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2. Grundlagenforschung
2.2 Gedächtnispsychologie

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Ein ausschließlich kognitives Verständnis der Funktionsweise des Menschen, wie sie lange Zeit durch die kognitive Psychologie nahegelegt wurde, wird nicht nur durch die Hirnforschung, sondern auch die Gedächtnisforschung infrage gestellt. Beide Forschungsrichtungen haben die moderne Emotionstheorie mitbegründet. Die ältere psychoanalytische Unterscheidung in Bewusstes und Unbewusstes kehrt hier wieder in der Unterscheidung von expliziten und impliziten Gedächtnissystemen. Dabei hat sich das Verständnis beider Gedächtnissysteme erheblich differenziert.

Das explizit-deklarative Gedächtnis besteht linkskortikal aus semantischen Inhalten (Gedanken), abstraktem Fakten- und Wissensgedächtnis, zeitlich-räumlich konkreten Ereignissen und rechtskortikal (unter Einbeziehung des oberen limbischen Systems) aus episodischem Gedächtnis in Verbindung mit dem autobiografischen Gedächtnis und kontextuell eingebetteten und auch körperlich repräsentierten Erinnerungen. Das implizit-nondeklarative prozedurale Gedächtnis besteht aus situativ aktivierbaren Erlebnissen, somatischen Repräsentanzen und sensorisch-perzeptuellen Wahrnehmungen. Während das explizite Gedächtnis willentlich (top-down) aktivierbar ist und als bewusste Erinnerung in die Veränderung von Verhaltensweisen einbezogen werden kann, ist das implizit-prozedurale Gedächtnis autonom und reflexhaft in Situationen aktivierbar. Die impliziten Gedächtnisinhalte laufen schnell und automatisch ab; die expliziten Inhalte unterliegen einer reflektierenden Verarbeitung und laufen deutlich langsamer ab (s. hierzu auch die Ergebnisse von Kahneman in Kap. 2.4). Problematisch sind daher hochgradig emotionale Gedächtnisinhalte im Zusammenhang mit einem «Bauchgefühl», die zur äußeren Situation nur teilweise passen, aber ähnlich eingestuft werden. Schnell können implizite Erlebensmuster aktiviert werden, die mit alten Bewältigungsreaktionen gekoppelt sind und deren Herkunft nicht wahrgenommen oder beeinflusst werden kann. Die Eigendynamik eines Bauchgefühls kann der kognitiven Einschätzung widersprechen, und beide neuronale Repräsentanzen sind umso schlechter miteinander verbunden, je belastender und unverarbeiteter der ursprüngliche emotionale Stressor ist. Eine Infragestellung der eigenen Reaktionen kann zwar «von oben» (kognitiv / top-down) erfolgen, aber die Beeinflussung der impliziten Reaktionen gelingt dadurch nicht oder muss durch Triggerreize aktiviert und in der Aktivierung (bottom-up) verfügbar gemacht, vernetzt und modifiziert werden. Die emotional belastenden Inhalte müssen also mit allen körperlichen und emotionalen Facetten zum Gegenstand bewusster Aufmerksamkeit werden und in der aktivierten Situation kognitiv-sprachlich verarbeitet werden, bis eine deutliche Beruhigung und Klarheit eintritt und die Erinnerungen von der Gegenwart unterschieden werden können. Die bottom-up-Aktivierung dieser Situationen in einer therapeutischen Sitzung ist daher mit deutlich höheren Emotionen verbunden als ein kognitives Vorgehen und stellt andere Anforderungen an die Gesprächsführung und an eine Sicherheit bietende therapeutische Beziehung.

Problematisch kann für die Psychotherapie das Phänomen der falschen Erinnerungen sein (false memory syndrome) im Kontext einer unprofessionellen Haltung oder Gesprächsführung. In Zuständen höherer emotionaler Erregung nimmt die Beeinflussbarkeit zu, sodass eine suggestive Einflussnahme seitens des Therapeuten zu einer Abspeicherung eines falschen autobiografischen Gedächtnisses führen kann. Man denke hier zum Beispiel an eine «aufdeckende» Gesprächsführung, die den «Nachweis» von Missbrauch oder schweren Erziehungsfehlern der Eltern zum Ziel hat. In anderen Kontexten kann eine suggestive Gesprächsführung dazu führen, dass Personen sich präzise an frühere Leben erinnern (selten entdeckt hier ein Klient sein früheres Leben als Bauer oder Arbeiter, häufiger «entdecken» Klienten, dass sie früher einflussreich waren oder ein Opfer großer Ungerechtigkeit). Diese Probleme sind ein wichtiges Argument für eine professionelle Gesprächsführung, um Patienten vor suggestiver Einflussnahme zu bewahren.

