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2. Grundlagenforschung
2.7 Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung
2.7.1 Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstilen und -störungen
ОглавлениеWie lässt sich ein allgemeinpsychologisches Verständnis von Persönlichkeit mit einem psychopathologischen Konzept der Persönlichkeitsstörung verbinden?
Eine Antwort auf diese Frage bieten die Ansätze von Millon (1981, 1990, 1996) und Oldham & Skodol (1996). Millon verbindet Entwicklungspsychologie, Entwicklungspathologie, Lerntheorie und Biologie in einem biopsychosozialen Reifungskonzept. Ausgehend von den polaren Grundbedürfnissen zwischen Autonomie und Bindung (als polares Spannungsfeld für die Stufen der Selbstentwicklung nach Kegan 1986) postulierte Millon einen dialektischen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der sich grob in vier Stufen vollzieht: 1. Sensory attachment: Kleinkindphase mit starker Abhängigkeit von physischer Präsenz der Eltern; 2. Sensomotorische Autonomie: Großkindphase mit eigenständiger Erprobung und Entdeckung der Umwelt; 3. Pubertät-Gender-Identität: Hier steht die Geschlechtsidentität, die Entwicklung eines Selbstbildes und die Bewährung im außerfamiliären Kontext im Vordergrund; 4. Intrakortikale-integrative Reifung: Heranreifung des reflektierenden Erwachsenen; hier steht die Ausbildung der Reflexion, die Integration von Ratio und Emotionen und die Entwicklung von Wertorientierung im Vordergrund. Persönlichkeitsmuster werden als Zusammenspiel biologischer, kognitiver, emotionaler und interpersoneller Dimensionen verstanden. Beeinträchtigte Entwicklungen führen zu unausgewogenen Persönlichkeitsmustern, die interpersonelle und emotionale Auffälligkeiten mit sich bringen. Diese Muster sind als Verarbeitungsformen in einem dynamischen Entwicklungsprozess und als Schutz der eigenen Vulnerabilität zu sehen (Bewältigungsstrategien im Umgang mit belastenden familiären und außerfamiliären Erfahrungen). Dadurch unterscheidet sich dieser Ansatz zum Beispiel von Beck (1993), der spezifische kognitive Profile (Selbstbild, Bild über die Mitmenschen, Grundannahmen mit Auswirkungen im emotionalen und interpersonellen Bereich) zum Kern von Persönlichkeitsstörungen macht. Die therapeutische Konsequenz besteht für Beck in einer für jede Persönlichkeitsstörung spezifischen Behandlung der kognitiven und interpersonellen Selbstaufrechterhaltung dysfunktionaler kognitiver Schemata. Auch die kognitiven Ansätze berücksichtigen die Tatsache, dass diese Strategien im Umgang mit schwierigen Erfahrungen in der Kindheit gelernt wurden und der emotionale Zugang zu diesen Episoden die kognitive Umstrukturierung erleichtert. Der emotionale Zugang wird hier jedoch nicht systematisch unterstützt, und das eigentliche Umlernen findet kognitiv und verhaltensorientiert im Alltag mithilfe einer Reihe von Übungen statt. Dieser Ansatz wurde als zu eingeschränkt bereits früh kritisiert (Safran & Segal 1990) insbesondere auch hinsichtlich des rationalistischen Weltbildes, der eingeschränkten Emotionstheorie,der zu starken Fremdsteuerung und desTrainingscharakters des Prozesses durch strukturierte Übungen. Eine Kritik, die vom Mainstream nicht aufgenommen wurde.
Oldham & Skodol (1996) haben ein Kontinuum zwischen gesunden Persönlichkeitsstilen, Persönlichkeitsakzentuierungen und Persönlichkeitsstörungen beschrieben und schlagen auf dieser Grundlage auch mögliche therapeutische Übungen vor. Sie beschreiben 13 Persönlichkeitsstile/Persönlichkeitsstörungen und haben ein Diagnostikinventar («Persönlichkeitsporträt» Oldham & Morris 1998) entwickelt, das auch als «Kognitive VT bei unflexiblen Persönlichkeitsstilen» von Schmitz et al. (2001) mit einer reduzierten Anzahl von 6 Stilen aufgegriffen wurde. In diesem Manual werden auch die 8 Kommunikationsstile von Schulz von Thun als Hilfsmittel für die Interaktionsanalyse aufgegriffen, die sich sehr gut mit Persönlichkeitsstilen in Beziehung setzen lassen. Mit dieser tabellarischen Übersicht (s. Tab. 9) sollen lediglich gewisse inhaltliche Entsprechungen aufgezeigt werden, ohne dass zwischen den Spalten Korrelationen oder sogar Kausalitäten impliziert werden können.
Tabelle 9: Kommunikationsstile, Persönlichkeitsstile und Persönlichkeitsstörungen (Makroebene)
(eine ausführliche Beschreibung der Persönlichkeitsstile findet sich im Anhang 4)
Die sowohl kategoriale als auch dimensionale Betrachtung von Persönlichkeitsstilen führt zu der Erkenntnis, dass sich gesunde Stile unter ungünstigen Belastungs- und Entwicklungsbedingungen zu Persönlichkeitsstörungen entwickeln können, während bei gelingender Bewältigung belastender Entwicklungsphasen schwierige Bewältigungsmuster »auswachsen» können (maturing out). Wenn zum Beispiel Impulsivität und Neurotizismus zwischen der Pubertät und dem jungen Erwachsenenalter absinken, dann resultiert später eine deutlich geringere psychopathologische Belastung (Barnow et al. 2007, Barnow et al. 2010). Daher ist die Entwicklungsperspektive für die Erfassung der Persönlichkeit hinzuzuziehen. Zudem sollte sich die Therapie an Aspekten orientieren, die zentral sind sowohl für einen Persönlichkeitsstil/-störung (Achse II in ihrer klinischen und subklinischen Ausprägung) als auch für die resultierende psychopathologische Belastung (Achse I). Diagnostisch wird mit dem DSM-5 und mit dem ICD-11 die Bedeutung der einzelnen Kategorien geringer und die Beurteilung des Schweregrades einer Persönlichkeitsstörung wesentlich wichtiger (s. auch Kap. 6.2.5 und die Einbeziehung des Integrationsniveaus Tab. 14).
Fazit: Ein bestimmter Persönlichkeitsstil kann unter ungünstigen Belastungen zu einer Persönlichkeitsstörung werden. Da aber eine Persönlichkeit aus mehreren Stilen besteht, besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen einem Stil und einer bestimmten Störung. Ebenso wenig kann man die Persönlichkeit durch ein kognitives Schema beschreiben, sondern eher durch komplexe dimensionale Merkmalsmuster wie die Erfassung des Funktionsniveaus des Selbst und der interpersonellen Beziehungen. Gegenwärtig stellt die Gegenüberstellung von Kommunikationsstilen, Persönlichkeitsstilen und Persönlichkeitsstörungen eine gute inhaltliche Heuristik dar, die jedoch im Einzelfall durch eine biografische und eine aktuelle Analyse komplexerer Stilmuster ergänzt werden sollte. Dies wird möglicherweise bald durch die anstehenden Revisionen in den Diagnostiksystemen durch andere Merkmalsanalysen erneuert.