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2. Grundlagenforschung
2.7 Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung
2.7.3 Die zwei Bilder des Erwachsenseins
ОглавлениеIn einer – im Vergleich zu Erikson – verkürzten entwicklungspsychologischen Betrachtung der Persönlichkeit kann man in Anlehnung an Millon folgende Phasen unterscheiden: 1. frühe Kindheit, 2. späte Kindheit, 3. Jugend und 4. erwachsenes reflektierendes Selbst. Auf diesem Hintergrund lässt sich eine entwicklungspathologische Betrachtungsweise gliedern (Resch 2012). (s. Tab.10a)
Man könnte die vier Stufen auch so formulieren: Am Anfang steht das Eingebundensein in die Elternbeziehung. Dort werden fundamentale Affektregulationen gelernt. Je passender das Erkennen der Bedürfnisse durch die Bezugsperson ist, desto schneller regulieren sich unangenehme Affekte auf einer körpernahen Ebene. Auf der zweiten Stufe lernen Kinder, selbst mit ihren Emotionen umzugehen und Zusammenhänge zwischen Emotionen und Bedürfnissen zu erkennen. In dieser Phase reift das emotionale System als «körpernahes Entscheidungssystem, welches nach innen Dringlichkeit signalisiert und Handlungsmuster in Gang setzt, während es nach außen die Grundlage für eine Ausdrucksmatrix bildet, die die zwischenmenschliche Interaktion ermöglicht» (Resch 2012). Dieses Emotionssystem «besitzt eine außerordentliche Bedeutung für die Entwicklung des kindlichen Selbst» (Resch & Freyberger 2009). Der für diese Entwicklung erforderliche gelingende emotionale Dialog kann beeinträchtigt werden durch «Überforderungen» der Bezugspersonen, die für Austausch mental nicht zur Verfügung stehen, und durch «Fehlwahrnehmungen» der Bezugspersonen, die Signale auf dem Hintergrund eigener unverarbeiteter Erfahrungen interpretieren und somit Beziehungsstörungen weitergeben können. Ein wichtiger Aspekt in diesem Modell ist auch die Konzeption von kindlichen oder jugendlichen «Risikoverhaltensweisen», die die spätere Ausprägung von klinischen Störungen begünstigen (Kap. 3.2.6). Im Hinblick auf die psychosomatische Stressforschung kann man das Konzept der Risikoverhaltensweisen auch fortführen bei Erwachsenen. Störungen begünstigende Risikoverhaltensweisen sind in Tabelle 10b dargestellt.
Insgesamt sollte man den Blick auf die Entwicklungsperspektive nicht auf Traumata oder belastende Life Events verkürzen, sondern den Prozess der Aneignung von Emotionsregulation in den Rahmen konkreter Bindungserfahrungen stellen!
Die Persönlichkeitsentwicklung kann im Rahmen einer salutogenetischen Sichtweise als produktive Aneignung von Bewältigungsmustern im Umgang mit emotional belastenden Erfahrungen verstanden werden. Die gesunde unauffällige Persönlichkeit bewältigt oder kompensiert in der Regel produktiv die Entwicklungsaufgaben trotz emotionaler Belastungen, auch wenn Kompensationen durchaus mit inneren Spannungen auch ohne psychopathologische Symptomatik einhergehen (Inkohärenz einer Persönlichkeit).
Tabelle 10a: Entwicklungspathologisches Stufenmodell nach Resch (2012)
Stadium 1 | Dispositionen aus genetischen und somatischen Bereitschaften und einem psychosozialen Interaktionsraum treffen auf Risikofaktoren, protektive Faktoren und gegebenenfalls traumatische Einflüsse.
Stadium 2 | Es werden emotionale Steuerungsfähigkeiten aufgebaut und Entwicklungsaufgaben bewältigt, in denen die adaptiven Fähigkeiten des Kindes heranreifen. Hier können Probleme der Untersteuerung (Agieren) oder Übersteuerung (Hemmung) auftreten.
Stadium 3 | Anpassungskrisen und Risikoverhaltensweisen treten schon im Kindesalter, aber häufiger noch im Jugendalter auf (auffälliges Essverhalten, Drogenkonsum, Depressivität). Risikoverhaltensweisen stärken kurzfristig das Selbst (durch Rückzug/Schutz oder Selbstwerterhöhung) und schwächen es langfristig, weil die anstehenden Entwicklungsaufgaben suboptimal oder nicht bewältigt werden.
Stadium 4 | Klinische Störungen
Tabelle 10b: Risikoverhaltensweisen bei Erwachsenen (eine Auswahl*)
* Anmerkung: 30 Risikoverhaltensweisen werden im ISR angeführt (s. Hinweis im Anhang).
