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2. Grundlagenforschung
2.1 Psychobiologie

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Der Mensch kann bei grober Unterscheidung in drei Perspektiven (Sir K. Popper spricht von «drei Welten») gesehen werden: aus der biologischen (Körper), aus der psychologisch-mentalen (Seele) und aus der sozial-kulturell-geistigen (Gesellschaft – geistiges Leben). Hierauf ruht die moderne bio-psycho-soziale Sichtweise vom Menschen, die ihn weder auf seinen Körper reduziert noch auf seine Psyche oder seine kulturell-geistige Orientierung. Alle drei Ebenen sind Begleiterscheinungen der menschlichen Realität. Die Reduktion einer Ebene auf eine andere (z. B. der psychischen auf die somatische (1) oder der sozioökonomischen auf die psychische (2) ist ein kategorialer wissenschaftstheoretischer Denkfehler, der sich trotzdem im biomedizinischen oder auch kognitivistischen Modell großer Beliebtheit erfreut. Anders sieht es jedoch aus, wenn man von Korrelaten spricht und nach somatischen Begleitaspekten psychischer Vorgänge und Veränderungen fragt.

Man kann mit zunehmenden Erkenntnissen aus der Hirnforschung feststellen, dass Psychotherapie immer auch mit Veränderungen im Gehirn verbunden ist. Die Hirnforscher Kaplan-Solms & Solms (2003), der Emotionsforscher LeDoux (1998) und Grawe (2004) haben hierzu einige Erkenntnisse zusammengetragen. Nach LeDoux können ohne kognitive Beteiligung emotionale Reaktionen und emotionale Erinnerungen entstehen. Das emotionale System kann anatomisch unabhängig vom Neokortex agieren. Der Mandelkern kann Erinnerungen und Reaktionsmuster enthalten, die wir umsetzen, ohne zu wissen warum. Dies ist neurobiologisch möglich, weil die Abkürzung vom Thalamus zum Mandelkern den Neokortex völlig übergeht. Deshalb kann der Mandelkern emotionale Eindrücke und Erinnerungen bewahren, von denen wir nie bewusst Kenntnis genommen haben.

Der grundlegende Vorgang der emotionalen Einfühlung eines Menschen in einen anderen wird z. B. durch spezielle Nervenstrukturen begünstigt: die hoch spezialisierten Spiegelneuronen. Auf beiden Seiten kommt es durch diese Strukturen zu einer raschen Erregungssynchronizität. Diese manchmal präkognitiv stattfindende Wechselwirkung wird von anderen Forschern auch als «affektive Ansteckung» bezeichnet und ist die Grundlage dafür, dass sich der Mensch als soziales Wesen in Gefahrensituationen entweder wehren oder helfen und sich mit anderen zusammenschließen kann.

Wichtige emotionale Erlebnisse setzt das Gehirn aus zwei unterschiedlichen Teilen zusammen: Die Sachinformation holt es aus dem Hippocampus, die dazugehörigen Gefühle aus der Amygdala. Genau in diesen Regionen des limbischen Systems sitzen auch die meisten Rezeptoren für Stresshormone. Überfluten die Hormone das Gehirn und docken in Hippocampus und Amygdala an, verhindert dies das Zusammenfügen der Erinnerung.

Emotionales Lernen vor allem in den ersten beiden Lebensjahren geschieht subkortikal und damit unbewusst in tieferen Hirnstrukturen, in denen auch Furcht entsteht. Erlebnisse können deshalb heftige emotionale Reaktionen in uns wecken, ohne dass wir wüssten, warum wir fühlen, wie wir fühlen. 90 Prozent des Gehirns formen sich in den ersten vier Lebensjahren.

Frühkindliche Erinnerungen werden ausschließlich vom impliziten (unbewussten) Gedächtnis gespeichert. Sie werden nicht bewusst erinnert und können dennoch unser späteres Leben maßgeblich beeinflussen.

Sobald reifere Hirnstrukturen (Frontallappen des Kortex) ausgeschaltet sind, gewinnt ein Wunschdenken die Dominanz über die Gedanken. Tiefere Hirnstrukturen sind eng an Bedürfnisse gekoppelt. Auf jener geistigen Organisationsebene ist die funktionelle Anatomie und Chemie unseres Gehirns nicht wesentlich von derjenigen von Tieren verschieden.

