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1. Psychotherapieforschung
1.7 Das gegenwärtige Wissenschaftsverständnis: Eine kritische Analyse
ОглавлениеVorbemerkung: Wir haben es neben den bereits erwähnten Verdiensten mit drei Fehlentwicklungen zu tun:
1. Die komplexe Verarbeitung emotionaler Belastungen in Verbindung mit körperlichen, emotionalen, kognitiven, interpersonellen und sozioökonomischen Aspekten wird auf Kognitionen reduziert (Kognitivismus).
2. Der langfristige und entwicklungspsychologische Hintergrund von Störungen wird auf seine «symptomatische Endstrecke» – also die aktuellen Symptome – reduziert (Symptomfixierung).
3. Die komplexe Wirkung von Psychotherapie auf der Mikro- und der Makroebene hinsichtlich parallel wirksamer Wirkfaktoren und hinsichtlich der großen emotionalen Herausforderungen an die Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung der Therapeuten wird auf die Anwendung von Methoden reduziert (Technikfixierung).
Durch diese Fehlentwicklungen droht die Verhaltenstherapie zum Teil eines übergeordneten Problems zu werden: eines sich durch alle Lebensbereiche ziehenden industriellen Optimierungszwangs. Die Grundregel dieser Optimierung: Man versucht aus allem das jeweils Wichtigste oder Wirksamste zu isolieren, um möglichst schnell und günstig ans Ziel zu kommen, und unterschätzt dabei den vermeintlich unspezifischen Nährboden, der wichtiger ist als die technischen Details. Insofern droht der Verhaltenstherapie das, was Karl Kraus einmal vor 100 Jahren über die Psychoanalyse gesagt hat: Sie ist möglicherweise Teil der Krankheit, die zu behandeln sie vorgibt. Diese zugegebenermaßen überspitzte Formulierung kann wachrütteln von einem Zeitgeist des Optimierungszwangs und der Effizienz, den man meist nur schwer überwinden kann und der immer auch seine berechtigten Ursprünge hatte.
Der gegenwärtige wissenschaftliche Mainstream scheint diese Fehlentwicklungen weder zu bemerken noch beseitigen zu wollen, sondern erhebt diese sogar zum Goldstandard. Das Gemeinsame dieser Fehlentwicklungen sind die Reduktionismen sowie die verdeckte und manchmal auch offene Ökonomisierung, die entgegen anderen Evidenzen aus den Grundlagenwissenschaften und aus der Therapieprozessforschung offensiv verteidigt werden gegen jede Art der Kritik (Kap. 5.2). In der sogenannten zweiten Welle der Verhaltenstherapie kann man einen Bruch mit den Grundlagenwissenschaften ausmachen (zur Reflexion der Entwicklung der Verhaltenstherapie und ihrer Auswirkung s. Kap. 5), in dessen Folge die Bewährung einzelner Methoden wichtiger wurde als ihre Begründung.
Das Selbstverständnis dieser Entwicklung kann gut durch den Satz eines kognitiven Therapieforschers wiedergegeben werden, wonach der Patient «ein Recht darauf hat, dass die für seine Störung wirksamsten Methoden zum Einsatz kommen». Der Patient hat also ein Recht darauf, auf Kognitionen und Symptome reduziert zu werden – und auf die Anwendung von Technik? Der biomedizinische Reduktionismus wird so durch psychologische Reduktionismen konterkariert; ein Teilerfolg aus psychologischer Sicht, der durchaus die Etablierung der Psychotherapie im Gesundheitswesen befördert hat. Es bedarf jedoch gegenüber dem Patienten einer deutlichen Korrektur.[1] Durch die Linse der Effektforschung betrachtet, könnte man auch sagen, dass der Mainstream zu 17 % brauchbare Konzepte liefert. Anders formuliert: Die Konzepte sind in der Praxis überwiegend unbrauchbar und eben nicht auf den Patienten ausgerichtet. Was sind die Gründe für eine solche Entwicklung?