In diesem Zusammenhang lassen sich auch zwei Modelle des Erwachsenseins voneinander unterscheiden. In einem rationalistischen Bild des Erwachsenen würde man die kognitive Selbststeuerung und geringe Emotionalität zum Maßstab des reifen Erwachsenen machen (Vernunftideal). In einem eher entwicklungspsychologisch geprägten Bild würde man von einem fühlenden und reflektierenden Erwachsenen sprechen, der mit seinen verschiedenen inneren Anteilen einen bewussten akzeptierenden Umgang pflegen kann in Richtung eines Zuwachses von Souveränität und Gelassenheit. Kennzeichen dieses Ideals ist eher die Lebendigkeit (Vitalität) als die Rationalität. Inkohärenz würde man hier nicht an der Emotionalität festmachen (auch als «Irrationalität» bezeichnet), sondern an der reduzierten Vitalität und geringen Neigung zur Befriedigung zu kurz gekommener Bedürfnisse (als Risikomerkmal auch für Depressionen), vermutlich auch einhergehend mit einem niedrigen impliziten Selbstwert. Hier bedarf es dringend weiterer Forschung zur Erhellung der Zusammenhänge des Selbstwerts, des Ausmaßes primärer Belastungen mit der Persönlichkeitsentwicklung und des Blicks in andere Schulen, die sich mit diesen Zusammenhängen schon seit Langem beschäftigen (Kap. 6), um transdiagnostische Erkenntnisse zur Entwicklung von Störungen zu gewinnen.
Die Entwicklung der Persönlichkeit in späteren Lebensphasen ist vor allem in zwei Perspektiven interessant: 1. in der Versorgungsperspektive im Umgang mit älteren und alten Patienten (Entwicklungsanforderungen im höheren Lebensalter bewältigen), und 2. in der empirischen Fundierung eines Begriffs der «Weisheit», die darin besteht, mit Beschränkungen – manchmal auch Beschädigungen – in einer Weise umzugehen, die sinnstiftend und von der Entwicklung von Wertvorstellungen begleitet ist analog zur Traumaarbeit bzgl. der Bewältigung langfristiger Auswirkungen (Kessler 2014). So kann in jeder – auch noch in der letzten – Lebensphase eine Aneignung eines tiefen impliziten Selbstwerts (innerer Frieden mit sich und anderen) erfolgen, der in einer nachträglichen Verarbeitung unverarbeiteter Belastungen besteht.
Fazit: In Abgrenzung zum Begriff des Selbst als Rahmenkonzept für situative körperliche, emotionale, perzeptive und kognitive Dynamik in Verbindung mit spontanem und reflektiertem Verhalten (fluid states) könnte man eine Persönlichkeit als Summe überdauernder Bewältigungsstile (crystalline traits) bezeichnen, mit denen eine Person Herausforderungen bisher bewältigt hat und mit denen sie ihre Vulnerabilität schützt. Insbesondere das autobiografische Selbst als Summe der bisher verarbeiteten (!) Erfahrungen und die Persönlichkeit sind stark miteinander verbunden. Unterhalb der Schwelle bewusster Selbstreflexion gibt es jedoch Selbstaspekte, die nicht unbedingt im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung integriert wurden (z. B. ein niedriger impliziter Selbstwert verbunden mit Problemen der Emotionsregulation, starken Emotionen und körperlichen Reaktionen unter emotionalem Stress). Persönlichkeitsentwicklung ist ein Prozess, der niemals vollständig abgeschlossen ist und der sich auch an der Frage entscheidet, wie gut die implizit aktivierbaren belastenden Erfahrungen produktiv bewältigt und explizit integriert werden können. Die Entwicklungsperspektive (Kleinkind, Großkind, Jugendlicher, Erwachsener) und vor allem die emotional belastenden Erfahrungen in diesen Phasen sollten nach Möglichkeit in das ätiologische Verständnis einer Erkrankung einbezogen werden.
Praktisch bewährt hat sich die Diagnostik von gesunden Stilen, die sich im ungünstigen Fall zu Störungen entwickeln können. Persönlichkeitsstile sollten immer zum Teil des Gesamtverständnisses des Patienten gemacht werden, auch wenn sie nicht den Grad einer Störung erreichen. Betrachtet man die gemeinsame Ätiologie von Störungen auf der Achse I und II, dann stößt man ebenfalls auf die zentrale Bedeutung der Emotionsregulation. Der Umgang mit Emotionen und Emotionsverarbeitung sollte daher in den Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen gestellt werden.
Konsequenzen für die Praxis
Persönlichkeitsstörungen oder dominante Stile und klinische Störungen gehen möglicherweise auf eine gemeinsame emotionale Vulnerabilität zurück. Die Persönlichkeitsentwicklung selbst kann unter dem Aspekt des Schutzes vor emotionaler Vulnerabilität gesehen werden. Eine Psychotherapie sollte nach Möglichkeit ein personorientiertes und entwicklungsorientiertes Verständnis des Patienten und ein darauf aufbauendes Störungsverständnis integrieren (differenzierte makroanalytische Diagnostik). Dabei können unterstützend dimensionale Merkmalsprofile persönlicher Stile verwendet werden (z. B. das «Persönlichkeitsporträt» von Oldham & Morris), um die Betrachtung nicht vorschnell auf einen Stil einzuengen und auch subklinische Persönlichkeitsakzentuierungen einzubeziehen. Die Bewältigung emotionaler Belastungen (Traumatisierung oder Vulnerabilität) und die Aneignung struktureller emotionaler Bewältigungs-, Schutz- oder Vermeidungsstrategien stehen dabei im Fokus. Dazu gehören auch die früheren, späteren und aktuellen Risikoverhaltensweisen als Kompensationsversuche im Umgang mit konkreten Belastungen. Ein Fallkonzept sollte von der Verarbeitung emotionaler Erfahrungen aus über die Entwicklung der Persönlichkeitsstile und des Selbstbildes/Selbstwerts bis hin zur Störungsauslösung und -aufrechterhaltung aufgebaut werden.