Читать книгу Verhaltenstherapie emotionaler Schlüsselerfahrungen - - Страница 41
3. Störungsspezifische Therapieforschung
3.2 Traumaforschung
3.2.9 Konsequenz: Berücksichtigung emotionaler Schlüsselerfahrungen
ОглавлениеSchaut man sich die Einzelfälle genauer an, in denen ein Trauma diagnostiziert wird ohne Vorliegen einer spezifischen PTSD-Symptomatik, dann geht es entweder um eine «potenziell traumatische Belastung» (auch als «schwerster Stress» im Sinne der ACE-Definition) oder um sich langfristig bis in die Gegenwart wiederholende Erfahrungen von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Demütigung oder Entwertung in Kindheit oder Jugend, die Spuren hinterlassen haben (chronische belastende Erfahrungen). Es handelt sich um Erfahrungen unterhalb der Schwelle traumatischer Belastungen und von dauerhaftem Einfluss, die den Selbstwert beeinträchtigt haben, in der Regel in den ersten 10–20 Lebensjahren begonnen haben – also entwicklungsrelevant sind – und in ihrer Wirkung bis zur Gegenwart anhalten. Hier steht nicht die Schwere der Belastung selbst im Vordergrund, sondern die langfristige Wirksamkeit, die mit emotionalen Beeinträchtigungen, Kompensationsmechanismen der Persönlichkeit und aktuellen Beeinträchtigungen verbunden ist (weiterführende Definition s. Kap. 10.2).
In der Schematherapie (Roediger 2009 S. 53) werden solche verletzenden Erfahrungen beschrieben als Erfahrungen von Vernachlässigung, Verlassenheit, Versagen, Einengung, Verletzbarkeit, Verlust der Selbstkontrolle, Unterordnung, Bestrafung, Ablehnung (s. Tab. 28). Therapeuten, die ihre Patienten ernst nehmen und mitfühlen, anstatt sich mit ihnen zu identifizieren, sind in der Regel bestrebt, die realen biografischen Belastungsfaktoren anzuerkennen und sich nicht ausschließlich auf die persönliche oder symptomatische (z. B. depressive oder psychosomatische) Verarbeitung des Patienten zu konzentrieren. Viele Therapeuten glauben dieses Ernstnehmen dadurch zu untermauern, dass sie schwere oder chronische emotionale Stressbelastungen generell als «traumatisch» bezeichnen. Es scheint daher im Sinne einer präzisen Anwendung des Traumabegriffs geboten zu sein, in Anlehnung an die neue ICD-Kategorie der «Stress response disorders» von chronischen Stressbelastungen mittleren Ausmaßes zu sprechen. Diese Erfahrungen haben für sich genommen keinen Krankheitswert und sind somit auch als Z-Diagnose aufzufassen. Sie können aber auf lange Sicht mit persönlichen und symptomatischen Folgeerscheinungen verbunden sein, sodass sich hier analog zum Begriff der Traumafolgestörung der Begriff der Stressfolgestörung anbietet, wenn später im Leben auftretende Symptombildungen (Depressionen, Schmerzen etc.) auftreten. Diese durchgängige emotionale «Linie» von früheren emotionalen Stresserfahrungen oder traumatischen Erfahrungen bis in aktuelle Belastungssituationen hinein liegt oft nicht von Anfang an offen zutage. Damit ist sie auch in der Mikroanalyse einer aktuellen emotionalen Stresssituation nicht unbedingt sichtbar, weil der Patient in spezifischer Weise blockiert ist, die belastende Erfahrung in ihrer aktuellen Bedeutung wahrzunehmen (emotionaler «wunder Punkt», kognitiver «blinder Fleck»). In phänomenologischer Alltagssprache kann man hier den Begriff der «emotionalen Schlüsselerfahrung» verwenden.
Daher hat die Makroanalyse und Rekonstruktion solcher primär prägenden Erfahrungen erhebliche Bedeutung für das Verständnis späterer Störungsauslösung und Störungsfunktionalität. Persönliche und symptomatische Muster werden, wie bereits im Kapitel zur Persönlichkeitsentwicklung deutlich wurde, häufig unter dem emotionalen Druck ausgebildet, sich vor einer Wiederholung verletzender Erfahrungen zu schützen. Aufgrund der spezifischen biologisch bedingten Blockade der Erinnerungsfähigkeit unter schwerem oder chronischem Stress erkennen Betroffene oft kaum die langfristigen Zusammenhänge. Im Gegensatz zur Annahme eines «Wunsches, Opfer zu sein» im Kontext schwerer Persönlichkeitsstörungen ist statistisch gesehen die Unterschätzung der Bedeutung emotionaler Belastungen in Kindheit und Jugend viel relevanter. Auf diesem Hintergrund erhält auch das Verständnis für die Funktionalität der Störung(en) wieder eine neue Bedeutung, welches im Zuge der evidenzbasierten Störungstheorien abhandengekommen ist (Kap. 5).
Konsequenzen für die Praxis
Primäre emotionale Belastungen können neben einer ausgeprägten PTSD («traumatisch») auch «potenziell traumatisch» sein oder sich ständig wiederholende hohe emotionale Belastungen («Schlüsselerfahrungen»). Die Auswirkung dieser Belastungen kann kurzfristig und im Falle misslingender Verarbeitung auch langfristig sein. Daher sollte man viele Störungen in ihrer langfristigen Genese betrachten und primär im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Emotionsregulation als Traumafolgestörung oder auch als langfristige, chronische oder akute Stressfolgestörung beschreiben.