Versuch einer Beschreibung: Viele Wissenschaftler erliegen – auch bedingt durch eigene Interessen an einer akademischen Karriere und der Wertschätzung der Community – der Versuchung, Psychologie ausschließlich als Generierung von empirischen Einzelbefunden zu betreiben und die gängigen Reduktionismen sowohl der Begriffe als auch der Forschungsstrategien kritiklos zu übernehmen (Daten werden wichtiger als Konzepte). Die Verknüpfung vieler Einzelbefunde und Detailtheorien zu übergeordneten Theorien und Modellen – wie sie Grawe zuletzt in einer «radikalen Abwendung vom Denken in Therapiemethoden» gefordert hat (2005) – wird aufgrund ihres heuristischen Charakters auf der Modellebene zu Unrecht als spekulativ angesehen und nicht als notwendige terminologische Begründungsarbeit systematisch betrieben. Dagegen wird jede kontrollierte randomisierte Doppelblindstudie (RCT/EST) als hohe Schule der Wissenschaft angesehen bei gleichzeitiger Verarmung der Forschungsmethoden (z. B. Vernachlässigung von Interviewtechniken, systematischer Beobachtung, Einzelfallanalysen etc.). Die Kritik an dieser methodologischen Einengung des «Empirismus» wurde z. B. von Habermas als «positivistisch halbierter Rationalismus» in das wissenschaftstheoretische Denken eingebracht. Vor 30 Jahren hätte man noch von einem Primat der Geisteswissenschaft gesprochen, denn Daten müssen immer interpretiert werden. Dies ist aber heute nicht mehr angemessen, da sich empirisch begründete Modellbildung nicht mit hermeneutischer Interpretation gleichsetzen lässt; genauso wenig wie die Formulierung heuristischer Modelle in der Physik etwas mit Hermeneutik zu tun hat. Es geht stattdessen um eine konsistente konstruktivistische Theorienentwicklung von der einzelnen Theorie bis in die Ebene methodologischer Modelle. Dazu Habermas (2004): «Der methodologische Dualismus zwischen Teilnehmern und Beobachtern darf nicht zu einem Dualismus von Geist und Natur ontologisiert werden» (S. 878): Wenn der Mensch also Geist und Natur ist, dann sollte er auch sowohl aus der Subjekt- wie aus der Objektperspektive verstanden und erforscht werden. Dies widerspricht einer Trennung von psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Empirie in der Psychotherapie ebenso wie einer Trennung zwischen Leib und Seele in der Medizin.
Grawe (1992) hat die «gegenstandskonstituierende Funktion» der Wissenschaften (Theorien entwickeln und prüfen, Begriffe präzisieren und übergeordnete Modelle entwickeln) von der «Evaluationsfunktion» (Bewährung verschiedener Konzepte in der Anwendung prüfen) unterschieden. Ebenso unterschied er – im Nachgang zu A. E. Meyer (1990) – eine Phase der Psychotherapieforschung, die durch eine präzise Beschreibung von Interventionen an Einzelfällen durch einflussreiche Kliniker und Forscher gekennzeichnet ist (‹Eminenzbasierung›), von einer Phase, die durch Wirksamkeitsbelege auch unabhängig von Schulengründern oder Methodenentwicklern gekennzeichnet ist («Evidenzbasierung»). Die heutige Psychotherapieforschung definiert sich überwiegend aus der Wirkung einzelner Methoden und zieht sich auf Evidenzbasierung einzelner Methoden und auf die Evaluationsfunktion zurück. Dabei setzt man sich sogar über die eigene Grundlagenforschung hinweg und klammert u. a. die entwicklungspsychologische Dimension von Störungen konsequent aus.
Der wissenschaftliche Mainstream meidet eine Arbeit an übergeordneten transdiagnostischen Modellen, weil sich die erforderliche Komplexität individuell passender Behandlungsstrategien mit dem auf die Effektforschung reduzierten Evidenzbegriff nicht abbilden lässt, und widmet sich lieber Metaanalysen in Verbindung mit einer Konzentration auf vermeintliche «empirische Evidenz». Hier hat es rein rechnerisch hervorragende Entwicklungen gegeben: z. B. die Entwicklung der metaanalytischen Berechnung von Effekten (z. B. Smith & Glass 1977) und die Vernetzung zahlreicher Befunde als Vorlage für evidenzbasierte Entscheidungen (Cochrane Collaboration). Eine theoretische Verdichtung, Begründung und Weiterentwicklung kann jedoch durch diese Entwicklungen nicht ersetzt werden und ebenso wenig eine notwendige Reflexion auf den Anwendungskontext («die Praxis»).
