konnte nachgewiesen werden, dass jede finanzielle Ausgabe für Psychotherapie hinsichtlich der Ausgaben für Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Arztbesuche und der Folgekosten bei Arbeitsunfähigkeit zwei- bis sechsmal wieder eingespart wird (Grawe & Baltensperger 2001; Margraf 2009). Der durchschnittliche Nettonutzen liegt nach Wittmann et al. (2011) unter Verwendung konservativer Schätzverfahren bei 1 zu 2,5, also wird jeder Euro mindestens zweieinhalbmal wieder eingespart! Psychotherapie ist inzwischen ein hervorragend evaluiertes Interventionsfeld! Umstritten ist lediglich, wie sie wirkt (Wirkungsweise), als Hauptgegenstand der Prozessforschung. Nichts illustriert den Nutzen und die Aussagen der Effektforschung mehr als eine vergleichende Übersicht unterschiedlicher Behandlungsverfahren. Es dürfte das Selbstbewusstsein von Psychotherapeuten stärken, wenn sie sehen, dass Psychotherapie im Durchschnitt höhere Effektstärken erzielt als die meisten medizinischen Maßnahmen (Effektivität). Nach Cohen (1992) gilt eine Effektstärke von 0,2 als «klein», von 0,5 als «mittel» und von 0,8 als «groß». Da die Kosten von Psychotherapie vergleichsweise gering sind, liegt hier der break even (also der Grad der Effektivität, an dem Kosten und Nutzen sich neutralisieren) bei 0,1! Im Vergleich dazu zeigt sich in der folgenden Tabelle 1, dass Psychotherapie ein hochgradig wirksames Behandlungsfeld ist und die Arbeit an weiteren Verbesserungen auf einem sehr hohen Niveau stattfinden.
Schaut man sich die Werte zur Verhaltenstherapie an, dann kann man in der Tat Fortschritte erkennen von der ersten bis zur dritten Welle: Während sich die mittleren Effektstärken der kognitiven Verhaltenstherapie zur klassischen Verhaltenstherapie nur geringfügig unterscheiden, gibt es einen deutlichen Sprung von der kognitiven Verhaltenstherapie zur Schematherapie, allerdings nicht zur Acceptance and Commitment Therapy (ACT). Insofern müssen die Therapien der dritten Welle differenziert betrachtet werden. Der erhebliche Wirksamkeitszuwachs der Schematherapie und ihre große positive Resonanz bei Praktikern sind einen differenzierten Blick darauf wert, was diese Art der therapeutischen Arbeit von der (inzwischen) konventionellen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Arbeit unterscheidet (Kap. 5.3 zur dritten Welle). Bemerkenswert ist im Hinblick auf die Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung, dass die kognitive Variante mit intensiver imaginativer Nachverarbeitung deutlich wirksamer ist als klassische Expositionsverfahren oder klassische kognitive Verhaltenstherapie (Ehlers 1999 S.74).
Tabelle 1: Effektstärken medizinischer und psychotherapeutischer Behandlungen
Anm.: Die Vergleichbarkeit der Zahlen ist eingeschränkt bezüglich unterschiedlicher Designs, Berechnungsarten, unterschiedlich sensitiver Messinstrumente und unterschiedlicher Interessen seitens der Forschergruppen (z. B. höhere ES bei neuen Verfahren). Cuijpers et al. 2010 konnten sowohl einen Publikationsbias belegen (d. h. gewichtet man die große Anzahl der Effektivitätsstudien der KVT in den Metaanalysen, kommt man zum Beispiel für die KVT bei Depressionen von durchschnittlich g = 0,67 auf g = 0,42). Ebenso ließen sich starke Allegiance-Effekte nachweisen (Ausmaß der Identifikation des Forschers mit dem Behandlungsansatz). Man kann sich allerdings nur schwer eine Behandlung vorstellen, in der die Therapeuten nicht mit dem Behandlungsansatz identifiziert sind.
