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Einleitung: Die Psychotherapie im Würgegriff der Technokraten

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Die Verhaltenstherapie ist ein Kind ihrer Zeit; so wie die klassische Psychoanalyse ein Kind ihrer Zeit war. Die Verhaltenstherapie ist immer dann ein Kind ihrer Zeit, wenn sie im Dienste des Optimierungszwanges bzw. ausschließlich mit dem Ziel des schnellen symptomorientierten Erfolgs eingesetzt wird. Dieser liegt nur scheinbar im Interesse der Patienten und erweitert die Probleme einer symptomorientierten Medizin in die Psychotherapie hinein. Verhaltenstherapie ist so sehr auf symptomorientierte Veränderung angelegt, dass es in der sog. «dritten Welle» einer Korrektur im Hinblick auf eine fundamentale Akzeptanz als Gegengewicht bedurfte und sich Konzepte der Achtsamkeit inzwischen einer großen – nicht unumstrittenen – Beliebtheit erfreuen. Der Optimierungszwang, der auch mit einem Misstrauen in die einfachen Dinge einhergeht, die Menschen wirklich brauchen, und mit einer gnadenlosen Anspruchshaltung (in immer weniger Zeit immer mehr erreichen wollen sowohl als Einzelperson wie als Organisation), ist sowohl Folge als auch Ursache einer falsch verstandenen Beziehung zum Leiden und zum Leben. Leiden steht unserem Anspruch zu funktionieren im Wege. Dass Leiden und auch Angst zum Leben dazugehört und vermutlich der Hauptstimulus ist, um zu reifen und zu wachsen, entzieht sich einer Sichtweise, die uns Leiden immer nur als dysfunktional vorspiegeln will. An negativen Erfahrungen kann man langfristig möglicherweise mehr Selbstbewusstsein entwickeln als unter einer Käseglocke des Positiven und der schnellen Lösungsorientierung. Die radikale Ökonomisierung und die Anwendung eines industriellen Qualitätsbegriffs auf soziale Dienstleistungen ist selbst auch ein Missverständnis von nachhaltiger Ökonomie: Nicht das kurzfristig Billigere schont die Kassen der Solidargemeinschaft – aus denen die Psychotherapie finanziert wird –, sondern das langfristig Nachhaltige und Wirksame. Wir arbeiten nicht in einem Sektor der finanziellen Wertschöpfung, sondern in der Schadensbegrenzung. Das Ergebnis einer großen kalifornischen Versicherungsstudie (ACE-Studie, Kap. 3.2.6) war, dass 20 Prozent des 25-Milliarden-Dollar-Etats eingespart werden können, wenn die langfristigen emotionalen Stressursachen aus den ersten 18 Lebensjahren in ihren Auswirkungen auf die aktuelle gesundheitliche Situation systematisch berücksichtigt werden! Nach einer professionellen Behandlung liegen die Einsparungen sogar noch höher! Dies bedeutet: Eine nachhaltige Medizin ist die preiswertere Medizin. Daraus müsste eigentlich die Konsequenz erwachsen, die sprechende Medizin erheblich aufzuwerten. Warum werden trotzdem keine Konsequenzen aus solchen Studien gezogen? Nach Meinung des Leiters der ACE-Studie Dr. Felitti vor allem deshalb, weil Verwaltungschefs lieber den «Tanker auf gewohntem Kurs halten», als Strukturreformen durchzuführen, und weil Ärzte – vor allem die vorwiegend apparativ arbeitenden Topverdiener – sich nur bedingt dafür begeistern lassen, das Ziel einer Reduktion von Arztbesuchen, Rezeptverschreibungen und stationären Aufenthalten zu unterstützen. So bleibt die notwendige Wende von der apparativen zur sprechenden Medizin und vom symptombezogenen Gespräch zum Gespräch über emotionale Stressursachen aus.