Zur Reduktion des gegenwärtigen wissenschaftlichen Spielraums gehört auch die Ausblendung des breiten Spektrums sozialwissenschaftlicher Methoden – wie sie zum Beispiel von Roth & Holling (1993) dargestellt werden[2] – und die Ausblendung der Gesellschaftswissenschaften einschließlich der Erforschung krank machender kollektiver Lebensbedingungen (als nicht kognitive Realität faktischer Lebensbedingungen), die ebenfalls ursprünglich in den Kanon psychologischer Forschung einbezogen wurde und heute dem Kognitivismus geopfert wird (Dogma: «Es gibt keine kollektive Bedeutung oder Belastungsfaktoren, es ist alles eine Frage individueller kognitiver Verarbeitung»). Eine Psychotherapieforschung, die gesellschaftliche und ökonomische Zusammenhänge nicht mehr reflektiert, sondern alles auf Kognition, Symptome und Methoden reduziert, wird selbst zum Teil einer zahlenfixierten und kurzfristig denkenden Ökonomisierung und einer scheintransparenten Sozialtechnologie und verliert die selbstreflexive Distanz. An der Überschätzung von Erfolgsraten, der Dominanz der RCT-Forschung und den daraus resultierenden Zwängen für Kliniken und Therapeuten kann man dies gut ablesen. Dazu Greenberg (2011): «Therapieschulen basieren mehr auf Politik, Wirtschaft und Macht als auf Wissen».
Liegen Eminenzbasierung und Evidenzbasierung vielleicht doch nicht so weit auseinander? Diesen Eindruck kann man auch angesichts der Tatsache gewinnen, dass die Forschung zur kognitiven Therapie auf der Basis der beckschen Kognitionstheorie nachweislich mit einer Rezeptionsverweigerung früherer und aktueller Evidenzen verbunden ist, unzureichend in der Grundlagenforschung fundiert ist und nicht wirklich weiterentwickelt wird mit Hinweis auf die hervorragende Evidenz der Wirkung der Kognitiven Therapie (s. Kap. 5.2). Die Flut der Evidenzen macht anscheinend die Begründung überflüssig[3]. Auf diese Weise ist Beck selber zu einer Eminenz geworden, in dessen Folge nur noch die zum kognitiven Ansatz passenden Evidenzen zur Kenntnis genommen und geschaffen werden. Das zeigt ein weiteres Problem in der Wissenschaft: nämlich die Bildung sog. scientific communities, die sich selbst zur Referenz ihrer Urteilsbildung machen. Was nicht im eigenen «Club» stattfindet, wird entweder ignoriert oder in verkürzender Weise rezipiert. Zum Teil gibt es sogar in einzelnen Spezialgebieten mehrere communities, die sich wechselseitig nicht zur Kenntnis nehmen (s. z. B. Kessler 2014). Es geht nicht mehr um die Bildung von Wissen, sondern um die Bündelung von Interessensgruppen.
Dadurch wird die zentrale Aufgabe nicht erfüllt, die Grawe (1992) für die Psychotherapieforschung formuliert hat und die von Caspar[4] (2010) als «Leitbild» umrissen und präzisiert wird: sich aller wissenschaftlichen Quellen unabhängig von der Ausrichtung zu bedienen (Prozessforschungsphase) und dazu auch in Zitaten zu stehen, anstatt das Rad immer wieder neu zu erfinden, und sich an der Erarbeitung übergeordneter Modelle der Ätiologie und Intervention zu beteiligen zum Nutzen der Patienten. Dabei sollte man auch die empirisch forschende Psychoanalyse oder die Gesprächstherapie einbeziehen, die sich teilweise genau mit den Fragen beschäftigen, die von Verhaltenstherapeuten ignoriert oder zumindest vernachlässigt werden: Dies sind vor allem die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und -pathologie, aber auch der Neurobiologie und Emotionspsychologie bis hin zur Erforschung narrativer Mikroprozesse. Die psychoanalytische Therapieforschung hatte lange Zeit den umgekehrten Fehler gemacht und sich überwiegend mit theoretischer Modellbildung beschäftigt, die lediglich hermeneutisch plausibel waren und primär aus der Behandlungswirklichkeit von Einzelfällen abgeleitet wurden. Die empirische Überprüfung an größeren Patientengruppen oder die Validierung an der nicht klinischen Grundlagenforschung wurde vernachlässigt. Dabei kam man zu Erkenntnissen, die heute noch unterschrieben werden können, und vielen anderen Konzepten, die aufgegeben werden mussten (Kap.6.2).
