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3. Störungsspezifische Therapieforschung
3.2 Traumaforschung
3.2.4 Modelle zur Traumaentstehung

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In den Erklärungsmodellen zur Entstehung einer posttraumatischen Symptomatik sollten drei Aspekte unterschieden werden: 1. primär erheblich belastende Ereignisse, 2. vorhandene vs. fehlende Risikofaktoren (Aspekte der Vulnerabilität und Verarbeitung = pathogenetischer Aspekt) und 3. vorhandene vs. fehlende Schutzfaktoren (salutogenetischer Aspekt). Diese Unterscheidung ermöglicht die Akzeptanz primärer extremer Belastungen unabhängig von der Folgesymptomatik und unterscheidet davon zusätzliche innerpsychische und äußere soziale Aspekte, die eine Verarbeitung des Ereignisses erschweren, unmöglich machen oder erleichtern.

Sowohl in der Verhaltenstherapie wie auch in der Psychoanalyse hat es in den vergangenen 15 Jahren eine starke Betonung der aktuellen Belastungen gegeben. Im Kontext der therapeutischen Erfahrung mit Traumaverarbeitung wächst jedoch wieder das Verständnis dafür, dass unverarbeitete belastende Erfahrungen langfristig wirksam sind und nachträglich verarbeitet werden sollten (Bohleber 2007).

Bohleber (2007) führt in einem Abriss zu psychoanalytischen Traumatheorien aus, wie sehr immer wieder um das Verhältnis von real verletzender Erfahrung zur inneren Verarbeitung gerungen wird. Freud war bereits gezwungen, seine ursprüngliche «Verführungstheorie» (realer Missbrauch) angesichts fantasierter sexueller Übergriffe in Zusammenhang mit «hysterischen» Symptombildungen aufzugeben zugunsten einer revidierten Verführungstheorie (fanta-sierte «Verführung»). In dieser Revision ging es allerdings weniger um die Abwertung realer Erfahrungen als mehr um die Aufwertung der Bedeutung der inneren Verarbeitung. Diese Revision musste auf dem Hintergrund der Erfahrungen zweier Weltkriege wiederum überarbeitet werden. Die zu starke Betonung der inneren Verarbeitung («Fantasien») wurde wieder zurückgenommen zugunsten einer Anerkennung und Rekonstruktion real verletzender Erfahrungen, aber auch einer differenzierteren Erfassung unterschiedlich starker dissoziativer Verarbeitungsformen.

Die Behandlung traumatischer Erfahrungen scheint jedoch unter dem Generalverdacht der Opferidentifikation zu stehen (Rudolf 2012, Schultz-Venrath 2013). Zudem scheint der klassische übertragungsorientierte Behandlungsansatz der Psychoanalyse sowohl in der Traumatherapie wie auch in der Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen an seine Grenzen zu kommen (s. Kap. 3.2.8 und 3.2.9). In der Verhaltenstherapie gibt es ebenfalls die Haltung im Rahmen eines kognitiven Therapieverständnisses, dass «die PTBS nicht durch die traumatischen Ereignisse selbst verursacht wird, sondern durch die inadäquate kognitive Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse» (Smucker & Niederee 1995). Dadurch wird das Problem auf das Individuum verlagert und auf seine kognitiven Möglichkeiten bzw. die gestörte Verarbeitung reduziert, was ein Teilaspekt ist, aber in der Reduktion darauf zum bereits erwähnten Kognitivismus führt.

Wie ist der Stand der Forschung? Das am weitesten entwickelte verhaltenstherapeutische Modell ist das sozio-interpersonelle Kontextmodell der PTSD von Maercker & Horn (2011): Nach diesem Modell hängt die Möglichkeit der Verarbeitung nach einem traumatischen Erlebnis von folgenden Punkten ab: 1. von der individuellen «sozial-affektiven Reaktion» (Grad der Beschämung, der Schuld, der Wut und der Rachegefühle), 2. von der Reaktion naher Beziehungspartner (Möglichkeit zur Selbstoffenbarung, erlebte soziale Unterstützung, Empathie) und 3. vom gesellschaftlichen Kontext (kollektiver Umgang mit der spezifischen Traumathematik, wahrgenommene Ungerechtigkeit, gesellschaftliche Wertschätzung, Gruppenzugehörigkeit mit anderen Betroffenen). Ob ein verletzendes Erlebnis zu einer posttraumatischen Symptomatik führt, hängt also an der sozial-emotionalen Verarbeitung dieses Erlebnisses auf individueller, interpersoneller und gesellschaftlicher Ebene! Diese Erkenntnis ist im Übrigen kompatibel mit entwicklungspsychologischen Erkenntnissen zur frühen Emotionsverarbeitung.