Die moderne Hirnforschung hat eine ganze Reihe von Instinktsystemen im Säugerhirn identifiziert. Das Hormon Dopamin, das als «Belohnungssystem» des Gehirns bekannt ist, birgt bemerkenswerte Ähnlichkeiten zum Konzept der Libido oder «Lustsuche und Unlustvermeidung». Die emotionale Wertigkeit, die es Objekten beimisst, richtet sich allein nach dem erreichbaren Maß der Befriedigung. Kokain wie die meisten Suchtmittel wirken massiv auf das Belohnungssystem, und Dopamin ist in hohem Maße an Sucht und Abhängigkeit beteiligt. Auch bei Schizophrenie, manischer Depression oder Hyperaktivität spielt es eine Rolle. Entsprechend greifen viele Neuropharmaka in dieses System ein. Die meisten antipsychotischen Mittel beispielsweise blockieren die Dopamin-Übertragung, Antidepressiva regen sie an.

Träume und REM-Schlaf (Schlaf mit raschen Augenbewegungen) sind kontrolliert von verschiedenen neuronalen Mechanismen. Träume werden erzeugt von neuronalen Netzwerken des Frontalhirns, die eng verwoben sind mit Instinkt-Kontrollsystemen. Das Belohnungssystem des Gehirns fungiert als Traumgenerator. Somit sind Träume mit den Grundbedürfnissen gekoppelt. Diese Netzwerke spielen auch eine zentrale Rolle bei Wahnideen, die viele formale Eigenschaften mit den Träumen teilen.

Aus der Neurobiologie kann man ableiten, dass man Erfahrungen nie löschen kann! Es nützt nicht viel, wenn man «nur» die Lebensgeschichte rekonstruiert oder neues Verhalten trainiert. Nimmt man neurowissenschaftliche Ergebnisse ernst, dann muss ein Patient seine emotionalen Stresserlebnisse wieder erleben und eine neue emotionale Erfahrung machen d. h. sie neu verarbeiten. Dadurch kann sich ein korrektives neuronales Netz bilden.

Zur Psychobiologie der Angst: Die Amygdala ist bei der Entstehung von Angst und Erregung beteiligt, der präfrontale Kortex reguliert sie. Die Rolle der Amygdala besteht darin, eine Gefahr zu erkennen und sie auf andere mögliche Gefahren zu verallgemeinern (analog zum Ähnlichkeitslernen oder klassischen Konditionieren). Die Amygdala hat viele Verbindungen in die höheren Gehirnregionen, aber nur wenige Verbindungen laufen vom Neokortex zur Amygdala; daraus folgt, dass eher das Denken durch die Gefühle blockiert wird als die Gefühle durch das Denken beeinflusst werden können; diesen Einfluss gibt es zwar, aber er ist deutlich schwächer. Dies mag das denkende Selbst – also den Philosophen in uns – stören, aber für das Überleben und für den Organismus ist dies eine elementar wichtige Dominanz des schnellen Instinktes gegenüber der langsamen Ratio. Die Amygdala von unsicher gebundenen Kindern ist hyperaktiv und größer als die von sicher gebundenen Kindern; außerdem sind ihre präfrontalen Cortices kleiner, sodass sie weniger fähig sind, ihre Ängste, ihre Wut und andere emotionale Reaktionen zu kontrollieren. Eine weitere wichtige Gehirnregion – die Insula im tief liegenden Bereich der Großhirnrinde mit der höchsten Dichte von Spiegelneuronen als Grundlage für Empathiefähigkeit – wird durch frühen Stress geschädigt. Ebenso reduziert sich der Umfang des medialen präfrontalen Kortex unter hohem frühem Stress, der für die Kontrolle der aggressiven und sexuellen Impulse benötigt wird. Die chronische Aktivierung von Angst kann auch dazu führen, dass andere Gehirnregionen, die für komplexes Denken benötigt werden, nicht zur Verfügung stehen. Es kommt zu einer dauerhaften Übererregung, die die Fokussierung von Aufmerksamkeit erschwert und das Konzentrationsvermögen reduziert.