Fiedler (2012) hat sich (wie viele andere Hochschullehrer) in seiner Vision von einer «Psychotherapie der Zukunft» von übergeordneter Modellentwicklung abgewandt (»Der große Trugschluss bisherigen Therapieschuldenkens lag in der Illusion, den psychisch gestörten Menschen in seiner Ganzheitlichkeit erfassen zu wollen», S. 160) hin zu einem Erhalt der Vielfalt verschiedener Therapiestrategien und einer Ausweitung der Forschungsstrategien (zum Beispiel Einbeziehung der Einzelfallforschung). So notwendig es auch ist, das enge Empirieverständnis des aktuellen verhaltenstherapeutischen Mainstreams auszuweiten, so fragwürdig wäre ein Verzicht auf die Entwicklung übergeordneter Modelle der menschlichen Entwicklung und der Ätiologie von Störungen und ein Verzicht darauf, den Patienten zumindest in der Gesamtheit der für die Behandlung relevanten Aspekte als Ganzes wahrzunehmen, wie es im gleichen Band zu Recht von Bastine (2012) eingefordert wird.
Die Verknüpfung primär-langfristig wirksamer Belastungsfaktoren, sekundärer Persönlichkeitsmuster und symptomatischer Störungsmuster und eine differenziertere Betrachtung der Interventionen gelingt möglicherweise besser im Rahmen der von Fiedler (2012) oder auch von Fonagy & Target (2003) vorgeschlagenen «komparativen Kasuistik». Fiedler (2012) schlägt auch eine Ergänzung der aktuellen Symptomorientierung durch eine «Phänomenorientierung» vor. Zu Recht fordert Fiedler (2012) ein Ende eines «omnipotenten Schulendenkens». Zunehmender Dogmatismus und auch die Neigung, sich kognitivistisch von der Lebensrealität von Patienten zu entfernen und primäre Belastungen auf die Frage des «richtigen» Denkens zu reduzieren, scheint auch ein Risiko fortgeschrittener Professionalisierung zu sein, das auch die Psychoanalyse mit der kognitiven Verkürzung auf das Primat des Denkens durch die Deutung kennt (s. Kap. 3.2 zur Traumaforschung und 6.2 zur Strukturtheorie). Die Zukunft der Psychotherapie liegt nicht nur in einer Verbesserung der Methoden und einer Ausweitung der Forschungsstrategien, sondern auch in einer Revision reduktionistischer Begrifflichkeiten. Dies kann aber nur gelingen, wenn das Interesse an übergeordneter Modellentwicklung als essenziell notwendig erkannt wird. Erst wenn die therapeutische Arbeit angemessen in einer nicht technischen Weise begriffen und dargestellt werden kann, eröffnet sich ein valider Blick für die realen Herausforderungen psychotherapeutischer Arbeit und die Möglichkeiten einer sprechenden Medizin.
Hier würde man sich als Praktiker manchmal in der Binnenkommunikation mit Wissenschaftlern weniger ein überzogen selbstbewusstes als vielmehr selbstkritisches Auftreten mit Reflexion auf die Grenzen des eigenen Zugangs wünschen. Eine vorgetäuschte Bescheidenheit («Eigentlich wissen wir immer noch nichts Genaues, und deshalb brauchen wir dringend weitere Forschungsgelder») ist da genauso wenig konstruktiv wie ein «empirischer Imperialismus» (Lampropoulos et al. 2002), der sich der Weiterentwicklung grundlegender Konzepte widersetzt (s. hierzu auch Roediger & Brehm 2013) und damit der Abspaltung neuer Konzepte und Verfahren (z. B. der Schematherapie) und der Schulenbildung Vorschub leistet. Etablierte Verfahrensvertreter neigen dazu, sich gegen Weiterentwicklungen zu sträuben und hochmütig gegenüber «der» Praxis und anderen Verfahren zu werden (z. B. Lilienfeld et al 2013). Aber wie wir alle wissen oder zumindest ahnen: Hochmut kommt vor dem Fall. Auch dies können wir von der Psychoanalyse lernen[5]. Manchmal dauert es allerdings sehr lange, wie man an der mit Milliarden Dollar gesponserten biomedizinischen Renaissance in den USA erkennen kann (Kap.1.1).
