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2. Grundlagenforschung
2.7 Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung

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Der Persönlichkeitsbegriff ist eng mit dem Begriff des Selbst verbunden und steht auch in Grawes Modell des psychologischen Funktionierens an oberster Stelle quasi als Klammer für alle psychologischen Teilprozesse (Grawe 1998). Der Mensch – so Grawe – strebt grundsätzlich nach Übereinstimmung mit sich selbst (Kongruenz /Identität/Assimilation) und nach Übereinstimmung mit der äußeren Wirklichkeit (Konkordanz/Anpassung/Realisierung von Bedürfnissen, Akkomodation). Er strebt nach Spannungsreduktion und einer Balance von beidem (Konsistenz). Anders formuliert: Er steht in einem Spannungsfeld zwischen Stabilität und Lebendigkeit. Riemann (1990) spricht in seinem Klassiker Grundformen der Angst von zentrifugalen Kräften (zum Selbst) und zentripetalen Kräften (zum anderen, zur Welt), die beide die Persönlichkeit formen. Was kann man aus der empirischen Forschung zum Begriff der Persönlichkeit lernen?

Da gibt es zum einen den Begriff des biologisch determinierten «Temperaments» (Antrieb, Aktivitätsniveau, Vitalität und Gefühlsintensität), das sich über die relevanten Entwicklungsphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter) hinweg als sehr beständig erwiesen hat (Caspi & Roberts 1999). Davon unterschieden wird die psychosoziale Aneignung einer wandelbaren «Persönlichkeit».

Das dimensionale Konzept der fünf verschiedenen Persönlichkeitsdimensionen (Big Five) hat die älteren Persönlichkeitskonzepte abgelöst. Die Dimensionen sind: Neurotizismus vs. Ausgeglichenheit, Extra- vs. Introversion, Offenheit vs. Verschlossenheit und Verträglichkeit vs. Unfreundlichkeit. Diese dimensionale Unterscheidung ist jedoch sehr weit weg von klinisch relevanter Diagnostik. Die klinische Achse II-Diagnostik unterscheidet zehn Persönlichkeitsstörungen (ICD-10) bzw. zwölf Persönlichkeitsstörungen (DSM-IV Fk). Mit dieser Diagnostik sind trotz verbesserter Reliabilität allerdings substanzielle Probleme verbunden (mangelnde Validität, mangelnde empirische Fundierung der Kriterien und Schwellenwerte, hohe innere Komorbiditäten verschiedener Persönlichkeitsstörungen, mitunter unklare Abgrenzung zur Achse I, die stigmatisierende Sprache und Defizitorientierung) (s. Schmitz et al. 2001).

Das reale Vorhandensein von Persönlichkeitsstörungen wird nach einer Studie von Rudolf (2006) unterschätzt: Während nur in 4 Prozent der Behandlungsfälle ambulanter Psychotherapie Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden, liegen diese bei psychiatrischen Patienten mit einer Häufigkeit von bis etwa 40 Prozent vor und in der Allgemeinbevölkerung mit ca. 10–15 Prozent! Die Komorbidität von Achse-I-Störungen und Achse-II-Störungen ist somit erheblich. Aber es gibt vermutlich eine Hemmschwelle der Diagnose, weil bei manchen Psychotherapeuten, aber auch in der Allgemeinbevölkerung die Einschätzung vorliegt, dass man eine Persönlichkeit nicht ändern kann, und somit eine kategoriale Störungsdiagnose mit einer irreversiblen Schädigung gleichgesetzt werden könnte. Tatsächlich fand sich irritierenderweise in der Konzeption der Multiaxialen Diagnostik des DSM-IV die Kategorie Persönlichkeitsstörungen auf einer Achse zusammen mit geistigen Behinderungen, was der Akzeptanz dieser diagnostischen Kategorie sicher nicht geholfen hat. Zudem zeigt sich eine Persönlichkeitsentwicklung langfristig wandlungsfähiger, als dies auf den ersten Blick durch den Begriff vermittelt wird (z. B. das maturing out– Konzept, wonach sich vorhandene Stile auch auswachsen können).

Im Hinblick auf die Persönlichkeitsdiagnostik des ICD-11 und des DSM-V scheint ein Wandel dahingehend anzustehen, dass die Unterscheidung der einzelnen Stilmerkmale abgelöst wird durch die Unterscheidung des Schweregrades einer Persönlichkeitsstörung. Dieser Schritt erfolgte aufgrund der Häufigkeit des Vorkommens einzelner Stile, der zu geringen Reliabilität und der geringeren Relevanz für die übergeordnete Behandlungsstrategie als der Schweregrad. Zentrale Dimensionen zur Beurteilung des Schweregrades sind das Funktionsniveau des Selbst (Identität, Selbstkontrolle) und der interpersonellen Beziehungen (Empathie, Intimität); zur Beurteilung der Art der Persönlichkeitsstörung werden im DSM Merkmale analog zu den Big-Five-Dimensionen herangezogen, um sechs Persönlichkeitsstörungen (PS) zu unterscheiden; im ICD-11 sollen keine Störungskategorien mehr unterschieden werden zugunsten einer rein dimensionalen Beurteilung der Beeinträchtigung. Damit weicht die kategoriale Diagnostik allmählich einer dimensionalen Diagnostik komplexer Merkmalsprofile.

Was die Erfassung von einzelnen Persönlichkeitseigenschaften schwierig macht, ist die Tatsache, dass sich im Lebensverlauf besonders der ersten 30 Jahre verschiedene Stile überformen (d. h. zu- und abnehmen) können und in unterschiedlich starker Ausprägung gleichzeitig vorhanden sein können. Dies impliziert auch, dass Persönlichkeitsstile Veränderungen unterworfen sind, die Persönlichkeitsentwicklung niemals vollständig abgeschlossen ist und eine Persönlichkeit auch im Rahmen einer Psychotherapie Veränderungen erfährt. Es stellen sich zwei Fragen, auf die in den nächsten beiden Abschnitten eingegangen werden soll.


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