Читать книгу Verhaltenstherapie emotionaler Schlüsselerfahrungen - - Страница 25

2. Grundlagenforschung
2.6 Entwicklungspsychologie, Selbstentwicklung und Selbstwert

Оглавление

Die Begriffe Selbst, Identität, Persönlichkeit sind eng miteinander verbunden, wenn es um die emotionale, soziale und sexuelle Entwicklung geht. Erikson (1973) unterscheidet demnach acht Phasen, die jeweils durch Krisen eingeleitet werden und die «Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe» zum Ziel haben. Ergänzt wurde dies in der folgenden Übersicht mit der entwicklungspsychologisch bestätigten Annahme vorrangiger Bedürfnisse nach Sullivan (1953) (s. Tab. 7).

Beide Entwicklungsansätze sind kompatibel mit den Ansätzen der Bindungsforschung. Ihnen gemeinsam ist auch eine Relativierung des Triebbegriffs und der biologischen Bedürfnisse zugunsten lebenslang dominierender emotionaler Bedürfnisse.


Tabelle 7: Prototypische Entwicklungsphasen (Erikson, Sullivan)


Kritik an Stufenmodellen der Entwicklung bezieht sich vor allem auf die Tatsache, dass der Mensch durchaus auf verschiedenen inneren Ebenen «funktionieren» kann (siehe hierzu auch den Modus-Begriff in der Schematherapie) und eine persönliche Entwicklung nicht linear verlaufen muss. Deswegen werden in der Entwicklungspsychologie inzwischen engere von weiter gefassten Stufenmodellen unterschieden, die keine zeitlichen Implikationen haben. Trotzdem bieten Entwicklungsmodelle wie das von Erikson (1973) oder Sullivan (1953) eine gute Orientierung, wie man sich Entwicklung und vor allem Entwicklungsaufgaben vorstellen kann. Und sie erlauben es, als übergeordnetes Entwicklungsziel ein kohärentes Selbst zu sehen, das mit der inneren Vielfalt integrierend umgehen kann. Der Ansatz von Erikson ist später auch von Marcia (1993) empirisch operationalisiert worden, weicht aber aktuell einem offeneren Ansatz. Die Entwicklungspsychologie hat sich bis heute den Ansatz von Piaget zu eigen gemacht und weiterentwickelt: Im Rahmen des Zwei-Prozess-Modells der Entwicklungsregulation (Brandtstädter & Rothermund 2002) entwickeln sich Menschen weiter, indem sie sich entweder der Realität anpassen (Akkomodation) oder die Wahrnehmung und Bewertung der Realität und des eigenen Selbstbilds modifizieren (Assimilation). Ersteres wird von der aktuellen Entwicklungspsychologie als «Problemverarbeitung» bezeichnet und Letzteres als «intentionale Selbstentwicklung» mit dem Ziel der Resilienz und Verringerung der Bedrohungen für das Selbstkonzept (Greve & Leipold 2012 S. 575f.). Dadurch wird auch eine duale Sichtweise auf Psychotherapie als Entwicklungsarbeit möglich: Es geht nicht nur um die Bewältigung von Problemen, sondern gerade dann, wenn bestimmte Probleme sich häufen, eher um die Weiterentwicklung der eigenen Wahrnehmung und des eigenen Selbst. Diese Akzente kann man auch im Kontrast zwischen den Schwerpunkten psychoanalytischer Therapie und Verhaltenstherapie wieder entdecken. Greve & Leipold (2012) resümieren: «Entwicklung findet jederzeit statt und ist jederzeit möglich» (S. 577).