Yalom (2002) schreibt in seinem Vorwort an die Gemeinschaft der Therapeuten von morgen: «Ich sorge mich um die Psychotherapie – um ihre Deformierung durch ökonomische Zwänge und um ihre Verarmung durch radikal gekürzte Ausbildungsprogramme.» Diese Sorge ist absolut berechtigt, da es in den aktuellen Ausbildungen ein Übergewicht theoretischer Wissensvermittlung zulasten von Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungskompetenz gibt (Kap. 8). Die sog. «ökonomischen Zwänge» haben auch Einfluss auf die Wissenschaft (Kap. 1.7) und die Versorgung, auch wenn Patienten im Vergleich zu amerikanischen Verhältnissen der Gesundheitspolitik hier wesentlich besser – aber lange noch nicht gut – versorgt sind! Der Vorstand des Bundesverbands der (in der Patientenversorgung tätigen) Vertragspsychotherapeuten hält in einer Pressemitteilung September 2013 fest: «Die Tendenz, das Gesundheitswesen zu industrialisieren, beraubt es seiner eigenen Identität und der Verpflichtung auf das Wohl des Patienten. Der Zwang zu immer mehr Gewinnorientierung und zur Standardisierung aller therapeutischen Prozesse führt zunehmend zu einer Ausrichtung an kurzfristig kostengünstig oder profitabler erscheinenden Vorgehensweisen.» Ökonomische Kriterien (Effekt, Effizienz) sind zwar zu wichtigen Leitplanken der Interventionsforschung geworden, aber sie wurden überinterpretiert und zum Maßstab für das inhaltliche Verständnis von psychotherapeutischen Prozessen! Damit macht man nicht nur die Patienten zum Objekt, sondern auch die Therapeuten. Und eine Wissenschaft, die hier distanzlos mitspielt, verdient Kritik und eine Neubewertung ihres Begründungscharakters für therapeutisches Handeln.

Für die Entwicklung der Psychotherapie gilt, dass die Verhaltenstherapie eine wesentliche Lücke geschlossen hat, die die vormals beherrschende Psychoanalyse mit ihrer hermeneutisch fundierten Deutungspraxis und dem Übertragungskonzept durch Ausschluss aller nicht diesem Paradigma folgenden Wissenschaftler und Kliniker gelassen hat. Damit wurde die klassische Psychoanalyse, die die heutige Psychotherapie begründet und ermöglicht hat, einerseits nicht verwässert, andererseits aber auch lange nicht durch weiterführende Interventionsmethoden bereichert. Die Verhaltenstherapie hat diese Lücke mit einer naturwissenschaftlich fundierten Herangehensweise zunächst geschlossen und hat einen aktiven Interventionsreichtum hervorgebracht, der über die reine Beziehungserfahrung zwischen Therapeut und Patient hinausgeht. So ermöglicht die Verhaltenstherapie gezielte Erfahrungen, die allein innerhalb des therapeutischen Gesprächs nicht möglich wären. Diese ergänzenden Methoden werden aber inzwischen oft überbetont zu einer technischen Sichtweise von Psychotherapie! Wenn heute von einer «individuellen Anwendung der Behandlungsmethoden» oder gar von einem «Recht des Patienten auf die wirksamsten Methoden» gesprochen wird, dann wird real die Methode über den Patienten gestellt und der Prozess auf die Anwendung von Interventionsmethoden reduziert. Dies ist die missverstandene Anwendung einer standardisierten Interventionsforschung, deren Manualisierung zur Vorlage für ein technokratisches Verständnis von Psychotherapie wurde. Insofern haben wir seit 30 Jahren neben den Fortschritten auch Fehlentwicklungen zu beklagen; dazu gehören die Symptomfixierung und eine Verarmung der ätiologischen Analyse, der kognitive Reduktionismus (Kognitionen als Ursache und Interventionsziel) und ein reduziertes Interventionsverständnis (Reduktion auf evidenzbasierte Medizin).

