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2. Grundlagenforschung
2.4 Kognitionspsychologie
ОглавлениеIn der kognitiven Grundlagenforschung (Dörner 1989) kommt man zunehmend dahin, dass Stimmungsfaktoren die kognitive Verarbeitung maßgeblich steuern und komplexe Entscheidungen sehr viel häufiger «vom Bauch her» getroffen werden als von einer komplexen kognitiven Bewertung aller Pro und Kontra.
Die Kognitionsforschung hat in den letzten 30 Jahren diverse Wandlungen durchlaufen. Ausgehend vom noch eher hermeneutisch formulierten Begriff des «Bewusstseinsstroms» haben die kognitiven Theorien der ersten Generation eher die Computermetaphorik der «Informationsverarbeitung» verwendet mit starker Gewichtung der Inhalte kognitiver Prozesse; zu dieser Generation gehört auch die Theorie A. T. Becks. Die Theorien der zweiten Generation haben körperliche und interpersonelle Handlungskontexte einbezogen (Stichworte: embodiment, enactment etc.) und damit der Tatsache Rechnung getragen, dass kognitive Prozesse nicht isoliert inhaltlich-digital ablaufen, sondern körperlich wie sozial eingebundene Verarbeitungsprozesse sind, die zum großen Teil auch impliziten Charakter haben können und kontextuell verstanden werden sollten.
In die Theorien der dritten Generation fließt die Tatsache ein, dass kognitive Prozesse im Kontext einer Selbstentwicklung und im Kontext prägender emotionaler Beziehungen und Vorerfahrungen stehen, die das Bewusstsein für den Subjektcharakter anderer Personen und die Entstehung eines metakognitiven Selbstbewusstseins zum Ziel haben. Dabei werden emotionale, körperliche und soziale Prozesse integriert in ein Verständnis der Entstehung von Subjektivität. Das Mentalisierungsmodell kann als Theorie der dritten Generation aufgefasst werden (s. Kap. 6.2).
Bereits im Kapitel über Gedächtnispsychologie wurden zwei grundlegende Gedächtnissysteme vorgestellt. Dies zieht die Frage nach sich, ob es entwicklungsgeschichtlich überhaupt von Vorteil ist, über zwei relativ getrennte Systeme zu verfügen. Bereits 1969 konstatierte Levy mit der Cognitive-Crowding-Hypothese (Roediger 2009 S. 30), dass unabhängige Speichersysteme die Komplexität und Variabilität der Überlebensfähigkeit vergrößern.
Dies wurde in den letzten 40 Jahren bestätigt: Eine der erfolgreichsten und weltweit beachteten Veröffentlichungen eines kognitiven Psychologen sind die Forschungsergebnisse von Daniel Kahneman – einem Nobelpreisträger für Wirtschaft im Bereich Verhaltensökonomie. Er leitet in seiner Publikation Schnelles Denken, langsames Denken (2011) aus einer Vielzahl von Experimenten zu Urteilsprozessen über einen Zeitraum von ca. 30 Jahren zwei übergeordnete und im Menschen angelegte Beurteilungssysteme ab. Diese passen mehr oder weniger gut zueinander und ermöglichen vor allem durch ihre strukturelle Verschiedenheit eine hochkomplexe Urteilsbildung. Beide Systeme können sich einerseits hervorragend ergänzen und andererseits zu Fehleinschätzungen führen. Diese Systeme, die auch kompatibel mit der neurobiologischen Grundlagenforschung sind, nennt Kahneman «die zwei Selbste»: »erlebendes Selbst und erinnerndes Selbst» oder «System eins und System zwei». Nach seinen Ergebnissen werden viele Entscheidungen intuitiv aufgrund körperlicher und emotionaler Impulse getroffen, mit allen Chancen und Problemen, die daraus resultieren (System eins bzw. erlebendes Selbst). In einem «Kalte-Hand-Test» entschieden sich Personen bei einer Wiederholung der schmerzhaften Erfahrung mit einer Hand in Eiswasser eher für die längere Zeitdauer mit um 1 Grad ansteigender Temperatur als für die Variante mit kürzerer Zeitdauer und konstanter Temperatur. Intuitiv wird die Option ausgewählt, die man am besten in Erinnerung hat. Das erinnernde (denkende und narrative) Selbst ignoriert die Zeitdauer eines Leidenszustands und bewertet ganze Lebensabschnitte nach dem Endergebnis.
