Читать книгу Verhaltenstherapie emotionaler Schlüsselerfahrungen - - Страница 38
3. Störungsspezifische Therapieforschung
3.2 Traumaforschung
3.2.6 Traumafolgestörungen und die fundamentale Bedeutung der ACE-Studie
ОглавлениеMit einer Wahrscheinlichkeit von 7,5 Prozent entwickeln Menschen irgendwann im Laufe ihres Lebens einmal eine PTSD (Lebenszeitprävalenz). 50–64 Prozent der Menschen erleben einmal in ihrem Leben ein traumatisches Ereignis gemäß der DSM-IV-Traumakriterien (Kessler et al. 1995). Manche von ihnen bleiben psychopathologisch komplett unauffällig, manche entwickeln Persönlichkeitsakzentuierungen oder -störungen (Achse II), und einige entwickeln klinische organische und psychische Beeinträchtigungen (Achse I und III). Häufige psychische Traumafolgestörungen sind Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Störungen, Suchterkrankungen, ausgeprägte dissoziative Störungen und Psychosen. Die höchste Komorbidität besteht zwischen Borderlinestörungen und sexuellem Missbrauch (88 %, Dulz & Jensen 2011). Es bestehen zahlreiche Zusammenhänge zwischen emotionalem Missbrauch, Vernachlässigung, körperlichen Misshandlungen und unterschiedlichsten späteren Persönlichkeitsstörungen. Eine Spezifität zwischen bestimmten Traumata und späteren psychopathologischen Folgen konnte nicht nachgewiesen werden (Gibb et al. 2001). Auch eine Unterscheidung der Belastung von physischer («realer») Gewalt, emotionaler oder verbaler Gewalt brachte keine Erkenntnis über spezifische spätere Auswirkungen, zumal die verschiedensten Gewaltarten meist in Kombination miteinander auftreten (Dulz & Rönfeldt 2011 S. 293).
Entscheidend ist, dass erheblichen emotionalen Belastungen auch dann eine wichtige ätiologische Bedeutung zukommt, wenn sie nicht unbedingt mit einer spezifischen PTSD-Symptomatik verbunden sind. Und hier genau setzt die ACE-Studie an (ACE=Adverse Childhood Experiences; Felitti et al. 1998), die mit einer retrospektiven Studie begann und bis heute prospektiv fortgeführt wird! Der Ausgangspunkt der weltweit größten Studie dieser Art ist insofern interessant, als nicht etwa eine traumaspezifische und noch nicht einmal eine psychologische Fragestellung am Anfang stand, sondern die generelle und langfristige Untersuchung der Frage, was die bedeutsamsten Ursachen für Morbidität und Mortalität in den Vereinigten Staaten sind! Von der Kaiser’s Permanente Versicherung in Kalifornien wurden 26000 Patienten nach einer medizinischen Untersuchung angeschrieben und unter anderem zu belastenden Kindheitserfahrungen befragt (Durchschnittsalter 54 Jahre, Versicherte der Mittelschicht mit gutem Einkommen); 18175 Patienten (71 %) antworteten. 64 Prozent gaben mindestens eine traumatische Belastung in Kindheit und Jugend an. Die Belastungen waren somit – selbst in einem ökonomisch etablierten Patientenumfeld – wesentlich häufiger, als angenommen worden war. Mit einem Teil dieser Patienten wurde die Studie prospektiv fortgeführt, um statistische Zusammenhänge mit gesundheitsrelevanten Fakten zu ermitteln. Das Ergebnis war von fundamentaler Bedeutung: Es ergaben sich hochgradige langfristige Auswirkungen dieser Belastungsfaktoren auf alle Aspekte gesundheitlicher Beeinträchtigung. Der Hauptbefund: Es bestehen durchgehend direkte Zusammenhänge zwischen der Anzahl früher Belastungsfaktoren und zahlreichen Gesundheitsdaten im Leben der Patienten 40 bis 50 Jahre später (Tab. 12)! In der höchsten Kategorie (mehr als vier ACEs, s. Tab. 11) ergab sich im Durchschnitt sogar eine um 20 Jahre verringerte Lebenserwartung. Belastungsfaktoren in den ersten 18 Lebensjahren waren mit 4–12-fach erhöhtem Risiko in allen relevanten Morbiditätsbereichen und mit deutlich erhöhter Mortalität verbunden!
In der folgenden Tabelle 12 werden die Folgen (potenziell) traumatischer Erfahrungen in der Übersicht dargestellt; eine ausführlichere Darstellung findet sich bei Schickedanz & Plassmann (2011 S. 435–449) und im Internet (www.acestudy.org).
Tabelle 12: Folgen potenziell traumatischer Kindheitserfahrungen (ACE-Studie) (Traumafolgestörungen)
In 78,5 Prozent der Fälle gingen die traumatischen Belastungen von den eigenen Eltern bzw. von der Familie aus und wurden in einer Vielzahl der Fälle auch transgenerational – also bereits über die Großeltern und Eltern an die Kinder – weitergegeben. Schickedanz & Plassmann (2011) ziehen das Fazit: «Dreh- und Angelpunkt von Krankheit und Mortalität sind die erworbenen Fähigkeiten zur Emotionsregulation oder ihr Mangel. Kindliche Traumafolgen heilen nicht von selbst, sind aber in fast jedem Alter in ihrer Auswirkung erkennbar – und in vielen Fällen zu lindern, mit erheblichen Verbesserungen auch der körperlichen Erkrankungsfolgen» (S.448).
Fazit: Es gibt eine systemische und fundamentale Unterschätzung der Häufigkeit und der Folgen früher emotionaler Belastungen/Traumatisierungen, die auch vor medizinischen und psychotherapeutischen Experten nicht haltmacht. Daraus folgt umgekehrt die Notwendigkeit einer systemischen und durchgängigen Berücksichtigung dieser sozial-emotionalen Belastungen in allen medizinischen und psychotherapeutischen Kontexten! Forschungsseitig unterstreichen diese Ergebnisse die Notwendigkeit der Einbeziehung der Entwicklungspsychologie und Entwicklungspathologie in die klinische Psychologie und Psychotherapie.
Konsequenzen für die Praxis
Frühe Belastungsfaktoren spielen bei mindestens 64 % der Allgemeinbevölkerung eine ätiologische Rolle für den Gesundheitszustand und führen ohne Behandlung lebenslang zu einem erhöhten bis massiv erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Die Verarbeitung dieser Belastungen und die Prüfung des Zusammenhanges mit aktuellen emotionalen und gesundheitlichen Belastungen sollten daher immer Bestandteil der Makroanalyse und des Therapieplans sein. Geht man davon aus, dass mehr als die Hälfte der belasteten Personen keine (volle) PTSD-Symptomatik aufweist, dann sollte man die Belastungen ernst nehmen im Hinblick auf die gesundheitlichen Folgen in anderen Bereichen (z. B. bei Schmerzstörungen, Adipositas, koronaren Herzerkrankungen etc.).