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1. Psychotherapieforschung
1.8 Theorie und Praxis: Die therapeutische Grundhaltung
ОглавлениеWir gehen in der Regel davon aus, dass eine therapeutische Theorie mit therapeutischem Handeln verbunden ist. Die entgegengesetzte Haltung dazu wäre, wissenschaftliche Theorie und (therapeutisches) praktisches Handeln grundsätzlich zwei verschiedenen Welten zuzuordnen – wie dies zum Beispiel der Wissenschaftsanarchist Paul Feyerabend tut (1994): In der einen Welt geht es um akademische Karrieren mit möglichst vielen Publikationen und in der anderen Welt um die Behandlung von Patienten mit wenigen Publikationen; wer ökonomisch auf den Ertrag von Behandlungen angewiesen ist, hat in der Regel keine Zeit zum Schreiben. Dieser Umstand prägt und verzerrt möglicherweise auch das Bild der veröffentlichten Psychotherapie in Lehrbüchern, was aber in der Konsequenz nicht zur Aufgabe eines wissenschaftlichen Begründungsanspruchs führen darf.
Konsequenzen für die Praxis
Wissenschaftliche Orientierung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die professionelle Ausübung von Psychotherapie. Zum deduktiven Wissen (Wissenschaft, theoretische Reflexion, Theoriewissen) und dem im Verlauf eigener Behandlungserfahrungen wachsenden induktiv erarbeiteten Anwendungswissen (klinische Intuition, praktische Reflexion und Fallkonzepterstellung) sollte die explizite Selbstreflexion und die persönliche Kompetenz hinzukommen (zunächst in der Selbsterfahrung und Supervision)[7]. Alle drei Wissensquellen sollten permanent aktualisiert werden und sich mit zunehmender Erfahrung wechselseitig durchdringen. Das Ideal für den wissenschaftlichen Praktiker oder den praktisch arbeitenden Wissenschaftler ist es, alle drei Wissensquellen miteinander in Beziehung zu setzen und eine stimmige Methodologie zu entwickeln, die durch eine übergeordnete konsistente Begrifflichkeit gekennzeichnet ist und die eine Integration biologischer, psychologischer und sozialer Empirie gewährleistet.
Als professioneller Praktiker hat man den Vorteil, dass man seine therapeutische Vorgehensweise flexibel an den Patienten anpassen kann. Man sollte sich nicht auf den Status eines Anwenders von Wissenschaft reduzieren (wie ein Auszubildender, der Werkzeuge anwendet), verbunden mit einer permanenten Schuld, es nicht (nur) so zu machen, wie es in den Lehrbüchern steht. Therapeuten sollten sich als das begreifen, was sie sind oder gerne sein möchten: wissenschaftlich ausgebildete Psychotherapeuten mit überdurchschnittlich ausgeprägter Fähigkeit zur Selbstreflexion in Beziehungen und zur Reflexion auf den klinischen und ökonomischen Rahmen der eigenen Tätigkeit mit dem Patienten als Mittelpunkt, der ein Recht darauf hat, als Subjekt im Zentrum zu stehen.
Das Anerkennen der nicht delegierbaren Verantwortung gegenüber dem Patienten bedeutet zunächst einmal, die Bedeutung der eigenen Haltung anzuerkennen und diese auch zu erkunden und zu entwickeln («Haltung begründet Handlung»), weil diese jenseits der Theorie einen wichtigen Einfluss auf den Patienten hat.