Die Bewertungen kompletter Biografien anderer Personen weichen erheblich voneinander ab, je nachdem, ob neben 30 glücklichen Jahren auch fünf weniger glückliche Jahre beschrieben werden oder nicht. Und die Bewertung der eigenen Lebenszufriedenheit hängt erheblich davon ab, ob man kurz vorher ein Geldstück gefunden hat oder nicht.
In einem weiteren Experiment wurden die Reaktionen von Personen auf das Angebot einer Flugversicherung verglichen, die einmal den «Tod aus irgendeinem Grund» versicherte und in einer zweiten Variante den «Tod durch Terrorismus». Die meisten Leute entschieden sich für die zweite Variante, weil sie durch das Wort Terrorismus eine sehr viel größere emotionale Reaktion spürten, obwohl die damit verbundene Sicherheitsleistung einen statistisch gesehen irrelevanten Schutz bietet; sie waren sogar bereit, mehr Geld für die Versicherung gegen Terrorismus auszugeben.
Kahneman folgert: «Wir können nicht darauf vertrauen, dass unsere Präferenzen auch unsere Bedürfnisse widerspiegeln.» Da Individuen sich mehr mit dem erinnernden Selbst identifizieren (dem denkenden linkshemisphärischen Modus entsprechend) als mit dem erlebenden Selbst (dem Körpergedächtnis und rechtshemisphärischen episodischen Gedächtnis entsprechend), unterschätzen sie meistens die Stimmungsabhängigkeit ihrer Einschätzungen und bevorzugen kohärente Erzählungen auch dann, wenn sie mit dem Erleben in der Summe (also auch der realen Zeitdauer der Erfahrungen) nicht übereinstimmen. Das sich erinnernde System 2 sorgt nach Kahneman für die «soziale und persönliche Kompatibilität». Wir sehen uns gerne kohärenter, rationaler, reifer, integrer, als wir sind, also eher so, wie wir uns sehen und präsentieren wollen. Auch Wissenschaftler – so Kahneman – glaubten oft zu sehr an ihre eigene Rationalität und unterschätzten systematisch ihre Impulse aus System 1.
Das erlebende Selbst oder System 1 ist zwar für viele Urteilsfehler verantwortlich, aber auch für viele passende intuitive Entscheidungen. Professionelle Intuition müsse man sich erarbeiten: So würden Schachspieler ihre Intuition über Hunderte und Tausende von Partien entwickeln und seien dann wesentlich effektiver in ihrer Entscheidung als ein digitales System.
Grundsätzlich sollte nach Kahneman aus allen diesen Befunden die Konsequenz erwachsen, «die Rationalität des erinnernden Selbst nicht zu überschätzen».
Er folgert: «Eine Theorie des Wohlbefindens, die die Wünsche von Menschen ignoriert, ist nicht haltbar. Andererseits ist eine Theorie, die ignoriert, was tatsächlich im Leben von Menschen passiert, und die sich ausschließlich auf das konzentriert, was sie über ihr Leben denken, ebenfalls nicht haltbar. Sowohl das erinnernde Selbst als auch das erlebende Selbst müssen berücksichtigt werden.» Rationalität in diesem Sinne bedeute nicht kühle Vernunft oder mangelnde Herzlichkeit, sondern eine «Widerspruchsfreiheit» bzw. Kohärenz zwischen beiden Entscheidungssystemen, die aber in der Regel nicht vorausgesetzt, sondern nur durch mühsame Selbstreflexion verbessert und niemals vollständig beseitigt werden könne. Insofern macht auch nach Kahneman der Begriff der «Irrationalität» keinen Sinn, weil er der fundamentalen Doppelstruktur des Menschen nicht gerecht wird.
Tabelle 5: Die zwei Selbstsysteme (Makroebene)
Dies ist das Ergebnis jahrzehntelanger experimenteller Forschung, das auch im Hinblick auf die Bewertung der «kognitiven Wende» in der Verhaltenstherapie und der starken Fixierung auf Inhalte von Kognitionen von Bedeutung ist (s. hierzu Kap. 5.2).