Schaut man sich die Werte zur psychoanalytischen Therapie an, dann scheint es insbesondere von der klassischen übertragungsorientierten Therapievariante zur mentalisierungsbasierten Therapie in der Gruppe deutliche Fortschritte zu geben, was Grund genug sein kann, sich mit dem Konzept der Mentalisierung auseinanderzusetzen (Kap. 6.2). Schultz-Venrath (2013 S.41 f) weist bezüglich der psychoanalytischen Verfahren darauf hin, dass zum Ersten die therapeutische Erfahrung einen erheblichen Unterschied in der Wirkung ausmache (zum Beispiel erreichen unerfahrene Gruppentherapeuten einen Wirkungsgrad von 0,59, erfahrene hingegen einen von bis zu 3,1), und zum Zweiten gelte das Äquivalenzparadox der Gleichwirksamkeit aller Behandlungsverfahren nicht für den Unterschied zwischen Kurzzeit- und Langzeittherapie.
Dies stimmt auch mit den Ergebnissen des Konsumreports – einer groß angelegten naturalistischen Studie – von Seligman (1995) überein: Die Ergebnisse zeigten, dass Psychotherapie in der Regel sehr hilfreich war und Behandlungen, die länger als sechs Monate durchgeführt wurden, aus Sicht der Antwortenden eine größere Verbesserung zur Folge hatten. Dieser Mehrnutzen war für Therapien nach der 100. Sitzung wieder rückläufig.
Nicht alles wirkt durchschnittlich gleich gut, und so kann man sowohl auf der Ebene des Verfahrens als auch auf der Ebene einzelner Techniken durchschnittliche Wirkungen gegenüberstellen und diese auch bei verschiedenen Diagnosegruppen differenzieren. Hier sind in den letzten 30 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht worden. Psychotherapie (insbesondere kognitive VT) konnte bei Depressionen und Angststörungen als wirksamer eingestuft werden als reine Pharmakotherapie; bei mittelschweren Störungen und Komorbidität zeigt sich zumindest eine Kombinationstherapie aus Medikamenten und Psychotherapie der reinen Pharmakotherapie überlegen.
Auch hier gibt es eine Placebodiskussion, die vor allem dazu dient, spezifisch wirksame Interventionen besser voneinander zu unterscheiden und die allgemein wirksamen Effekte herauszurechnen. Dabei lässt man dann aber vermutlich genau das unter den Tisch fallen, was rein quantitativ die größere – aber eben nicht spezifische – Wirkung ausmacht: zum Beispiel die kommunikative und soziale Kompetenz von Therapeuten, die nicht zu unterschätzende Rolle der Gesprächsführung, die Güte des Fallkonzeptes und die darauf folgende individuelle Behandlungsstrategie (im Kontrast zur «individuellen» Anwendung einer bereits vorher feststehenden Methode) und nicht zuletzt die Frage, ob langfristige emotionale Belastungen zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit gemacht werden oder nicht.
Es werden regelmäßig in störungsspezifischen Therapien auch erhebliche störungsunspezifische Einflüsse nachgewiesen; z. B. Flückiger (2012) konnte nachweisen, dass im Therapieverlauf auch von störungsspezifischen/evidenzbasierten Therapien die Bedeutung der therapeutischen Beziehung sehr relevant ist, und zwar unabhängig davon, wie stark sich der behandelnde Therapeut an das zugrunde liegende Therapierational hält. Daraus erwächst unter anderem für Flückiger (2012) die Konsequenz, dass allgemeine Behandlungsfaktoren wesentlich stärker auch in Manualen beachtet werden sollten.
Unbestritten ist jedoch in einigen Forschungsbereichen zur Panikstörung, zu Depressionen und psychosomatischen Störungen, dass es mit dem Nachweis der Bedeutung störungsspezifischer Interpretationen von körperlichen Prozessen (psychophysiologische Wechselwirkungen) gelang, immer wieder aufkeimenden biologistischen Theorien aus der somatischen Medizin und Psychiatrie entgegenzutreten und die Notwendigkeit psychologischer Interventionen zu belegen (s. dazu auch die Diskussion zum Panikmodell von Margraf & Schneider in Kap. 5.2).
