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3. Störungsspezifische Therapieforschung
3.2 Traumaforschung
3.2.1 Traumagedächtnis: duale Repräsentation, Dissoziation

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Kirsch, Michael & Lass-Hennemann (2011) geben dazu einen Überblick: Ein Kernsymptom der posttraumatischen Symptomatik – die intrusive Erinnerung – kommt dadurch zustande, dass die primär körperlich, visuell und affektiv abgespeicherten Erinnerungen nicht sprachlich verarbeitet und in einem sensorisch-affektiven Code abgespeichert werden. Sie sind damit nicht innerlich abrufbar, sondern nur durch äußere Reize aktivierbar (SAM = situational accessible memory) und werden nicht in das autobiografische Gedächtnis integriert (VAM = verbally accessible memory) («duale Repräsentationstheorie» Brewin et al. 2010). Mit äußerster Lebhaftigkeit werden visuelle oder körperliche Fragmente immer wieder aktiviert, sind aber vom übrigen Gedächtnis isoliert (dissoziiert) und entziehen sich damit der Verarbeitung, wie dies bereits im Grundlagenkapitel zur Psychobiologie erörtert wurde.

Eine solche fragmentierte Form der Speicherung im Gedächtnis (primäre Dissoziation) ist mit der Erfahrung einer überwältigenden Bedrohung verbunden. Zu einer erweiterten Fragmentierung kann es kommen, wenn ein beobachtendes Selbst sich vom fühlenden und empfindenden Selbst abspaltet (sekundäre Dissoziation). Dies kann als Selbstschutz vor den überwältigenden Gefühlen und Körperempfindungen gesehen werden.

Im langfristigen Verlauf – so der Überblick von Spitzer, Wibisono & Freyberger (2011) – kann es zur Ausprägung verschiedener struktureller Persönlichkeitszustände kommen (traumatisierte und distanzierte Persönlichkeitsanteile) mit der Konsequenz einer gestörten Persönlichkeitsentwicklung wie zum Beispiel der dissoziativen Identitätsstörung (tertiäre Dissoziation, auch als strukturelle Dissoziation bezeichnet). Diese strukturelle Dissoziation besteht in der Regel zwischen einem emotionalen Persönlichkeitsanteil (EP) und einem die Alltagsfunktionen aufrechterhaltenden «anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil (ANP)». Beide Anteile können zur dauerhaften Lebensgewohnheit werden (sekun-däre strukturelle Dissoziation) oder sich weiter aufspalten (tertiäre strukturelle Dissoziation).

Das Konzept der Dissoziation ist nach Bohleber (2007) allerdings «noch nicht wirklich im Mainstream der Psychoanalyse angekommen». Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Mainstream-Psychoanalyse sehr viel stärker auf die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen bezogen ist als auf die Behandlung von traumatischen Erfahrungen und eine gewisse Skepsis gegenüber modernen traumatherapeutischen Behandlungsmethoden besteht (s. Kap. 3.2.4). Zum andern hat dies mit dem freudschen Konzept der Verdrängung zu tun, das bis in die Achtzigerjahre hinein die Psychoanalyse dominierte (Hantke 1999) und das sich in den Ursprüngen der (freudschen) Psychoanalyse gegen das Konzept der Dissoziation von Pierre Janet (1889/1919) durchsetzte. Hantke (2006) schreibt: «Dissoziation ist nicht Verdrängung des Erlebten (Freud), sondern nicht erfolgte Integration (Janet), es ist die nicht vollzogene Verknüpfung unterschiedlicher Informationen durch Aufmerksamkeitslenkung» (S. 121). Die Implikationen sind erheblich: Während das Verdrängungskonzept eine spezifische Theorie des Unbewussten mit einer passiv deutenden therapeutischen Haltung hervorbrachte, legt das Konzept der Dissoziation eine viel bewusstseinsnähere Aktivierung unverarbeiteter Fragmente und Erfahrungen und eine aktivere therapeutische Haltung im Umgang damit nahe. Hantke (2006) spricht von «nicht miteinander vereinbaren Bewusstseinskonzepten» (S. 119). Die moderne Traumaforschung führte zu einer Rückkehr zum janetschen Denkmodell hinsichtlich der Verarbeitung traumatischer und belastender emotionaler Erfahrungen. Janet definierte Dissoziation als «außerhalb des Bewusstseins» stattfindende Verarbeitung und als weder im narrativen Gedächtnis noch im episodischen Gedächtnis verankerte Erfahrung, sondern als «ikonisches Bild» in einem «isolierten Speicher». Damit wird die nicht stattgefundene «raumzeitliche Einordnung» neben der im Trauma erlebten Hilflosigkeit und Beziehungslosigkeit zum zentralen Kriterium der Nichtverarbeitung traumatischer Erfahrung. Auch Fonagy & Target (2003) kommen zu dem Schluss, dass die Mechanismen der traumatischen Verarbeitung «differenzierter reflektiert» und erforscht werden müssten (S. 418).