Lilienfeld et al. (2013) sehen – wie viele andere Wissenschaftler auch – ein Hauptproblem der Forschung darin, dass ihre Erkenntnisse nicht angemessen von resistenten Praktikern rezipiert und angewendet werden. Erklärt wird dies durch ein «Informationsdefizit», obwohl sich der Berufsstand durch überdurchschnittliche Fortbildungsaktivität auszeichnet und jedes irgendwie nützlich erscheinende wissenschaftliche Konzept mit großem Interesse in der Praxis aufgenommen wird; dazu gehörte zum Beispiel auch die manualisierte Behandlung von Störungen in den Neunzigerjahren (Kap 5.2) und aktuell die Schematherapie. Praktiker erliegen nach Lilienfeld et al. einem «naiven Realismus» und würden ihre klinische Intuition priorisieren. «Die Praxis» wird hier ultimativ in die Pflicht genommen, Wissenschaft umzusetzen (unterstützt von Slogans wie »Wissen schafft Praxis»), und es wird ein umfangreicher «Maßnahmenkatalog» vorgestellt, um die vermeintlich resistenten Praktiker auf die Segnungen der evidenzbasierten Wissenschaft einzuschwören. Genauso wie der Patient die Methode akzeptieren soll, die ihm von einer Forschungsgemeinschaft vorgegeben wird, sollen die Therapeuten das Gütesiegel «wissenschaftliche Orientierung» nur noch dann behalten dürfen, wenn sie die Ergebnisse eins zu eins (natürlich «individualisiert» auf den einzelnen Patienten heruntergebrochen) anwenden. Das gleichfalls «optimierte» Bachelor- Studium entzieht den Studenten die früher gewohnten Freiräume zur Reflexion und bereitet hier vermutlich auch eine kritiklose Anwenderbereitschaft vor, die zukünftige Maßnahmenkataloge überflüssig machen könnte. Von der Unterscheidung eines semiprofessionellen grauen Marktes ohne wissenschaftlichen Hintergrund von professionell ausgebildeten akademischen Therapeuten liest man bei Lilienfeld et al. und anderen Wissenschaftlern, die über «die Praxis» sinnieren, genauso wenig wie über einen naiven Objektivismus (Daten = objektives Wissen) von Wissenschaftlern, die ihre Daten ohne eingehende Reflexion auf die Bedingungen ihres Zustandekommens interpretieren und publizieren – und nicht selten auch auf die gewünschten Aussagen hin zurechtbiegen (Forschungsdesign, terminologischer Rahmen, Messinstrumente, Patientenselektion, stat. Auswertung etc.) oder die ihre Patienten nur aus Forschungsstudien kennen und so nie die Gelegenheit hatten, eine klinische Intuition[6] zu entwickeln. Eine Kultur des wechselseitigen Respekts anstatt eingeforderter Anpassung erscheint hier mit Blick auf die tägliche Verantwortung gegenüber den Patienten angemessen und notwendig.
Zusammenfassung der Probleme: Die gegenwärtige Mainstream-Wissenschaft in der Psychotherapieforschung lässt neben zahlreichen Verdiensten auch einige Probleme erkennen: Desinteresse an übergeordneter Modellbildung mit Zerfall der Theoriebasis in viele Teilgebiete, technischer Eklektizismus (modulartige symptombezogene Treatments), positivistische Fixierung auf experimentelles Design (RCTs) und quasiobjektive Messung (was man nicht gemessen hat, ist nicht existent), überhöhter Wahrheitsanspruch mit Reduktion «der Praxis» auf die Anwendung wissenschaftlicher Wahrheiten anstatt als Bewährungsfeld für Wissenschaft, Geringschätzung von Subjektivität und Intuition, größtenteils Abwesenheit wissenschaftstheoretischer und gesellschaftlicher Selbstreflexion, körper- und kontextloser Kognitivismus, materialistische Überhöhung der Lerntheorie als objektiver Gesetzmäßigkeit («Lerngesetze»), Verkennung der eigenen Praxisnähe in Verbindung mit Praktiker-Bashing und der Umdeutung des eigenen Validitätsproblems als Praxisresistenz (s. a. «Umgang mit Kritik» in Kap. 5.2 und die Diskussion zu MCOs in Kap. 1.9).