In dieser Hinsicht konnte man modellhaft damals während des bis dahin größten Psychotherapie-Weltkongresses in Hamburg 1994 anregende Beobachtungen machen. Auf diesem Kongress begegnete man über 30 Begründern von Therapieschulen/-methoden (darunter z. B. Lazarus, Ellis, A. T. Beck, Kernberg, Masterson, Viktor Frankl, Watzlawick, William Masters, Alexander Lowen, Selvini Palazzoli, Minuchin u. v. a. m.), die nicht nur theoretisch über ihre Behandlungsmethode referierten, sondern auch praktische Demonstrationen auf der Bühne zeigten und Videos über authentische Therapiemitschnitte vorführten. Eine interessante Beobachtung war: Manche Therapieschulgründer gingen mit ihrem Gegenüber in eine persönliche Beziehung und schufen eine Atmosphäre der Verbundenheit durch eine gekonnte Gesprächsführung, um schließlich eine konkrete Technik zu demonstrieren, die mit der eigenen Therapietheorie in engem Zusammenhang stand (zum Beispiel eine spezifische Körperübung auf einem körpertherapeutischen Hintergrund). Oft taten diese Therapieschulgründer in den Sitzungen wesentlich mehr als das, was sie in ihren Theorien explizit hervorhoben. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit stand dann trotzdem die jeweilige Technik. Bei anderen Therapieschulgründern ergab sich eine Situation, in der keine wirkliche Beziehung aufgebaut wurde, sondern relativ direkt eine Technik zum Einsatz kommen sollte. Im günstigen Fall wurde hier freundlich mitgemacht, aber der Effekt wirkte oberflächlich. Im ungünstigen Fall hatte jemand ein ernsthaftes Anliegen oder Leiden, dann wirkte die beharrliche Anwendung der Technik eher peinlich und brachte Irritationen bei den Beobachtern hervor, die zwischen der Wertschätzung für den Therapieschulgründer und dem Bedürfnis, den «Patienten» zu schützen, hin- und hergerissen waren.
Eine andere «Demoerfahrung» durch Videoaufzeichnungen kann man in den Seminaren von Leslie Greenberg machen. Es wurden unterschiedliche Strategien der Gesprächsführung im Erstgespräch bei der gleichen Patientin mit einer Verhaltenstherapeutin (Judith Beck, Tochter von A. T. Beck), einem Gesprächstherapeuten (Greenberg) und einer Psychoanalytikerin per Video demonstriert. Hierbei wurde deutlich, dass die jeweilige Theorie das Gesprächsverhalten lenkte bzw. das Gesprächsverhalten die Theorie demonstrieren sollte: Die Verhaltenstherapeutin hörte nur kurz zu und übernahm dann schnell die Kontrolle im Gespräch, um «Tools» im Umgang mit dem beschriebenen Problem anzubieten. Die Psychoanalytikerin kam relativ schnell von sich aus auf die frühere Biografie zu sprechen (alle Therapeuten hatten vorher die Anamnese der Patientin gelesen) und wirkte wesentlich ernster als die Patientin. Der Gesprächstherapeut konzentrierte sich ganz auf die gegenwärtig spürbaren Regungen der Patientin, nahm sie in seinen eigenen Regungen auf, sprach sie an und vertiefte im zweiten Teil des Gesprächs dann die Emotionen mit einer Stuhlarbeit. Eine Beziehung auf Augenhöhe war vor allem im Gespräch mit dem Gesprächstherapeuten spürbar, wobei die sich daran anschließende Stuhlarbeit etwas forcierend wirkte. Alle drei Therapeuten hatten sich bemüht, im Rahmen ihrer Theorie eine spezifische Beziehung aufzubauen. Am wohlsten fühlte sich die Patientin letztlich mit dem Gesprächstherapeuten (in einem verhaltenstherapeutischen Seminar wäre möglicherweise anderes Videomaterial ausgewählt worden). In der Beziehung zur Psychoanalytikerin erlebte die Patientin Misstrauen, und in der Beziehung zur Verhaltenstherapeutin fühlte sie sich zwar grundsätzlich wohl (vor allem weil sie neugierig auf die Tools war), aber es ging ihr im Gespräch zu schnell. Entscheidend für das Vertrauen war also der Kontakt im Gespräch bzw. das Gefühl einer passenden Wahrnehmung und Wiedergabe ihrer Äußerungen.