Als Psychotherapeut, der seit knapp 30 Jahren täglich mit Patienten und Ausbildungsteilnehmern arbeitet, habe ich viele wissenschaftlich evaluierte Methoden und Verfahren erlernt und erprobt und habe aus allen diesen Vorgehensweisen letztendlich immer das herausdestilliert, womit ich meine Patienten am besten erreiche. Ich musste lernen, dass Patienten nur dann etwas von ihrer Therapie haben, wenn ich in der Methode flexibel bin und mich in der Begegnung und Gesprächsführung bedingungslos auf die echten Bedürfnisse, Erfahrungen und Erlebnisweisen des Patienten einstelle, ohne mich selbst zum Objekt einer verzerrten Sichtweise zu machen oder den Patienten zum Kunden, der immer schon weiß, was er braucht. Das führte auch zu einer Rückbesinnung auf die Bedeutung des makroanalytischen Fallkonzeptes als entscheidende Grundlage für das ätiologische Verständnis des Patienten und zu einer neuen Sicht auf die fundamentale Bedeutung der Gesprächsführung für das therapeutische Handeln.

Nun zum Kernanliegen dieses Buches: Es soll eine nicht-reduktionistische transdiagnostische Behandlungsstrategie beschrieben werden, die eine Bewältigung emotionaler Belastungen zum Kern der Behandlung macht. Diese Behandlungsstrategie wurde in den letzten 15 Jahren entwickelt und wird sowohl von Therapeuten in Ausbildung als auch von Patienten als transparent und nachvollziehbar angenommen und kann mit entsprechender Unterstützung im Kontext einer umfassenden Psychotherapieausbildung und in der ambulanten Psychotherapie gut angewendet werden.

Therapeuten haben inzwischen oftmals das Problem, dass sie sich dazu gezwungen sehen, ausschließlich (!) die evidenzbasierten Therapieempfehlungen umzusetzen. Ähnliche Zwänge beobachtet auch Schultz-Venrath (2013) in psychoanalytischen Ausbildungen, in denen Ausbildungskandidaten häufig damit beschäftigt sind, «richtige» Deutungen abzugeben und möglichst «analytisch» auf ihren Kontrollanalytiker zu wirken, und damit ihrem Schuldenken erliegen. Zwänge erleben auch professionell arbeitende Therapeuten in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft und zu Gutachtern, wenn sie komplexere Therapiepläne zur Erreichung der Ziele benötigen und trotz erfolgreich verlaufender Therapien auf evidenzbasierte Interventionen eingeschränkt werden sollen. Dabei wird gerne übersehen, dass die meisten evidenzbasierten Effektstudien lediglich störungsspezifische kurzzeitige Interventionen beinhalten, die mit der Behandlungsrealität komplexerer Problem- und Zielstrukturen der Patienten nicht viel zu tun haben und deren Hauptziel die Entwicklung wirksamer Einzelmethoden ist. Evidenzbasierung kann zu völlig unterschiedlichen Schlüssen je nach Forschungskontext führen (!) und ist ein wichtiger Teilaspekt, der aber die Erarbeitung von übergeordneten und transdiagnostischen Modellen für die Entstehung von Störungen und die Wirkungsweise von Psychotherapie nicht ersetzen kann. Bastine (2012) fordert die Berücksichtigung weiterer Aspekte, die in der störungsfixierten Betrachtung zu kurz kommen: Einbeziehung der äußeren Lebensrealität des Patienten, der therapeutischen Beziehung, Selbstwert, Identität, Emotionsregulation, Ressourcen, unverarbeiteter Lebensereignisse und übergeordneter Lebensthemen. Kein Therapeut, der täglich Verantwortung gegenüber Patienten trägt, kann sich diesen Aspekten entziehen. Symptombehandlung reicht nicht.

Die hier dargestellte emotionale Behandlungsstrategie erfordert einen differenzierteren Blick auf den Patienten und auf die eigene Gesprächsführung. Sie fordert von uns den Umgang mit tiefen Emotionen, das Ernstnehmen zuweilen hässlicher und verstörender – zumindest aber sehr belastender – Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit langfristigen und alltäglichen Herausforderungen. Es geht um die Fokussierung der Analyse auf zentrale emotionale Schlüsselerfahrungen als störungsübergreifender «roter Faden». Es kommen die Methoden zum Einsatz, die sich für eine Bearbeitung emotionaler Erfahrungen am besten eignen (Imaginationsverfahren, Beziehungsgestaltung und eine emotionsverarbeitende Gesprächsführung). In diese Behandlungsstrategie lassen sich störungsspezifische Behandlungsverfahren gut integrieren. Die emotionale Behandlungsstrategie ist das transdiagnostische Fundament – Grawe würde vielleicht sagen: das allgemeine Fundament –, auf dem andere störungsspezifische Interventionen zum Einsatz kommen. Diese Behandlungsstrategie definiert den Patienten nicht von seiner ICD-Symptomatik her, sondern die symptomatische Störung aus den unverarbeiteten primären Vorerfahrungen, der persönlichen Entwicklung und den aktuellen Herausforderungen des Patienten!