Analyse: Hinter diesen «Symptomen» des wissenschaftlichen Mainstreams steht eine Ursache, wie sie bereits von Holzkamp (1972,1980) analysiert wurde: der Rückfall in einen naiven Empirismus, Materialismus und Positivismus. Holzkamp benennt als zentrale Eigenschaft des naiven Empirismus: «Wissenschaft spart sich selbst aus der Analyse aus» (1972 S. 226). Die Implikationen und Konsequenzen der eigenen Begrifflichkeiten, Forschungsstrategien und der übergeordneten Methodologie werden vom Mainstream nicht mehr reflektiert. Daher können Fehlentwicklungen weder erkannt noch beseitigt werden. Die praktische Bewährung ersetzt die theoretische Begründung. Dabei bedeutet «praktische Bewährung» nicht etwa «Bewährung in der Praxis», sondern die «Bewährung innerhalb der eigenen Forschungspraxis» und ihrer kaum reflektierten Grenzen. Es gehört zum Begriff des wissenschaftlichen Mainstreams, dass viele Wissenschaftler diesen zwar kritisch sehen, ihn aber letztlich nicht zur Revision oder Selbstkritik veranlassen können, solange er ökonomisch das größere Durchsetzungspotenzial hat. Die psychotherapeutische Mainstreamwissenschaft fühlt sich also der Ökonomie verpflichtet und nur scheinbar dem Patienten. Hier geht es nicht um Wissen, sondern um Geld und Macht. Die Ergänzungshypothese zur Naivität (eher im unteren bis mittleren Kader des Wissenschaftsbetriebs) wäre somit das ökonomisch-pragmatische Kalkül (im mittleren bis oberen Kader) und das Leitprinzip der Effizienz, das Patienten wie Therapeuten nicht an den Anfang des Forschungsinteresses, sondern als Empfänger einer kostengünstigen Interventionslösung ans Ende stellt und primär vom Versprechen weiterer Kostensenkungen motiviert ist. Die Vorhersage von Goldfried (1996), dass die Grenzen eines Forschungsparadigmas durch die Verzahnung von Wissenschaft und Kostenträgern auf die Versorgungspraxis übertragen werden, ist eingetroffen. Das Ergebnis sind Fehlentwicklungen, die genau dadurch zustande kommen, dass Praktiker und Ausbildungsinstitute zunehmend eins zu eins die Erkenntnisse der Wissenschaft in die Praxis umsetzen und eben nicht kritisch oder resistent sind. Stattdessen glauben sie zum Großteil an die Begründung dessen, was sie durch die Berufung auf Wissenschaft tun, und reduzieren ihr Selbstverständnis auf die Anwendung bereitgestellter Werkzeuge. Auf diese Weise erzeugt eine Mainstream-Wissenschaft eine Mainstream-Verhaltenstherapie mit einer Reihe von Problemen, dem Patienten wirklich gerecht zu werden.
Es sollte stattdessen die Erwartung einer deutlich zunehmenden methodologischen Selbstreflexion formuliert werden, wie sie bereits von Holzkamp (1972) in sechs Forderungen ausgeführt wurde (S. 226). Der zukünftige Maßstab dieser Selbstreflexion wird die Überwindung der drei beschriebenen Fehlentwicklungen sein.
Es gibt aktuell kaum wissenschaftliche Selbstkritik, aber viel Unzufriedenheit mit ihren Ergebnissen (sicher auf höherem Niveau als vor 30 Jahren). In den Achtzigerjahren wurde diese Kritik bereits in der Grundlagenforschung formuliert: «Die Reduzierung des Gegenstands auf die operationalisierten Teilaspekte bedeutet, dass die Methode nicht nur einen Vorrang vor dem Gegenstand besitzt, sondern diesen auch dominiert und möglicherweise sogar deformiert» (Jüttemann 1983). Eine vorsichtige aktuelle Kritik: «Dass Beziehungsaspekte oft in Therapieplanungen kaum berücksichtigt werden, ist nicht nur dem jeweiligen Praktiker, sondern auch der Wissenschaft anzulasten … Eine Therapieforschung, die dazu wenig Raum lässt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht selber eine Fehlentwicklung darstellt» (Caspar 2008 S. 739). Man sollte sich daher auch nicht darüber wundern, wenn in einer Forschungsstudie zur gegenwärtigen Ausbildung (Nodop 2013) festgestellt wird, dass die Entwicklung der Persönlichkeit von Therapeuten und die Entwicklung der interpersonellen Beziehungsfähigkeit im Bewusstsein von Ausbildungsleitungen hinter der theoretischen Wissensvermittlung steht (S. 118). Die Mainstream-Wissenschaft hat also bereits eine Mainstream-Ausbildung hervorgebracht, die den Bedürfnissen von Therapeuten und Patienten in wichtigen Aspekten nicht entspricht (Kap. 8). Ebensowenig ist es ein Zufall, dass die Hauptvertreter des ökonomisierten Mainstreams dabei sind, die Ausbildung ganz an die Universitäten verlagern zu wollen («universitäre Direktausbildung»), und damit das Primat der Praxis vollständig auflösen, anstatt sich auf die eigene Kernkompetenz der Vermittlung von Grundlagen zu konzentrieren.