Eine an der neurobiologischen Reifung ansetzende Entwicklungstheorie, die zudem mit den Befunden von Damasio und den in der vorhergehenden Tabelle genannten Selbststrukturen und der Theorie der Entwicklung struktureller Fähigkeiten zur Emotionsregulation von Rudolf (2004) kompatibel ist, ist die Theorie von Daniel Stern (1995). Anhand prospektiver (!) Entwicklungsstudien entwickelte er ein Konzept der frühen Reifung: 1. In den ersten zwei Lebensmonaten entwickelt sich das «auftauchende Selbst», in dem der physische Zustand des Organismus in Abhängigkeit von den Umweltinteraktionen in all seinen Dimensionen fortlaufend abgebildet wird. 2. Zwischen dem 3. bis 9. Monat taucht das Empfinden einer Urheberschaft, eines Gewahrseins und eines Wollens auf (Intentionalität) mit ersten Eindrücken einer zeitlichen Kontinuität des Selbst, rudimentären Emotionen ohne Kontrolle und wachsender Wahrnehmung der körperlichen Kohärenz («Kernselbst»). 3. Zwischen dem 9. bis 18. Monat taucht das Teilen der Aufmerksamkeit mit anderen auf; das Kind beginnt den Blick der Mutter gezielt zu beobachten, um zu sehen, wohin die Mutter schaut und wie sie das, was sie sieht, bewertet (Rückversicherung), und es beginnt seine Wünsche durch Gesten zu begleiten; Intentionen und Gefühle können mit anderen geteilt werden; sämtliche Elemente der inneren und äußeren Welt (Objekt, Affektivität, Selbstwert, Sicherheit, Grad der Bedürfnisbefriedigung) werden zu einem Gesamterleben organisiert (subjektives Selbst). Auf dieser Stufe bauen sich auch implizite Erfahrungsprototypen auf, in denen sich das Kind auch mit verzerrten Wahrnehmungen der Bezugsperson identifiziert (verifiziert zum Beispiel an Studien Sterns mit depressiven Müttern). 4. Mit Auftauchen der Sprache entwickelt sich die Möglichkeit zu Aussagen in einer bewussten repräsentationalen Welt (narratives Selbst), die einerseits mit der erlebten Welt diskrepant sein kann, die aber einen Zuwachs an Möglichkeiten der Interaktion und der Selbststeuerung beinhaltet.

Im Folgenden sollen die verschiedenen Begrifflichkeiten von Stern, Damasio und Rudolf der Übersicht halber in einer Tabelle dargestellt werden. (s. Tab. 8)

Für Rudolf (2004) ist das Konzept der strukturellen emotionalen Reifung auch ein wichtiger differenzialdiagnostischer Ansatzpunkt für die Unterscheidung von leichten Persönlichkeitsstörungen (mit gut wahrnehmbaren Konflikten) und schweren Persönlichkeitsstörungen (die ohne Selbstreflexion die Probleme nach außen verlagern und die Objektwelt als Zumutung oder als unerträglich erleben); Letztere haben deutliche Schwierigkeiten mit einer der vier strukturellen Fähigkeiten bzw. konnten diese unter hohen (evtl. traumatischen) Belastungen oder geringer Unterstützung nicht entwickeln.


Tabelle 8: Entwicklungspsychologische und neurobiologische Konzepte


Die Selbstentwicklung orientiert sich also an den interpersonellen Erfahrungen mit der Befriedigung von Bedürfnissen, und das Ausmaß der Befriedigung (Kongruenz) korreliert direkt mit dem Selbstwert. Diese motivationale Sichtweise des Selbstwertes definiert ihn als die jeweilige Einschätzung der eigenen Möglichkeiten zur Befriedigung von Bedürfnissen. Daher ist der Begriff «Selbstwertschätzung» oder einfach «Selbstwert» zutreffender als der Begriff «Selbstwertgefühl» oder die Reduktion des Selbstwerts auf den expliziten kognitiven Anteil (Selbstkonzept). Wird der Selbstwert zu einem separaten Bedürfnis, das möglichst direkt befriedigt werden soll (wie im Begriff der Selbstwerterhöhung), oder zu einer Kognition, die umstrukturiert werden soll, dann bekommt er etwas Manipulierbares oder Kompensatorisches («Jetzt will ich mich als wertvoll ansehen/ mich besser fühlen») von eher kurzem emotionalem Effekt, der schnell wieder unter dem Druck der Gesamtrealität und einer negativen Befriedigungsbilanz zusammenbrechen kann. Im alltäglichen und im klinischen Kontext kann man sehr oft beobachten, dass unzufriedene Menschen mit einem schwachen Selbstwertgefühl sich etwa nicht der Befriedigung zentraler Grundbedürfnisse zuwenden, sondern eher kompensatorisch den Selbstwert erhöhen durch Bestätigung über Geld, Macht, Prestige und eine Erhöhung der Anspruchshaltung («mein Haus, mein Boot, mein toller Körper, meine optimal geförderten und begabten Kinder, meine vielen Freunde»). Diese Ansprüche generieren eher einen permanenten Zwang als echte Befriedigung. Stabiler Selbstwert lässt sich nicht durch Kompensation erlangen, sondern nur durch einen aufrichtigen Umgang mit sich und seiner Geschichte. Dies schließt auch ein Spüren verletzter Bedürfnisse und die wachsende Entschiedenheit ein, sich den erforderlichen Raum für ihre Befriedigung zu geben. Im Umkehrschluss: Jede intensive oder auch unterschwellig dauerhafte Verletzung von Bedürfnissen ist mit einem negativen Einfluss auf den Selbstwert verbunden. Dabei spielt die Identifikation mit den Erfahrungen der Eltern eine große Rolle: Alles, was eine Bezugsperson dazu veranlasst, Zustimmung und Zuwendung zu geben, wird verinnerlicht als «gutes Ich»; alles, was auf Missbilligung stößt oder bei der Bezugsperson Angst auslöst, wird als «schlechtes Ich» organisiert; und alles, was erhebliche Angst beim Gegenüber auslöst und nicht bewusst werden darf, wird organisiert zu einem «Nicht-Ich» bzw. einem «dissoziierten System» (Sullivan 1953 S. 188 f.). Letzteres führt zu kompletter Nichtwahrnehmung, lässt sich parallel zum Konzept der «desorganisierten Bindung» (Bindungstheorie) betrachten und erhöht erheblich die Wahrscheinlichkeit späterer psychischer Störungen (desorganisierte-instabile Bindungen in Verbindung mit einem desintegrierten Selbst führen häufiger zu schweren Störungen). Das «schlechte Ich» erzeugt dagegen Angst und geringe Selbstachtung und ist mit deutlich schlechterer Bedürfnisbefriedigung verbunden.