Man kann zu der Auffassung gelangen, dass es bezüglich der Grundhaltung zunächst keine Rolle spielt, welcher Theorie man folgt: Grundsätzlich bestimmt die Art der Gesprächsführung, ob sich ein Patient bzw. Gesprächspartner als Subjekt oder als Objekt behandelt fühlt! Daher nehmen Therapietheorien auch nicht grundsätzlich vorweg, ob ein Patient zum Objekt einer Be-Handlung gemacht wird oder als selbstbestimmtes Subjekt behandelt wird (man erinnere sich z. B. an die positiven Bewertungen der therapeutischen Beziehung im Kontext der theoretisch reduzierten Verhaltenstherapie der ersten Welle). Es ist deutlich, dass eine Theorie zwar das Gesprächsverhalten beeinflusst, aber ein gelingendes Gespräch grundsätzlich etwas damit zu tun hat, dass man den Patienten als Person wahrnimmt und ein Gespräch auf Augenhöhe – quasi im Subjektmodus – führt (selbst dann, wenn ein Patient sich noch nicht auf Augenhöhe fühlt).
Verhaltenstherapeuten denken zwar oft, sie würden die Probleme ihrer Patienten ernst nehmen, weil sie sie «direkt angehen», neigen aber unterstützt durch eine technikorientierte Forschung und Ausbildung dazu, den Patienten in der Interaktion zum Objekt zu machen. Dies sind Patienten im somatisch-medizinischen Kontext gewohnt und sie sind auch bereit, dies zu akzeptieren, oder erwarten und fordern es sogar ein («Machen Sie was, damit es mir besser geht»). Therapeuten fühlen sich im günstigen Fall nach kurzer Zeit damit unwohl, im ungünstigen Fall sind sie von ihrem Vorgehen vollkommen überzeugt. Genauso wirkt sich die Gesprächsführung von Therapeuten anderer Schulenrichtungen aus, die sozusagen am Patienten die Geltung der gelernten Theorien bestätigen wollen. Methode und Theorie stehen in diesen Fällen quasi über dem Patienten. Und der Patient engagiert sich in der Methode und der psychologischen Sprache/Theorie, um mit dem Therapeuten auf Augenhöhe zu kommen. Er wird quasi zum kleinen Psychologen und Experten für seine Störung und das jeweilige Verfahren. Man erinnere sich hier auch an die Berichte von Analysanden, die je nach Ausrichtung ihres Analytikers sexuelle Träume (Freud), spirituelle Träume (C. G. Jung) oder von Machtkonflikten geprägte Träume (Adler) hatten. Die Sprachwelt der Therapeuten formt die narrativen Möglichkeiten der Patienten bzw. dringt in deren Bewusstsein ein. Das gilt auch für die technische Sprache mancher Verhaltenstherapeuten («Sie funktionieren nach Teufelskreis-Schema F.», «Ihre Depression ist auf Verstärkerverlust zurückzuführen»).
Entscheidend für einen Therapieerfolg ist die Fähigkeit des Therapeuten, den Patienten als Subjekt zu behandeln, sich auf seine Wahrnehmungen und seine Sprache einzulassen, zu einem gemeinsamen Erkunden und Reflektieren einzuladen und alle anderen Fragen nachrangig zu behandeln. Die Therapietheorie spielt in dieser Hinsicht eine untergeordnete Rolle.
In zweiter Linie sind die zugrunde liegenden Theorien jedoch durchaus von Bedeutung: Mit einer schlechten Theorie wie mit einem schlechten Fallkonzept kann man trotzdem eine gute Therapie machen; aber es ist unwahrscheinlicher, dass die Therapie gut verläuft! Und mit einer Theorie, die den Patienten nur aus einer technischen Perspektive wahrnimmt (Patient als Empfänger einer Methode durch einen Experten), ist eine Beziehung auf Augenhöhe unwahrscheinlich. Als überzeugter kognitiver Therapeut kann man aus der Therapie je nach Persönlichkeit eine für den Patienten wichtige und verändernde emotionale Erfahrung machen; aber etwas wahrscheinlicher ist es, dass dieser Therapeut seine Patienten zum Disputieren einlädt, dysfunktionale Kognitionen identifiziert, oft am Flip-Chart steht, Vorträge zu Denkmustern und ihren Auswirkungen hält und aus dem Therapieraum einen Seminarraum macht; eine Vorstellung, die Therapieforschern vermutlich sehr vertraut ist und die vielfach von Auszubildenden so umgesetzt wird. Die guten kognitiven Therapeuten machen vermutlich mehr oder etwas anderes, als sie in ihren Theorien abbilden.