Durch dieses Modell wird die starke Einengung auf individuelle oder kognitive Verarbeitung verhindert. Schwache, aber vorhandene prätraumatische Risikofaktoren sind: Alter (als U-Verteilung mit höherem Risiko im Kindesalter und im hohen Lebensalter), Weiblichkeit (selektive Bedrohungswahrnehmung trotz geringerer Traumaexposition), niedriger Status, schlechter Gesundheitszustand. Peritraumatisch objektive Risikofaktoren sind: Traumadauer, Verletzungsschwere und Traumaart, peritraumatisch subjektive: Dissoziation, Todesangst, Selbstaufgabe. Posttraumatische Risikofaktoren sind: Mangel an sozialer Unterstützung, belastende Lebensbedingungen und Ausmaß der Traumafolgestörungen (Brewin et al. 2000). Pielmaier & Maercker (2011) stellen in einem Überblick fest: «Prätraumatische Faktoren scheinen im Vergleich zu peri- und posttraumatischen Faktoren weniger bedeutsam zu sein» (ebd. S. 75).

Aus diesem Modell erwächst auch eine Anforderung an die zeitliche Struktur in der Traumabehandlung, die alle drei Aspekte des oben genannten Kontextmodells beinhalten sollte. Es sollten bei langfristig wirksamen Traumata nicht nur das traumatische und verletzende Ereignis selbst zum Gegenstand der Behandlung gemacht werden (peritraumatisch), sondern auch die eigenen und die sozialen Reaktionen unmittelbar danach (posttraumatisch; Stunden bis Tage) und die persönlichkeitsrelevanten Auswirkungen und Reaktionen in der Zeit bis heute (posttraumatisch; Wochen bis Monate/Jahre). Es sollte auch eine vormals bestehende Vulnerabilität einbezogen werden, insofern als das traumatische Ereignis diese Vulnerabilität berührt bzw. vertieft. Eine Vulnerabilität ist für sich genommen keine Vorerkrankung oder klinisch relevante Beeinträchtigung, sondern eine emotionale Vorbelastung im Sinne einer entwicklungsrelevanten Stressbelastung.

Fazit: Sowohl in der Verhaltenstherapie wie in der Psychoanalyse gab und gibt es eine Tendenz zur Betonung von Merkmalen der individuellen Verarbeitung eines Traumas zuungunsten der Anerkennung des realen Verletzungscharakters und der fehlenden Schutzfaktoren bei der Verarbeitung der Erfahrungen. Ob eine Erfahrung i. e. S. traumatisch war oder nicht, entscheidet sich immer erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand an der Symptombildung. Das Anerkennen realer Verletzungen und Belastungen ist für eine ernst zu nehmende therapeutische Bearbeitung die Voraussetzung. Dazu kommt für eine gelingende Verarbeitung die Beachtung von Schutzfaktoren und Risikofaktoren während und nach dem Trauma durch nahestehende Personen wie auch die Anerkennung des jeweiligen traumatischen Themas durch die Gesellschaft.

Konsequenzen für die Praxis

Eine Reduktion des Verständnisses auf individuelle Aspekte der Verarbeitung ist nicht angemessen. Die Verarbeitung einer erheblichen Belastung hängt nicht nur an der Person, sondern auch an den Beziehungspartnern und der gesellschaftlichen Anerkennung des Verletzungscharakters einer Erfahrung; die Verarbeitung solcher Erfahrungen schließt den sozialen Kontext ein. Dieser sollte erfasst werden und eine unabhängig davon und bereits vorher bestehende Vulnerabilität in ihrer Wechselwirkung auf die Verarbeitung eines Traumas berücksichtigt werden. Bei längerfristigen Auswirkungen sollten diese Folgen zusätzlich zu traumatischen und verletzenden Ereignissen in die Traumabehandlung einbezogen werden.


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