Bei traumatischen Erlebnissen verschwinden oft die Erinnerungen an deren Details. Es bleibt das Bauchgefühl: «Ich werde bedroht.» Ein Detail kann die Erinnerung an diese Erlebnisse aktivieren und damit Stresshormone, die durch Andocken an limbische Nervenzellen die komplette Erinnerung blockieren. Für die Hirnforschung ist dies der Nachweis einer neurochemischen Zündschnur, die vom Kleinkindgehirn direkt in die Gegenwart des Erwachsenen führt. Dazu Solms: «Wir brauchen unsere Erinnerung, auch wenn sie zunächst kaum zu ertragen ist. Wenn wir nicht wissen, woher unsere Gefühle kommen, können wir keine Lösung finden.»

Roediger (2009) fasst den neurobiologischen Erkenntnisstand zu emotionaler Verarbeitung zusammen durch die Beschreibung von ineinandergreifenden Stufen. Im Folgenden sollen diese vier Stufen ergänzt werden auch durch Erkenntnisse zur dissoziativen Erlebnisverarbeitung (Hantke 2006) und durch die verkürzte Benennung der Stufen (auf den Begriff der Dissoziation wird später eingegangen, s. Kap. 3.2.1):

1. Somatische Aktivierung (Arousal): Erste implizite emotionale Aktivierung in der Amygdala (Orientierungsreaktion mit positiver oder negativer emotionaler Tönung und Grundaktivierung); alle auf die Sinneskanäle eintreffenden Reize werden primär durch Körperreaktionen beantwortet bzw. «bewertet» als «willkommen, neutral oder bedrohlich» (Körpergedächtnis, somatic signature); bei lebensbedrohlichen Reizen kommt es hier zur primären Dissoziation (van der Kolk et al. 2002) mit der Folge eingeengter Aufmerksamkeit (Stufe 2) und fragmentarischer Abspeicherung (Stufe 3).

2. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit: Einspeicherung in bewusstseinsfähige kortikale Aktivierungen über die Hippocampusregion (Abgleich mit assoziativem Gedächtnis); in diesem Teil des limbischen Systems werden die Sinnesreize raumzeitlich geordnet; dieser Teil wird daher auch als «Ordnungssystem» bezeichnet. Unter schwerem oder schwerstem Stress wird dieses System blockiert oder reduziert. Die Aufmerksamkeit ist entweder implizit an die aktivierte Erfahrung gebunden (Tunnelblick, emotionale Fusion) oder distanziert sich vom Körper (gefühlte Unwirklichkeit, Losgelöstsein, out-of-body, Schmerzunempfindlichkeit, Bewegungsstörungen). Die Aufmerksamkeit steht in beiden Fällen nicht für die Wahrnehmungssteuerung, Affektmodulation und die Einbeziehung neuer Informationen zur Verfügung (sekundäre Dissoziation).

3. Primäres Erleben: Einspeicherung in das episodische, visuelle Gedächtnis: rechtshemisphärische Verbindung mit komplexen Repräsentanzen bisheriger Erfahrungen mit Bezugspersonen, episodische Verdichtung zu einer «Szene» oder Bewusstwerdung der eigenen Affektlage, erste «Bauchentscheidungen»; Bahnung weiterer Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse; erste Interpretation der sozialen und emotionalen Signale anderer Menschen; bei hoher Cortisolausschüttung Blockade der weiteren kognitiv-sprachlichen Verarbeitung des Erlebten mit fragmentarischer Abspeicherung einzelner Bilder; bei mittlerer und geringer Ausschüttung bzw. Stresspegel gelingt eine Differenzierung in Erinnertes und Aktuelles.

4. Die auf dieser Stufe entstehenden Bilder kann man als «Brücke» zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis betrachten analog zum «Erwachen», das zunächst noch durch einen traumähnlichen Denkzustand gekennzeichnet ist und zu welchem sich erst allmählich der klare analytische Verstand zuschaltet.