Als Pate der misslungenen Vorstellung von Heilung durch Technik kann man vielleicht die «moderne» Arzt-Patienten-Beziehung im Rahmen einer ausschließlich naturwissenschaftlich betriebenen Medizin sehen, die der Psychosomatik-Klassiker Thure von Uexküll einmal mit den Worten beschrieben hat: «Unsere Humanmedizin wird betrieben wie eine Veterinärmedizin.» Stattdessen formuliert er folgenden Leitsatz für eine psychosomatische Medizin: «Medizin muss vom Menschen als Subjekt ausgehen. Der Mensch lässt sich nicht nachträglich in die Heilkunde einführen.»
Daher bleibt das Ringen um ein angemessenes übergeordnetes Modell für die Entstehung und Behandlung von Störungen für die Haltung eines Therapeuten bedeutsam.
Stelle ich die Behandlungstechnik über das Gespräch bzw. den Kontakt auf Augenhöhe, dann gewinne ich kein Vertrauen und kann bestenfalls mit limitierter Kooperation rechnen.
Auch das gesundheitsökonomische Denken kann man unter diesem Aspekt sehen: Eine ökonomische Haltung, die primär an Gewinnoptimierung und Kostensenkung orientiert ist und jede erbrachte Leistung nur kurzfristig und isoliert betrachtet (wie es dem positivistischen Mainstream entspricht), macht die Patienten zu Objekten ihrer eigenen Behandlungen. Erweitert man jedoch den ökonomischen Kontext auf langfristige Effekte und über alle Leistungssparten hinweg (z. B. im Folgejahr der Anwendung), dann wäre eine nachhaltige betriebswirtschaftliche Kostenbegrenzung (Arztbesuche, Medikamente …) und volkswirtschaftliche Folgekostenbegrenzung (Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung) durch Aufwertung der sprechenden Medizin (mit hoher Effizienz) und eine Begrenzung teurer apparativer Maßnahmen (mit geringer Effizienz bei chronischen Verläufen) sowohl für die Gemeinschaft als auch für den Patienten das sinnvollste Kriterium für ein nachhaltiges kostenbewusstes Gesundheitswesen.
Ökonomie führt nicht automatisch zur Fremdkontrolle im Objektmodus, sondern kann auch mit inhaltlichem Verständnis der Patienten bzw. der langfristig angelegten Behandlungsprozesse im Subjektmodus betrieben werden. In diesem Zusammenhang ist die ACE-Studie im Bereich chronischer Krankheitsentwicklung ein wichtiger Hinweis darauf, dass die preiswertere Medizin zugleich die bessere Medizin sein kann, wenn die richtigen Prioritäten gesetzt werden (s. hierzu auch Kap. 3.2.6).
Zur Illustration dieser komplementären Haltungen soll die folgende Tabelle 2 als Anregung dienen.
Konsequenzen für die Praxis
Die Erkundung und Entwicklung einer eigenen Grundhaltung gehört zu den Pflichten eines Therapeuten, der die Verantwortung für die Behandlung nicht vollständig an den klinischen Rahmen, die Politik oder die Wissenschaft abgeben möchte. Psychotherapie ist immer eine persönlich zu verantwortende Leistung. Vor der Frage «Was soll ich tun?» steht die Frage «Was ist meine Überzeugung?» oder «Wie würde ich selbst behandelt werden wollen?». An der obigen Tabelle kann man gut nachvollziehen, dass jede Theorie und jedes Verfahren sowohl im Objektmodus als auch im Subjektmodus angewendet werden kann und daher die Theorie der Haltung des Therapeuten nachgeordnet ist. Man kann daraus auch die Pflicht ableiten, sich kritisch mit den Dogmen der eigenen Therapietradition zum Nutzen des Patienten auseinanderzusetzen, wie dies zum Beispiel in der Traumatherapie geschieht.
7
Siehe hierzu auch die Unterscheidung Bennett-Levy’s (2006) in deklaratives Wissen, prozessuales Wissen und das reflective system (Selbstreflexion).