Hayes et al. (2013) skizzieren als Lösungsweg für diese Fehlentwicklungen die Verankerung von Wissenschaft in den Praxiskontexten von Anfang an, die Entwicklung von Behandlungskonzepten aus der Praxis heraus und die Ausweitung der Forschungsmethoden, um sich aus der Einengung der gegenwärtigen Wissenschaft auf die RCTs wieder zu lösen. Theorien haben die Aufgabe, das Praxiswissen zu verdichten, aber nicht, die Praxis zu definieren. Die Praxis und die tägliche Arbeit mit Patienten sollten wieder Quelle und Bewährungsfeld für psychotherapeutische Wissenschaft sein. Wissenschaft sollte sich bezogen auf Psychotherapie wieder auf eine Position des Dienstleisters beschränken, der der Praxis zuarbeitet und Begründungsgrundlagen schafft.
Die Zukunft der wissenschaftlichen Begründung therapeutischen Handelns wird davon abhängen, ob Forschung und Praxis wieder in ein Verhältnis wechselseitiger Korrektur eintreten können. Dazu ist es erforderlich, dass sich die Praxis nicht mit unreflektierten Gütesiegeln begnügt («Wir sind wissenschaftlich fundiert und nach DIN und ISO zertifiziert»), der industriellen Reproduktion qualitätsgesicherter Produkte nacheifert (zum Qualitätsbegriff s. Kap. 7) und die Wissenschaft sich wieder selbstkritisch reflektiert, anstatt sich zu überhöhen.
Der Beitrag im vorliegenden Band versteht sich in dieser Hinsicht auch als nicht reduktionistische Variante der verhaltenstherapeutischen Behandlung, in der viele Erkenntnisse über wirksame Psychotherapie miteinander verknüpft werden. Man kann den vorhandenen empirischen Kenntnisstand auch in einer Weise nutzen, die zu völlig anderen Behandlungskonzepten führt.
Zusammenfassend kann man den Schluss ziehen, dass der gegenwärtige wissenschaftliche Mainstream entgegen seiner Selbstwahrnehmung und seinen Autoritätsansprüchen seine begründende Funktion für therapeutisches Handeln nur noch sehr eingeschränkt verwirklicht, den Kontakt zum «Gegenstand» (Patienten wie Therapeuten) verliert und ihn durch unkritische Selbstüberhöhung im Sinne Jüttemanns dominiert oder deformiert. Die gegenwärtigen Fehlentwicklungen, die schwach ausgeprägte Selbstkritik und wissenschaftstheoretische Selbstreflexion sind ein deutliches Signal dafür, dass Psychotherapie wieder stärker aus der Praxis der täglichen Arbeit mit Patienten heraus definiert und weiterentwickelt werden sollte. Die praktische Arbeit bleibt dabei auf einen wissenschaftlichen Kontext angewiesen, der aber eher eine prüfende als definierende Funktion haben sollte. Die Rede von einer «wissenschaftlich fundierten Praxis» sollte man daher relativieren zugunsten einer «an wissenschaftlich evaluierten Methoden orientierten Praxis» oder einer «evidenzbasierten Praxis» im Sinne Goldfrieds (2013). Der Begriff einer evidenzbasierten Praxis sollte sich explizit auf alle Evidenzen beziehen und nicht nur auf die Ergebnisse und Erkenntnisse einer scientific community. Dieser erweiterte Evidenzbegriff schließt die methodologische Selbstreflexion und konsistente Modell- und Theorieentwicklung in Grundlagen- und Anwendungswissenschaften ein. Diese höchste Stufe der Empirie, in der alle Evidenzen stufenweise je nach theoretischer Reichweite in ein konstruktives Gesamtgebäude und sowohl der Objektcharakter des Menschen wie auch sein Subjektcharakter integriert werden, nennt Holzkamp in Abgrenzung zu hermeneutischen Ansätzen «konstruktivistische Empirie». Davon ist der gegenwärtige Mainstream meilenweit entfernt. Aus diesem Grunde wurde im vorliegenden Band der Begründung einer transdiagnostischen Verhaltenstherapie und der Ausweitung des Evidenzbegriffs auf die Grundlagenforschung und auf die schulenübergreifende Empirie mehr Raum gegeben als in reinen Praxishandbüchern. Nicht zuletzt wird in diesem Band ein nicht reduktionistischer Rahmen erarbeitet, der sich für die praktische Arbeit eignet.