Rudolph, Schütz und Schröder-Abe (2009 S. 207–226) diskutieren das Konzept des Selbstwerts und konstatieren einen bedeutsamen Anteil der Selbstwertschätzung an zahlreichen Störungen (vor allem Depressionen und Persönlichkeitsstörungen). Passend zur Differenzierung in ein erlebendes Selbst und ein autobiografisches Selbst unterscheiden sie eine implizite von einer expliziten Selbstwertschätzung, die oft miteinander nur gering korrelieren! Im Falle einer gezielten Erhöhung des expliziten Selbstwerts könne es bei Fortbestehen eines geringen impliziten Selbstwerts zu einer Selbstwertdiskrepanz und einem instabilen Selbstwert kommen (S. 223). Die Strategie des gezielten Aufbaus eines positiven expliziten Selbstwerts wird kurzfristig als stabilisierend wahrgenommen; sie entspricht aber mittelfristig einer kompensatorischen Pseudobewältigung emotionaler Verletzungen und führt zu erhöhter Selbstwertdiskrepanz, die mit weiteren Problemen der Emotions- und Selbstwertregulation einhergeht. In gesteigertem Maße trifft dies zum Beispiel auf narzistisch gestörte Menschen zu. In Therapien lassen sich diese Menschen als Personen mit einem erheblich verletzten impliziten Selbstwert und einer geringen Neigung, sich mit den eigenen Verletzungen auseinanderzusetzen und diese durch fassadenhaftes Verhalten und Selbstdarstellung zu überspielen, charakterisieren. Psychotherapeutisch relevant ist daher die Beeinflussung der negativen Einflüsse auf den impliziten Selbstwert. Therapieziel sollte somit generell die Transformation negativer Einflüsse sein und die sich daraus ergebende Kohärenz zwischen implizitem und explizitem Selbstwert (als Authentizität, Aufrichtigkeit oder als gesundes Selbstbewusstsein).

Diese Kohärenz hängt von der Verarbeitung verletzender emotionaler Erfahrungen mit negativem Einfluss auf den Selbstwert ab und von der Fähigkeit, sich den real verletzten Bedürfnissen zuzuwenden und diese zu befriedigen. Im Sinne des motivationalen Selbstwertbegriffs von Grawe kann man einen stabilen oder kohärenten Selbstwert sowohl als Ergebnis einer Schwächung von Vermeidungskomponenten durch Konfrontation mit vermiedenen (verletzenden) Erfahrungen sehen als auch als eigenständiges Bedürfnis. Es ist konzeptuell sinnvoller, von der Erlangung eines stabilen und kohärenten Selbstwerts zu sprechen als von einer Selbstwerterhöhung.

Konsequenzen für die Praxis

Selbstentwicklung dient der Integration einer Vielzahl von Bedürfnissen in die Lebensführung. Die Wahrnehmung der persönlichen Entwicklung einer Person betrifft nicht nur alle früheren Entwicklungsphasen, sondern schließt auch die aktuellen Herausforderungen in der Biografie ein; was ist der anstehende persönliche Entwicklungsschritt? Zentrales Merkmal einer gelingenden Selbstentwicklung ist eine erlebte Kohärenz zwischen implizit gefühltem und explizit wahrgenommenem Selbstwert und die Verbesserung der Befriedigungsbilanz. Die Bearbeitung der Beeinträchtigung des impliziten Selbstwerts durch unverarbeitete Erfahrungen ist dabei der Schlüssel für eine langfristige Verbesserung der Befriedigungsbilanz. Darauf folgen die Beachtung und verstärkte Bemühung um die vernachlässigten bzw. verletzten Bedürfnisse und der Abbau der Befriedigung als kompensatorisch erkannter Scheinbedürfnisse.


Verhaltenstherapie emotionaler Schlüsselerfahrungen

Подняться наверх