Beachtet worden sind diese Ergebnisse vor allem im Hinblick auf die Auswirkungen auf Politik und Ökonomie, da sie in Anerkennung der prinzipiellen Freiheit jedes Individuums dazu führen, dass man die Anfälligkeit von in sich selbst inkohärenten bzw. dual strukturierten Individuen anerkennt und ihnen eine primäre gesellschaftliche Schutzbedürftigkeit zuerkennt. Der Politik wird in der Konsequenz die Verantwortung dafür auferlegt, anstatt die Individuen sich selbst und den sogenannten «freien Märkten» zu überlassen. Jeder Bürger solle selbst entscheiden können, wie weit er Schutzstrukturen abbaue und das Maß an Eigenverantwortung erhöhe (libertärer Paternalismus). Der Sachverhalt der primären Schutzbedürftigkeit oder Inkohärenz/ Anfälligkeit wird gut durch den Satz wiedergegeben «Was die Menschen wollen, ist nicht unbedingt, was sie brauchen»; z. B. will man nicht wirklich jeden Monat einen großen Betrag in die Altersvorsorge stecken, aber am Ende braucht man sie. Auf die Psychotherapie übertragen heißt das: Patienten wollen oft eine schnelle Lösung, brauchen aber einen nachhaltigen Zuwachs an Selbstbestimmung und Kohärenz. Der psychotherapeutischen Zunft obliegt die Verantwortung, diese Prozesse angemessen einschätzen zu können, sie praktisch zu ermöglichen, den Raum dafür zu schützen und für angemessene Ausbildungen zu sorgen (auch Ausbildungskandidaten wollen eine billige Ausbildung, brauchen aber eine gute Ausbildung, s. Kap. 8).
Das Basismodell der Dualität von implizit-schneller und explizit-langsamer Urteilsbildung und der strukturellen Anfälligkeit von Individuen führt zu grundlegend anderen Konsequenzen als eine kognitive Theorie der ersten Generation: Während in einem kontextlosen und körperlosen Kognitivismus das Individuum die komplette Verantwortung für eine funktionale und rationale Verarbeitung bekommt («Es ist alles eine Frage des Denkens und der individuellen Verarbeitung.»), ist mit einem dualen Modell die Inkohärenz und Verletzlichkeit in ein Verständnis menschlicher Urteilsbildung integriert. In der Konsequenz wird dem gesellschaftlich-sozialen Kontext die Mitverantwortung dafür auferlegt, soziale Realitäten zu gestalten und geeignete Bedingungen für die Entwicklung von Individualität zu schaffen, damit die Anfälligkeit von Individuen nicht systematisch ausgebeutet oder benutzt wird. Im entwicklungspsychologischen Kontext des Mentalisierungsmodells (Kap. 6.2) würde man von einer «Anerkennung konstitutioneller Verletzlichkeit» in der Entwicklung von Subjektivität sprechen. Wer bisher nicht an einen experimentell begründeten Humanismus glauben konnte, für den ist das Modell von Kahneman der Gegenbeweis. Auch in der Traumatherapie hat die Grundlagenforschung zur Anerkennung dieser Kontextbedingungen geführt (Kap. 3.2.4) und ist der Kern eines Gegenentwurfs zu einem einfachen Kognitivismus, der die Verantwortung für die Verarbeitung emotionaler Erfahrungen nur beim Einzelnen sieht.