Stoffels & Ernst (2002) diskutieren vier Unterscheidungskriterien von Erinnerungen und Pseudoerinnerungen in Anlehnung an die False-Memory-Syndrome-Foundation: Pseudoerinnerungen sind wahrscheinlicher, wenn (1) sie unter Erwartungsdruck und voreingenommener «Suche» aktiviert werden; wenn (2) visuell-situative Details, Körpererinnerungen oder Traumbilder vorherrschen und die Erinnerung emotional diffus bleibt; wenn (3) konkrete traumatische Inhalte als «verdrängt» vorweggenommen werden und wenn (4) Erinnerungen vor dem dritten Lebensjahr behauptet werden (S. 449). Die Suggestivität unprofessionell agierender Psychotherapeuten findet sich auch wieder in der Präferenz bestimmter Diagnosen aus bestimmten persönlichen oder beruflichen Interessen, ohne dass die erforderlichen diagnostischen Kriterien präzise beschrieben werden (s. hierzu auch Kap. 3.2.8). Gerne wird allerdings von manchen diese Möglichkeit der negativen Beeinflussung von Patienten dramatisiert. So findet man zum Beispiel bei Eiling et al. (2014) die Formulierung, dass die Aktivierung von Erinnerungen aus der Kindheit «sehr leicht zur Produktion falscher Erinnerungen führen» würde, und es gebe «keine Belege, dass diese Techniken hilfreich sind» (S. 178). Für die erste Aussage zitieren die Autoren keine Belege, und die zweite ist schlichtweg falsch und steht im Kontrast zu Befunden der Traumaforschung oder zu Befunden der CBASP oder Schematherapie (s. Kap. 5.3.2). Man kann den Autoren bestenfalls dahingehend zustimmen, dass die bloße Aktivierung irgendwelcher Erinnerungen noch keine Behandlung ist (s. Kapitel zur Traumaforschung) und die aktivierten Gedächtnisinhalte einer inneren Abspeicherungslogik folgen und nicht als äußerlich korrekte Aufzeichnung – die es nicht gibt – zu verstehen sind. Ansonsten kann man die komplette Ignoranz von Kindheitserfahrungen und die Dramatisierung eines dem Therapeuten ausgelieferten Patienten als verzerrte Wahrnehmung einer professionellen Arbeit und der Wirklichkeit der Patienten bezeichnen. Dormann (2012) weist zu Recht darauf hin, dass die «Videorekorder-Theorie» des Gedächtnisses aus den Siebzigerjahren überholt sei, dass sich das autobiografische Gedächtnis stattdessen in ständiger Überarbeitung befinde und es in der Behandlung nicht um die objektive Vergangenheit gehe, sondern um die aktuellen Spuren im Gedächtnis. Diese sollten dann allerdings auch Berücksichtigung finden ohne Angst vor der Imaginationsarbeit und einem angeblich zwangsläufig in der Methode liegenden erhöhten Risiko zur Provokation «falscher» Erinnerungen.

Es gibt allerdings keine Beziehung ohne Beeinflussung. Nur sollte diese nicht suggestiv oder manipulativ sein – auch wenn dies im kurzfristigen «Interesse» eines Patienten zu sein scheint bzw. Teil eines implizit vertrauten emotionalen Zustands sein kann –, sondern immer dem grundlegenden Ziel des Patienten an emotionalem Wachstum und Selbstbestimmung dienen. Der wichtigste Schutz vor eigener unbewusster Suggestivität (z. B. bei unverarbeiteter Wut/Ohnmacht in Bezug auf die eigenen Eltern und einem darauf folgenden Ehrgeiz zur Entlarvung der Eltern anderer) liegt in einer ausreichenden Selbsterfahrung bzw. in der Verfügbarkeit und Handhabbarkeit eigener relevanter emotionaler Erfahrungen.

Fazit: Insgesamt hat die moderne Gedächtnispsychologie die Vorstellung einer kognitiven Verarbeitung erheblich differenziert. Gedächtnispsychologisch wird die Unterscheidung impliziter und expliziter Gedächtnisstrukturen und auch die Unterscheidung körpernaher, perzeptiver, episodischer und semantisch-kognitiver Strukturen bestätigt. Dies führt zu einer Differenzierung des Blicks auf die innere Repräsentanz von Lernerfahrungen und auch einer differenziellen therapeutischen Aktivierung von Gedächtnisinhalten. Der Kognitionsbegriff muss daher differenziert werden und eingebettet sein in einen neuen Rahmen. Jedoch dient der Begriff Kognition in der Klinischen Psychologie meist wie vor 30 Jahren immer noch als «Omnibuskonzept» für alle inneren Prozesse. Zudem lässt sich aus der Gedächtnisforschung folgern, dass die Gesetze der Lerntheorie nur einen Teilbereich der inneren Verarbeitung erfassen und dass für das Verständnis der Ätiologie und Behandlung von Störungen auch emotionspsychologisch und gedächtnispsychologisch fundierte Konzepte herangezogen werden sollten.

Konsequenzen für die Praxis

Die innere Repräsentanz emotionaler Erfahrungen – vor allem belastender Erfahrungen mit beeinträchtigter Verarbeitung – erschließt sich nicht durch kognitive oder situative Beschreibungen, sondern hat eine eigene, nicht vorhersehbare Abspeicherungslogik. Sie erschließt sich erst im Kontext sorgfältiger sukzessiver Aktivierung unter Einbeziehung der prozedural-körperlichen, der perzeptiven und der visuell-episodischen Ebene. Daher bedarf diese Arbeit zusätzlich zur professionellen Gesprächsführung einer speziellen Methodik in Anlehnung an hypnotherapeutische Vorgehensweisen (Imaginationsarbeit).


Verhaltenstherapie emotionaler Schlüsselerfahrungen

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