Eine Nachverarbeitung emotionaler Schlüsselerfahrungen kann weder durch eine reine Analyse geschehen noch durch ein Verhaltenstraining oder Gedankentraining, sondern nur durch ein Ernstnehmen emotionaler Erfahrungen und eine daran angepasste Behandlungsmethode. Das Trainingsparadigma selbst steht zur Disposition und sollte angesichts der aktuellen Befundlage zurückstehen hinter einem Verständnis für Transformation und Selbstentwicklung.

Auch auf andere aktuelle Modelle der Psychotherapie (Psychoanalyse, Emotionsfokussierte Therapie, Schematherapie) und die Entwicklungen innerhalb der Verhaltenstherapie soll Bezug genommen werden. Es geht nach über 100 Jahren Psychotherapieforschung nicht darum, immer wieder etwas Neues zu entwickeln, sondern das Bewährte in allen psychotherapeutischen Bereichen auf dem aktuellen Stand neu zu verknüpfen und zu verdichten. Dazu brauchen wir auch ein Wissenschaftsverständnis, das sich den Blick über den Tellerrand der eigenen Community zum Leitbild macht und die übergeordnete Begründung wieder genauso wichtig nimmt wie die Bewährung einer einzelnen Methode.

Deutlich wird in dieser Behandlungsstrategie aber auch: Die beste und präziseste Darstellung eines Vorgehens ersetzt keine Selbsterfahrung; denn letztendlich liegen in der Persönlichkeit des Therapeuten und ihren Einflüssen auf die Gesprächsführung die Fallstricke der Vermeidung oder die blinden Flecken, die eine wirkungsvolle Therapie und Nachbearbeitung emotionaler Erfahrungen des Patienten beeinträchtigen können. Der implizite reflexhafte Modus und der explizite kognitive Modus können sich gegenseitig behindern. Dies scheint auch mit ein Grund dafür zu sein, dass reduktionistische Methodenanwendung leichter zu einer Flut von Evidenzen in der Bewährung führt als die Anwendung komplexer individueller Strategien. Die Persönlichkeit und der Entwicklungsstand des Therapeuten spielt zudem möglicherweise eine noch größere Rolle für den Patienten als das therapeutische Verfahren. Trotzdem ist auch die Einzelselbsterfahrung in einer technokratischen Sicht auf Psychotherapie unter die Räder gekommen. Die Strategie der Bearbeitung emotionaler Schlüsselerfahrungen lässt sich hingegen auch mit großem Gewinn in der Selbsterfahrung anwenden. Diese Publikation soll hierzu ebenfalls einen konzeptuellen Vorschlag für die Arbeitsweise in der Einzelselbsterfahrung unterbreiten. Die hier beschriebene Strategie führt nicht nur zur persönlichen Weiterentwicklung und emotionalen Entlastung von Therapeuten in oder nach der Ausbildung, sondern auch zu einem vertieften Verständnis für die Möglichkeiten und zu Folgerungen für die eigene therapeutische Arbeit.

Mit dieser Publikation soll vor allem jenen geholfen werden, die bereit sind, an ihrem Gesprächsverhalten, am Verständnis für den Patienten, an der Güte ihrer Fallkonzeptionen und an ihrer eigenen Persönlichkeit zu arbeiten, ohne sich von vereinfachenden – und in der Regel ökonomisch motivierten – Konzepten und dem Bedürfnis nach schneller Sicherheit in die Irre führen zu lassen. Wer den Patienten das gibt, was sie wirklich brauchen, erlebt nicht nur einen Quantensprung therapeutischer Wirksamkeit, sondern auch ein höheres Maß an Arbeitszufriedenheit.

Verhaltenstherapie emotionaler Schlüsselerfahrungen

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