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2. Grundlagenforschung
2.5 Selbst, Identität, Selbstbild (Modell der vier Selbststrukturen)
ОглавлениеDer Begriff des «Selbst» ist ein zentrales Konstrukt, an dem viele Entwicklungslinien aus der Neurobiologie, Gedächtnispsychologie, Emotionsforschung, Kognitionspsychologie und Entwicklungspsychologie bis hin zur Bindungsforschung und zur Schematheorie zusammenlaufen. Der Neurobiologe Damasio (2004) postuliert angesichts unterscheidbarer Aktivierungszustände neben dem «autobiografischen Selbst» ein «Kernselbst», das jederzeit seine Aufmerksamkeit auf äußere Objekte ausrichten kann und nichts mit dem autobiografischen Selbst als Zwischenprodukt komplexer Verarbeitungen zu tun hat; weiterhin ein «Protoselbst», das basale Informationen über den eigenen Organismus signalisiert; etwa vergleichbar mit der von Roediger (2009) skizzierten ersten Stufe emotionaler Verarbeitung.
Der Begriff des autobiografischen Gedächtnisses beinhaltet eine konsistente Erzählung über die bisherigen bewusst verarbeiteten Erfahrungen in ein Gesamtnarrativ, das man im Ergebnis und in Teilaspekten auch als Identität bezeichnen könnte. Sofern Erfahrungen etwas über die erzählende Person aussagen sollen (Leitfrage: «Was sagen mir meine Erfahrungen über mich selbst?»), bezeichnen sie das Selbstbild der Person nicht als Ergebnis, sondern als Narrativ über prägende Erfahrungen. Die Begriffe Identität und Selbstbild sind weitgehend synonym. Oft wird aber der Begriff Identität mehr im Sinne einer Festlegung durch grundlegende persönliche Entscheidungen verstanden.
Rudolf (2004 S. 77) unterscheidet psychische Identität («Wer bin ich eigentlich?»), körperliche Identität («Wie vertraut ist mir mein Körper?»), sexuelle Identität («Durch wen oder was fühle ich mich angezogen?»), berufliche Identität («Was will ich lernen? Wo sind meine Eignungen?»), soziokulturelle Identität («Wo sehe ich meinen Platz in der Gesellschaft?»), partnerschaftliche Orientierung («Wer passt zu mir?») undWertorientierung («Was ist mir wichtig? Was sind die Maßstäbe meines Handelns?»). Eine klare Identität zu entwickeln, zu haben und zu leben und angesichts neuer Erfahrungen weiterzuentwickeln, gehört zu den Aufgaben des Selbst. Ein funktionierendes oder gesundes Selbst hat weitere Aufgaben: Dazu gehören emotionale Ausgeglichenheit, sozialverträgliche Integration von Impulsen und Bedürfnissen, Schutz eines verfügbaren psychischen Binnenraums, Abgrenzung und Autonomie, realistische Objektwahrnehmung, Empathie, Freundschaften pflegen und Abschied nehmen können (Rudolf 2004 S.69).
Tabelle 6: Das Modell der vier Selbststrukturen (Mikroebene):
Im Vorgriff auf die Unterscheidung von leichten und schweren/strukturellen Persönlichkeitsstörungen kann man ein klares von einem diffusen Selbstbild/Identität unterscheiden. Das Kernmerkmal diffuser Identität ist nach Rudolf Orientierungslosigkeit.
Für die psychotherapeutische Arbeit ist die Unterscheidung verschiedener Selbststrukturen sinnvoll. Im Folgenden (s. Tab. 6) sollen daher die psychobiologischen, gedächtnispsychologischen, emotionstheoretischen und kognitionspsychologischen Erkenntnisse in einem Modell zusammengeführt werden. Das Selbst erweist sich in diesen psychologischen Grundlagendisziplinen als eine in sich mindestens duale und auf der Mikroebene als eine viergliedrige Struktur.
Ein somatischer Verarbeitungsmodus von Emotionen lässt sich beschreiben als eine somatisch-emotionale Aktivierung, die aus unterschiedlichsten Gründen in ihrem emotionalen Anteil nicht wahrgenommen und weiterverarbeitet werden kann. Das beobachtende oder wahrnehmende Selbst kann einerseits durch extreme Aktivierung vollständig nach innen gerichtet und hochgradig selektiv nach außen gerichtet oder vollständig absorbiert sein. Dies gilt, solange die Aufmerksamkeit nicht teilweise auf neue Aspekte des aktuellen Kontextes gelenkt werden kann. Der Aufmerksamkeitslenkung des wahrnehmenden Selbst kommt daher die entscheidende Rolle für jede Form der emotionalen und kognitiven Verarbeitung zu. Das wahrnehmende Selbst repräsentiert gewissermaßen die Freiheit jeder Person, jederzeit ihre Aufmerksamkeit auf neue Aspekte eigener Erfahrungen (auch der eigenen Biografie und Persönlichkeit) lenken zu können und reflektierend das Selbstbild im Hinblick auf seine Kohärenz mit der Realität anpassen zu können. Es ist somit auch die Brücke der Vermittlung zwischen primären Erlebnisaspekten und kognitiven Korrekturen des Selbstbildes.
Das wahrnehmende Selbst steht auch im Zentrum des ACT-Ansatzes (Acceptance-Commitment-Therapie als Teil der sog. 3. Welle der VT) und wird dort in seiner praktischen Bedeutung dargestellt. Emotionale Aktivierung (Stufe 3) und kognitive Verarbeitung (Stufe 4) können wechselseitig nur zu einem persönlichen Wachstumsprozess führen, wenn es im Gespräch gelingt, die Aufmerksamkeit in einer Weise auf körperliche, primäre emotionale Prozesse und sekundäre emotionale und kognitive Prozesse zu lenken, bis eine flexiblere Verarbeitung anstatt einer automatisierten Verarbeitung erfolgt. Dieser Vorgang wird auch als Mentalisierung bezeichnet. Er ist wesentlich komplexer als die Erfassung von kognitiven Interpretationen (2. Welle VT) oder die Unterbrechung von rigiden Verhaltensmustern (1. Welle VT), wenngleich beides Teilaspekte einer gelungenen emotionalen Neuverarbeitung sein können, da die Unterbrechung automatisierter Muster eine wichtige Voraussetzung für eine Neuverarbeitung ist.
Konsequenzen für die Praxis
Man kann in der Funktionsweise des Menschen vier Strukturen unterscheiden, die in der Therapie auch gezielt angesprochen werden können. Zum fühlenden und denkenden Selbstaspekt kommen die körperliche Ebene und die Aufmerksamkeitssteuerung hinzu. Dabei ist Identität ein wichtiger Aspekt der Repräsentanz des eigenen Selbst im denkenden Modus und damit des autobiografischen Selbstbildes. Identität ist prozessual als ständiger Abgleich mit inneren Bildern und auch als Ergebnis der Auseinandersetzung mit sich selbst darstellbar. Letzteres ist Teilaspekt der Persönlichkeit als Ergebnis der bisherigen Entwicklung und Lebensbewältigung. Die Unterscheidung dieser vier Selbststrukturen ermöglicht auch die Annahme eines Kontinuums der Belastungs- und Emotionsverarbeitung:
von der im gesunden Zustand gegebenen grundsätzlichen Anfälligkeit und Verletzbarkeit durch die «strukturelle Heterogenität» über die
1. «Inkohärenz» durch schlecht integrierte und unvollständige Verarbeitung hoher emotionaler Belastungen bis hin zur
2. «Fragmentierung» und Dissoziation durch nicht oder unvollständig verarbeitete lebensbedrohliche Erfahrungen.