Die Distanzierung und Isolierung der traumatischen Belastung aus dem autobiografischen Selbst ist ein Schutz vor katastrophaleren Konsequenzen für das Selbst (Schutz vor dem Gefühl einer irreversiblen Beschädigung, einer Selbstfragmentierung oder einer Selbstaufgabe). Dieses Schutzverhalten verhindert gleichzeitig eine nachhaltige Verarbeitung, und die Gedächtnisinhalte kehren intrusiv in Teilen immer wieder ins Alltagsgedächtnis zurück oder führen bei situativer Auslösung zu affektiven Einbrüchen und zu einem Gefühl der Fremdheit oder Brüchigkeit der eigenen Person bzw. einem Bruch in der autobiografischen Lebenslinie (s. hierzu auch das Modell von Horowitz in Kap. 3.5).

Intrusionen haben eine zeitlose «Hier-und-Jetzt-Qualität» (Ehlers & Clark 2000), sind mit einem inneren Aufschrei oder einer Erstarrung verbunden (Horowitz 1993) und führen zu einer ausgeprägten Vermeidung, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen. Je nach Vulnerabilität des Selbst bzw. der Persönlichkeit werden diese traumatischen Erfahrungen mit der Zeit integrierbar oder bleiben isoliert mit nachhaltig negativem Einfluss auf die Selbstsicherheit und den Selbstwert (Power & Dalgleish 1997).

Fazit: Die Forschung zum Traumagedächtnis zeigt einen wesentlichen Aspekt emotionaler Verarbeitung unter Überforderungsbedingungen auf. Die duale und inkohärente Repräsentation sowohl vorsprachlich (primär körperlich und fragmentarisch visuell) abgelegter Erinnerungen als auch unzureichende sprachliche Konstruktion über das Erlebte führt zu den spezifischen PTSD-Symptomen. Belastungen können direkt zu einer inkohärenten bzw. fragmentierten Abspeicherung führen, ohne dass hier Denkprozesse ursächlich beteiligt wären. Denkprozesse haben bei misslingender Verarbeitung eher den Charakter eines distanzierenden Schutzverhaltens, das die Verarbeitung und den Umgang mit der beteiligten Ohnmacht erschwert. Die Forschung zur kurz- und langfristigen Traumaverarbeitung zeigt den Übergang von primär dissoziativer Erlebnisverarbeitung bis zur leichten und schweren Persönlichkeitsstörung auf.

Konsequenzen für die Praxis

Keiner möchte gerne mit Ohnmacht oder der eigenen Verletzlichkeit in Kontakt kommen. Zugleich möchte man gerne angemessen genau in diesem Punkt wahrgenommen werden und mehr Selbstkontrolle über die eigenen Empfindungen und Emotionen haben. Es gibt eine natürliche und verständliche Vermeidung des Patienten, von sich aus ein unverarbeitetes Trauma oder eine belastende Erfahrung zu thematisieren, da zum einen der Zugriff darauf erschwert ist (der Nicht-können-Anteil durch inkohärente Abspeicherung) und zum andern ein ausgeprägtes Schutzverhalten besteht (der Nicht-wollen-Anteil aus Gründen des Selbstwertschutzes), was auch das Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung annehmen kann. Permanent sind visuelle und körperliche Teilaspekte des Traumas oder der Ohnmachtserfahrung aktiviert oder in spezifischen Situationen aktivierbar, ohne dass der Betroffene selbst Zusammenhänge mit vorherigen oder früheren Belastungen herstellen könnte. Die inkohärente Abspeicherung macht den Umgang mit den beteiligten und für den Patienten unverständlichen Emotionen zunächst sehr schwierig. Er ist in der Regel darauf angewiesen, dass die Symptome und Zusammenhänge vom Behandelnden erkannt und in einer fragenden und explorierenden Haltung im Gespräch hergestellt werden. Auch eine nicht pathologisierende Bewertung als «normale Reaktion auf überfordernde oder verletzende Erfahrungen» ist hilfreich. Der Patient erlebt dies in der Regel als entlastend, wenn klare Informationen und Behandlungsperspektiven damit verknüpft werden. Unangemessen wäre jedoch eine Reduktion aller Beeinträchtigungen auf «das Trauma» und eine Fixierung darauf.


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