5. Kognitive Verarbeitung: Sekundäres Erleben und Handlungsentscheidung (Neokortex); Versprachlichung des Erlebensflusses im semantischen Gedächtnis (linkshemisphärisch); abstrakte Symbolisierung und narrative Verarbeitung mit Einspeicherung ins autobiografische Gedächtnis; Loslösung von der Unmittelbarkeit der Situation, bewusstes Handeln/Erproben, systematische Auswertung von Lernerfahrungen, top-down- Regulation und bewusste Selbstberuhigung; Bildung von Identität bzw. Selbstbild und Erkenntnissen über soziale Regeln. Gelingt bei fragmentarischer Verarbeitung schwerer Stresserfahrungen hier eine Integration, dann klingen die somatischen und visuellen Aktivierungen (vollständige oder unvollständige PTSD-Symptomatik) ab, und das Ereignis gilt als bewältigt.


Bei bedrohlichen Erlebnissen kann die Blockade oder Unmöglichkeit adaptiver Handlungen (Kampf oder Flucht) auf der vierten Stufe zu einer Chronifizierung traumatischer Symptome führen. Bei weniger bedrohlichen Erfahrungen, die trotzdem ein gewisses Maß an Ohnmacht und Hilflosigkeit beinhalten, kann eine beeinträchtigte und reduzierte Verarbeitung dazu führen, dass intensive Emotionen immer wieder erlebt werden, und in dieser Aktivierung sich keine geeigneten Handlungsmöglichkeiten erschließen, die mit einer spürbaren Beruhigung und einer Abnahme der Ohnmachtsgefühle verbunden wären. Nur unter geeigneten Voraussetzungen (Sicherheit, mittleres Erregungsniveau, vollständige Wahrnehmung aller relevanten Teilaspekte) ist es therapeutisch möglich, sich vom «Gefängnis der erinnerten Gegenwart» (Edelman 1995 zit n. Roediger) bzw. der Macht der Gefühle und (u. U. traumatischen) Erinnerungen zu befreien, bewusst neue Erfahrungen zu machen und sie von emotional prägenden Vorerfahrungen zu unterscheiden; ein unangenehmes «Bauchgefühl» (Stufe 1) und intrusive Erinnerungen werden bei korrigierenden Erfahrungen gedämpft. Eine nachträgliche Auseinandersetzung und therapeutische Verarbeitung ist nur möglich durch die Aufrechterhaltung einer explizit modulierbaren Aufmerksamkeit in einer Art fühlenden Beobachterposition im gemeinsamen Kontakt.

Bei unsicher-vermeidenden Personen ist die linkshemisphärische Verarbeitung «kompensatorisch verstärkt ausgebildet» (Siegel 2006 zit n. Roediger), und bei Vorliegen einer Unfähigkeit, Gefühle zu benennen (Alexithymie), trifft die rechtshemisphärische Körperrepräsentanz nicht auf linkshemisphärisches situatives Einordnen von Emotionen; erst durch Kommunikation wird eine solche Einordnung im Nachhinein möglich. Daraus leitet Roediger (2009) auch ein wichtiges Element für psychotherapeutische Veränderungen ab: Der bei Störungen entstehende emotionale Aktivierungs- und Erlebenszustand «sollte unter kontrollierten Bedingungen hergestellt werden», um dann «die kognitiv-kortikalen Prozesse aufzubauen … bis diese stark genug sind, um das spontane Verhalten … zu hemmen» und «neue Verhaltensmuster aufzubauen». Die Aktivierung von Emotionen und den damit verbundenen unvollständig verarbeiteten Erfahrungen wird nach diesem Verständnis also ausdrücklich gewünscht als Bedingung für eine sich anschließende integrierte Verarbeitung! Die Aufmerksamkeit hat dabei eine wichtige Doppelrolle: Im impliziten Funktionsmodus ist sie in der Aktivierung der unvollständig verarbeiteten emotionalen Erfahrung fixiert und gebunden (in der Schmerztherapie wird hier die Metapher eines «eingerosteten Scheinwerfers» verwendet, der sich nicht mehr flexibel bewegen lässt); im expliziten Funktionsmodus kann sie flexibel auf verschiedene Aspekte der aktivierten Erfahrung gelenkt werden bis zu einem Punkt der erlebten «Vollständigkeit». Diese Flexibilität wird gezielt gefördert durch ein Mitteilen der Wahrnehmungen im interpersonellen Austausch und ermöglicht eine nachträgliche Verarbeitung und neue Abspeicherung der aktivierten Erfahrungen. Hier ist auch der Ansatzpunkt für das Verständnis biologischer Rückkopplungen interpersoneller Kommunikation, wie sie im Rahmen der «sozialen Biofeedback-Theorie» formuliert werden (Kap. 6.2.2).