Alle diese Überlegungen führen für den einzelnen Therapeuten zu einer Rückbesinnung auf seine nicht delegierbare Verantwortung gegenüber dem Patienten (!) und zur Frage nach der eigenen Haltung.
1
Der Vorgang der Reduktion auf die notwendigsten (wirksamen) Ingredienzien und die Qualitätssicherung nach Industrienormen sind nicht zufällig vergleichbar mit dem Vorgang der «optimierten» Lebensmittelherstellung, die vorgibt, dem Kunden eine «hohe Qualität» bieten zu wollen, aber letztlich nur Billigprodukte liefert; wenig nahrhaft aber attraktiv im Preis. Ritzer beschrieb diesen gesellschaftlichen Prozess der «Optimierung» von allem als «McDonaldisierung» der Gesellschaft (Ritzer 1997). Er beschrieb ihn als einen umfassenden rationalen Prozess (effizient, kalkulierbar, voraussagbar, kontrollierbar) mit schädlichen und irrationalen Konsequenzen für die Gesellschaft. Auf Psychotherapie angewendet geht es um ein Selbstverständnis analog zu einem Medikament.
2
In diesem Band werden fünf Methoden der Datengewinnung, sieben Forschungsformen, acht Messmethoden und weitere spezifische Verfahren für die Analyse ökonomischer Systeme, sozialer Beziehungen und Mensch-Umwelt-Beziehungen ausgeführt und wissenschaftstheoretisch eingehend auch im Hinblick auf die Grenzen ihrer Aussagekraft reflektiert. Die Anwendung dieser Erkenntnisse wird in einen Kontext der «Beratung» und «Konsensfindung» gestellt, in dem sichergestellt werden muss, dass die von der Anwendung der Erkenntnisse Betroffenen einverstanden sind oder zumindest «keinen Widerstand leisten» (Werbik & Kaiser 1993 S.728).
3
In der Philosophie bekannt als «normative Kraft des Faktischen» (Jelinek, Habermas).
4
Caspar (2010) arbeitet heraus, dass Grawe seinem Leitbild selbst in einigen Aspekten nicht entsprochen hat. Das Leitbild einer schulenübergreifenden Empirie bleibt trotzdem gültig.
5
Bohleber (2013) beschreibt die «Figur eines autoritativ-paternalistischen Analytikers, der als Experte des Unbewussten einen geradezu unfehlbaren Zugang zu tieferen Wahrheiten hat», die «Vereinsstruktur» der Psychoanalyse und den «Ausschluss» unorthodoxer Forscher und Kliniker und in großen Teilen auch eine Ablehnung empirischer Methodologie. Aufgrund der Anerkennung von Subjektivität und Entwicklungspsychologie, der Beziehung als wechselseitiger Begegnung und der Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion und Gesellschaftskritik und vor allem zur empirischen Validierung der eigenen Behandlungstheorie scheint hier inmitten der psychoanalytischen Krise eine fundamentale Revision anzustehen, die insgesamt für die Psychotherapie relevant und möglicherweise im Hinblick auf die aktuellen Fehlentwicklungen auch notwendig ist (s. Kap. 6.2). Einstweilen kann man froh darüber sein, dass die Macht einzelner Deutungsfürsten, die in persönlichen Ausbildungsimperien uneingeschränkt geherrscht haben, vorbei ist.
6
Der Begriff «Intuition» wird von Kahneman (2011) experimentell neu definiert (Kap. 2.4): Professionelle Intuition muss man sich erarbeiten; sie hat nichts mit Subjektivismus zu tun. Anders formuliert in Bezug auf den oben genannten Slogan: Nur Praxis schafft (Anwendungs-)Wissen.