Ein weiteres Verdienst der Effektforschung ist die Entwicklung der Beschreibung standardisierter Interventionen, die zwar zunächst primär aus Forschungsinteressen erfolgte (Sicherstellung der methodentreuen Durchführung aller teilnehmenden Therapeuten), dann aber sehr interessiert in der Versorgungspraxis aufgenommen wurde. Dies löste eine ganze Welle von störungsspezifischen Manualen aus, die bis heute anhält und in dieser Überbetonung eine kontraproduktive Seite entwickelt hat, nämlich die Reduktion des Verständnisses für den Therapieprozess auf eine sequenzielle Abfolge von Behandlungsmethoden. Man kann wohl auch sagen, dass die Diskussion um die störungsspezifische Therapie deshalb besonders intensiv geführt wird, weil hier große finanzielle und politische Interessen im Spiel sind. Das Interesse der Kostenträger an einer möglichst kurzen und billigen Therapie trifft hier auf wissenschaftliche Interessen, die an kurzfristigen und symptomorientierten Kriterien therapeutische Verfahren bewerten und damit primär die Interessen der Kostenträger bedienen und nur scheinbar die Interessen von Patienten. In den Anfängen der Verhaltenstherapie als Kassenleistung wurde beispielsweise gefordert, dass keine Verhaltenstherapie einer Angststörung länger als 15 Sitzungen dauern sollte, wenn wissenschaftlich fundierte Expositionsmethoden zum Einsatz kommen. An dieser Forderung kann man die Reduktion auf die technischen Aspekte und die Bedienung der Interessen der Kostenträger deutlich erkennen. Diese Entwicklung führte zu einer Vernachlässigung der sog. unspezifischen Wirkfaktoren. Nach 30 Jahren etablierter Verhaltenstherapie hat sich in der Versorgungspraxis jedoch die ausschließlich technische Rolle des Therapeuten als Anwender wirksamer Methoden relativiert.
Lambert & Barley (2002) quantifizieren die verschiedenen Anteile am Therapieerfolg bei Effektstudien und stellen fest, dass ca. 30 % der Erfolgsvarianz auf «unspezifische» Faktoren zurückgehen, 15 % auf Erwartungseffekte seitens der Patienten, 15 % auf spezifische Methoden (s. o.) und 40 % auf außertherapeutische Veränderungen in der Lebenswelt der Patienten. Diese Quantifizierung war als nicht empirisch umstritten und wurde von Cuijpers et al. (2012) erstmals überprüft: Bezüglich Depressionsstudien kam man auf 17,1 % (spezifisch), 49,6 % (unspezifisch) und 33,3 % (außertherapeutisch). Damit wurden die Schätzungen von Lambert & Barley erstmals empirisch bestätigt. Diese Berechnungen relativieren den störungsspezifischen Beitrag zum Gelingen einer Therapie erheblich.
Grawe (1998) weist auf die erhebliche Überschätzung störungsspezifischer Techniken hin («Die störungsspezifische Psychotherapieforschung siegt sich zu Tode»). Er rechnete vor, dass von 100 Patienten mit Depressionen faktisch ca. 14 Patienten nachhaltig mit den wirksamsten Verfahren geholfen wird, wenn man die Ablehner einer solchen Behandlung, die Abbrecher, die Non-Responder und diejenigen mit Rückfällen herausrechnet (14 %).
Trotzdem kann man im Querschnitt konstatieren, dass der mit störungsspezifischen Techniken erklärbare Erfolg immer noch im Vergleich über dem Erfolg einer reinen Pharmakotherapie liegt. Die Relativierung der störungsspezifischen Effekte darf nicht dazu führen, dass die spezifischen Faktoren in einem allgemein angelegten Konzept untergehen. Trotzdem werden immer wieder neue störungsspezifische Behandlungspakete aufgelegt mit angeblich noch besserer Wirkung. Nicht auszuschließen ist daher, dass sich mit dem Erfinden immer wieder neuer Interventionspakete und den darin liegenden Effizienzversprechen schneller eine akademische Karriere machen lässt als mit der Weiterentwicklung der vorhandenen Konzepte (Priebe 2012), auch wenn sich diese Erwartungen in der Regel nicht erfüllen. Dies unterstreicht den Mainstream der Ökonomisierung auch in der Wissenschaft.
Fazit: Insgesamt sollte die Konsequenz aus diesen Befunden sein, das psychotherapeutische Behandlungsangebot deutlich zu verbreitern, um die Fehlallokation finanzieller Mittel in Bereichen mit sehr geringem Wirkungsgrad oder sogar negativer Wirkung zu verhindern.
Konsequenzen für die Praxis
Psychotherapie ist hochgradig wirksam. Etwa 17 % der Wirkung gehen auf störungsspezifische Effekte zurück, 50 % auf unspezifische Effekte und 33 % auf außertherapeutische Effekte. Dieses Verhältnis sollte sich auch in Ausbildungen und in der Therapieplanung niederschlagen und ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer übergeordneten transdiagnostischen Modellbildung.