Psychobiologisch hat sich im Verständnis der Funktionsweise des Gehirns in den letzten zehn Jahren ein Paradigmenwechsel ereignet: Während vormals der Trainingsgedanke zentral war (das Hirn als trainierbarer «Muskel», der Überträgersubstanzen aufbaut), hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Wille und hartes Training nicht entscheidend sind und sogar ohne Auswirkungen auf die Hirnstrukturen bleiben können, während die emotionale Beteiligung für die Ausprägung neuer Vernetzungen zentral ist (Hüther 2013). Nur im Zustand der emotionalen Beteiligung werden Botenstoffe ausgeschüttet, die sich bis in den Zellkern hinein auswirken und von dort aus wieder rückwirkend Vernetzungsaktivitäten auslösen. So beschreibt Hüther (2013) in seinem Buch Die Macht der inneren Bilder (S. 108), dass keine Trainingsmethoden für eine Verhaltensänderung ausschlaggebend seien, sondern das «Wiederanknüpfen an eine ursprüngliche eigene Begeisterungsfähigkeit» und somit ein Wiederaufleben dessen, was in jedem Menschen (vor allem im Kindesalter in der Vorschulzeit) angelegt sei!

«Solche Momente sind Sternstunden, in denen man eine Ahnung davon bekommt, wie es wäre … wenn man die Welt wieder so unbefangen und vorurteilslos betrachten könnte wie ein Kind. Als ob jemand einen alten Vorhang beiseitegezogen hätte, sind all die festgefahrenen Bilder, die man als Erwachsener im Kopf hat, in solchen Augenblicken verschwunden. … Bei etwas genauerer Betrachtung stellt sich sogar heraus, dass es sich bei dieser Fähigkeit zur Öffnung und Erweiterung handlungsleitender innerer Bilder um eine Fähigkeit handelt, die sich zwangsläufig aus der Beschaffenheit der für die Erzeugung, Speicherung und Weitergabe innerer Muster genutzten ‹Matrix› ergibt. Das gilt nicht nur für das Gehirn, sondern auch schon für das Genom, … und es gilt ebenso für das kollektive Gedächtnis. … Eine neue handlungsleitende Vorstellung kann im Gehirn nur dann entstehen und verankert werden, wenn sie das … was der betreffende Mensch bisher gedacht, wie er gefühlt und gehandelt hat … nicht komplett infrage stellt» (Hüther 2013 S. 110).

Diese Erkenntnis ist grundlegend für die Vorstellung von psychotherapeutischer Neuvernetzung im Umgang mit beeinträchtigenden Erfahrungen und stellt einen Wechsel auch in der Hirnforschung vom Trainingsparadigma zum Transformationsparadigma dar.

Seit etwa 15 Jahren werden auch neurobiologische Auswirkungen der Psychotherapie untersucht. Mithilfe z. B. der Positronen-Emissions-Tomografie lässt sich erkennen, dass die Wirkung psychotherapeutischer Intervention in der Intensität derjenigen von Medikamenten durchaus ähnelt – allerdings ohne die medikamentenspezifischen Nebenwirkungen! Tomografiestudien bei Depressionskranken (mit geschrumpftem Hippocampus und gehemmtem cingulärem Kortex) haben gezeigt, dass sich mit Überwindung der Depression im Verlauf einer Psychotherapie das Gehirn wieder erholt. Herpertz (2012) fasst zahlreiche Ergebnisse zu hirnphysiologischen Therapieauswirkungen bei PTSD, Panikstörungen, Sozialphobien und Spinnenphobie zusammen: In der Regel gibt es signifikant verringerte Aktivierungen im parahippocampalen und im dorsolateralen präfrontalen Kortex; sowohl die Durchblutung als auch die neuronale Aktivierung verändern sich im Sinne einer Normalisierung der Hirnaktivität. Berger und Caspar (2011) konnten nachweisen, dass unterschiedliche Therapiekonzepte in der Behandlung von Angststörungen (zum Beispiel Aufbau einer Angsthemmung versus Habituation) auch mit unterschiedlichen neuronalen Effekten verbunden waren.