Man kann auch einen alltagsnahen Schluss aus den Befunden von Kahneman ziehen: Es ist von großem Vorteil, wenn man denken und auch über die Tatsache reflektieren kann, wie man denkt, aber man sollte deswegen nicht aufhören, zu fühlen und seinen Gefühlen und körperlichen Empfindungen eine Bedeutung zu geben, um zu verstehen, wie man zu gewissen Urteilen und Entscheidungen gekommen ist! Wenn Gefühle unangemessen erscheinen, dann sollte man genügend Spielraum haben, um sich in Konfliktsituationen nach der Herkunft der Gefühle zu befragen. Das erlebende Selbst hat einen viel größeren Einfluss, als das denkende Selbst wahrhaben möchte. Erst die Einbeziehung der erlebten Wirklichkeit in die reflektierte Wirklichkeit führt zu validen Erkenntnissen. Dies berührt auch das philosophische Problem der Willensfreiheit. Habermas konstatiert: «Frei ist nur der überlegte Wille» (2004 S. 874). Anders formuliert: Freiheit gibt es nur im Kontext stimmiger Selbstreflexion und so weit sich eine Person mit den wirklichen Gründen und Motiven ihres Handelns auseinandersetzen kann und zu aufrichtigen Entscheidungen kommt. Den Menschen aber grundsätzlich als rationales oder freies Wesen zu sehen, wird seiner dualen Struktur nicht gerecht: er ist zur Rationalität fähig, aber er entscheidet und handelt meist unterhalb dieser Schwelle. Dies bedeutet aber nicht eine Renaissance der psychoanalytischen Theorie des Unbewussten und der Verdrängung; die duale Struktur menschlicher Urteilsbildung ist eher verträglich mit Konzepten zur inkohärenten und dissoziativen Verarbeitung von Reizen, die – außer bei schweren dissoziativen Verarbeitungsstörungen – in der Regel wesentlich bewusstseinsnäher sind (z. B. Theorie der dualen Repräsentation im Kontext der Traumatherapie, s. Kap. 3.2.1) Emotionale Erfahrungen sind sehr viel stärker auf der visuell-intuitiven Ebene repräsentiert. Dies gilt umso mehr bei unverarbeiteten Erfahrungen. Auch normalpsychologische Lernprozesse sind von sehr viel größerer Nachhaltigkeit, wenn emotionale Bedeutung, intuitiv bildhafte Vorstellungen und kognitiv-semantisches Faktenwissen miteinander verknüpft werden. Die Verknüpfung dieser verschiedenen Ebenen ist der Kern von Kreativität und schöpferischer Intelligenz. Die Überlegenheit und die Anfälligkeit menschlicher Urteilsbildung sind insofern untrennbar miteinander verbunden.
Fazit: Das kognitionspsychologische Modell der ersten Generation (z. B. nach Beck) kann nur eine unzureichende Vorstellung menschlicher Emotions- und Informationsverarbeitung vermitteln. Ein duales Modell anerkennt die innere Verletzlichkeit und Anfälligkeit des Individuums durch eine strukturelle Dualität und Inkohärenz; dieser Anfälligkeit steht aber auch eine hohe Leistungsfähigkeit und Komplexität der Urteilsbildung gegenüber. Für die Psychotherapie bedeutet das: Wenn man diese Dualität nicht durch Rationalität beseitigen kann, dann sollte man mit ihr arbeiten. Dies geschieht zum Beispiel im Kontext eines dualen Prozessmodells der Depressionsbehandlung (s. Kap. 3.1) oder im Kontext der Emotionsfokussierten Therapie (EFT) oder der psychoanalytischen Theorien zur Affektverarbeitung (Mentalisierungsmodell). «Dual» heißt psychotherapeutisch: sowohl bottom-up emotionsaktivierend arbeiten als auch top-down sich der eigenen kognitiven Aktivität bewusst werden und diese mit der erlebten Wirklichkeit in eine größtmögliche Kohärenz bringen.
Konsequenzen für die Praxis
Der becksche Kognitionsbegriff kann als experimentell widerlegt angesehen werden. Ein duales Modell anerkennt den hohen Einfluss präkognitiver Prozesse bereits unter normalpsychologischen Bedingungen. Daher sollte der Kognitionsbegriff differenziert werden. Der Mensch ist auch aus kognitionspsychologischer Sicht dual strukturiert und auf seine primären emotionalen und intuitiven Impulse, die nicht primär einer kognitiven Einschätzung unterliegen, angewiesen. Beide Systeme (implizite, präkognitive Intuition und explizite Kognition) sind fehleranfällig. Diese Anfälligkeit für Fehleinschätzungen ist zugleich mit dem Überlebensvorteil schneller und bei Bedarf komplexer Urteilsbildung verbunden. Ziel auch einer Psychotherapie ist nicht Rationalität, sondern Kohärenz aus Fühlen und Denken.