Ob die Konsequenzen aus dem neurobiologischen Wissensstand sein sollten, dass «neurobiologische Marker das Ansprechen auf eine spezifische Therapie vorhersagen» und Therapeuten «im Behandlungsverlauf Rückmeldungen über beobachtbare Hirnaktivitäten erhalten könnten», wie es von Herpertz (2012 S. 53) skizziert wird, darüber lässt sich trefflich streiten. Gerade in der Therapie wäre der Wert solcher Marker sicherlich nur dort von Bedeutung, wo Patienten verbal kaum eine Auskunft geben können und über kein valides mimisches Ausdrucksverhalten verfügen, so zum Beispiel im Bereich schwerer neurologischer Erkrankungen oder bei schweren psychotischen oder autistischen Störungen. Für die Psychotherapie ist der Wert daher eher in der Forschung zu sehen, insofern als fundamentale psychologische Begrifflichkeiten auf ihre neurobiologische Plausibilität hin geprüft werden können und sich so für die Begründung von therapeutischem Handeln besser eignen.

Fazit: Aus den biologischen Grundlagen ergibt sich eine Hierarchie psychischer Strukturen mit einer Dominanz grundlegender Bedürfnisse und einem Primat präkognitiver Prozesse (Erregung, Aufmerksamkeit, primäre Emotionen) vor den Prozessen der kognitiven Verarbeitung (mit sekundären Emotionen) und einer Rückwirkung der kognitiven Verarbeitung auf die primären emotionalen Prozesse, wenn diese aktiviert werden! Sie zeigen die Bedeutung emotionaler Erfahrungen und Erinnerungen auf, die sich nicht löschen lassen. Neurochemisch erweist sich, dass grundlegende Erfahrungen ständig (unbewusst) präsent sind und die im Alltagsverstand sinnvolle Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit dadurch an Bedeutung verliert. Gerade bei starken emotionalen Erfahrungen gilt, dass Gegenwärtiges und Erinnertes miteinander verschmelzen und im ungünstigen Fall negative Erfahrungen perpetuieren («Gefängnis der erinnerten Gegenwart»). Und es erweist sich, dass Psychotherapie mit spezifischen Veränderungen der Hirnstrukturen und des Körpers verbunden ist, jedenfalls dann, wenn neue emotionale Erfahrungen gemacht werden. Die subtilste Analyse neuronaler Vorgänge sagt jedoch absolut nichts aus über die subjektive Seite der menschlichen Erfahrung. Diese Seite erschließt sich nur im Gespräch. Aber: Wirksame Psychotherapie ist immer auch Neurotherapie und Körpertherapie und sogar Gentherapie, wenn man an die Forschung zur Genexpression von Kandel denkt. Die Neurobiologie erweist sich insgesamt als wichtige schulenübergreifende Brücke und kann den konzeptuellen Abstand zwischen einer modernen Verhaltenstherapie, einer modernen Psychoanalyse und einer modernen Gesprächstherapie verringern.

Konsequenzen für die Praxis

Psychobiologisch haben Gefühle einen größeren Einfluss auf das Denken als umgekehrt. Eine wirksame Therapie setzt an präkognitiven Prozessen an, bezieht kognitive Prozesse ein, hat körperliche und genetische Auswirkungen und knüpft an eine ursprüngliche emotionale Beteiligung des Patienten an. Sie folgt nicht primär einem Trainingskonzept, sondern einer emotionalen Transformation vorhandener Erfahrungen, zumal sich belastende Erfahrungen ohnehin nicht löschen lassen. Die konventionelle Unterscheidung von «Vergangenem» und «Hier und Jetzt» gilt nicht für unverarbeitete und zeitlos abgespeicherte Erfahrungen, die aktuell immer noch starke Emotionen auslösen und den Zugang zur Befriedigung von Grundbedürfnissen erschweren.


Verhaltenstherapie emotionaler Schlüsselerfahrungen

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