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Stube 317

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Einen Augenblick blieb Karl vor der Tür stehen. Plötzlich hatte er ein seltsames Kribbeln im Bauch. Unruhe beschlich ihn. Hinter dieser Tür würde endgültig und unabwendbar für ihn ein neuer, aber doch mit leidenschaftlicher Ungeduld erwarteter Lebensabschnitt beginnen. Was würde er bringen? Es war nur eines sicher: Karl hatte das Abenteuer selbst gewollt und heraufbeschworen, und keiner kannte dessen Ausgang.

Er gab sich einen Ruck und öffnete mit klopfendem Herzen und kräftiger Hand die Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er sein künftiges Quartier. Zwei Doppelstockbetten und zwei einzelne Betten, wie sieben Spinde standen eng beieinander im Raum. Um einen Eichentisch standen sechs Hocker. Mit fünf Kameraden hieß es künftig in Gut und Böse zusammen zu leben. Ob das gut ging, aus den verschiedenen Persönlichkeiten mit ihren unterschiedlichen Charakteren in der kurzen Ausbildungszeit eine Kampfgemeinschaft, einschließlich der Kameraden der anderen Stube, zu formen.

Noch immer stand Karl wie angewurzelt an der Tür und starrte auf den Tisch in der Stubenmitte. Zwei Rekruten lagen auf ihren Betten. Vor dem offenen Fenster stand ein schwarzhaariger, sehr adrett wirkender junger Mann von vielleicht zweiundzwanzig Jahren. Er trat freundlich lächelnd zu Karl. Der Bursche, etwas größer als Karl, hatte eine sportliche Figur. Seine rehbraunen Augen leuchteten auf, als er Karl wie einem alten Bekannten die Hand reichte. Mit Berliner Einschlag sagte er: „Grüß dich, Kamerad. Ich bin Werner Sanftleben aus Berlin-Grunewald.”

Er verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen und sagte: „Nun tritt schon ein. Hier bist du unter Gleichen, denen in den nächsten Wochen die Hammelbeine langgezogen werden.”

Karl rümpfte die Nase, denn balsamische Düfte von einem süßen Parfüm entstieg der Bekleidung Sanftlebens. Karl nannte seinen Namen und erklärte seine Herkunft.

„So, so”, murmelte Werner, „du kommst aus dem Mansfelder Land, wo Kupferschiefererz abgebaut wird. Bist du etwa Bergmann?”

„Nein, ich bin Klempner und Installateur von Beruf.”

Werner zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Hosentasche und hielt sie Karl entgegen. „Danke, Nichtraucher!”

„Das ist famos.” Werner steckte sich lässig eine Zigarette zwischen die Lippen. „Leider bin ich diesem schlimmen Laster verfallen.”

Karl blickte auf die zwei Kameraden auf den unteren Betten. Unsicher warf er seinen Karton auf das obere Bett links neben der Tür. ,Der Vorteil dieses Bettes besteht darin’, dachte er, ,wenn ein Vorgesetzter erscheint, die Tür öffnet und im Türrahmen stehen bleibt, kann er mich im Bett nicht sofort erblicken’.

Werner blies den Rauch genießerisch von sich. Mit seiner linken Hand strich er sich gedankenversunken über die linke Schläfe. Sogleich fragte er: „Sag mal, Karl, wie alt bist du?”

„Siebzehn!”

„Siebzehn”, wiederholte er. „Demnach bist du ein Freiwilliger, der nicht schnell genug in den Krieg und damit dem Gevatter Tod auf die Schippe springen kann.”

„Noch hab ich kein Bedürfnis danach. Doch ich möchte meinen Beitrag zum Sieg über die Feinde leisten, bevor der Krieg zu Ende ist”, erwiderte Karl enthusiastisch.

Werner lachte laut auf. Es kostete ihm offensichtlich Mühe, ruhig zu werden. Er knurrte: „Junger Freund, zügle deinen Heißhunger auf Heldentaten. Der Krieg wird noch sehr lange dauern. Und ich glaube, du wirst noch früh genug die Nase davon voll bekommen.”

Karl schaute ihn von oben herab an. Trotzig erwiderte er: „Das glaube ich nicht. Deine Angst, Kamerad, ist unbegründet.”

Werner seufzte: „Der Barras, junger Freund, ist ohne Gnade und Erbarmen.” In diesem Augenblick wehte ein Luftzug erneut eine Duftwolke von Parfüm zu Karl herüber. Er schnüffelte und verzog sein Gesicht verächtlich.

„Oh!” rief Werner, „Deine Nasenflügel bebten beim Einsaugen meines französischen Parfüms. Magst du den göttlichen Duft nicht?”

„Überhaupt nicht”, entgegnete Karl mit einem leicht überheblichen Lächeln auf den Lippen, „meine Nase, Kamerad, mag den Geruch der Erde, der Bäume, des Obstes und der Wiesen, sie liebt den Duft der Blumen, der Blüten, der Kräuter. Ich bin eben ein Dorfbursche, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und weder Parfüm noch Lippenstift oder Gesichtspuder kennt. Bei uns genügte es, sich täglich gründlich mit Seife zu waschen und am Wochenende im Waschhaus ein heißes Bad zu nehmen.”

Werner nickte. „Ich verstehe.” Er lehnte sich an ein Spind, schloss die Augen und schickte sich an, Karl lang und breit von den Bräuchen der alten Ägypter, Griechen und Römern zu erzählen, wie sie, den Göttern gleich, in geheiligter Tradition sich mit ätherischen Ölen, Salben und besten Duftstoffen pflegten. Insbesondere huldigten die Königinnen den Duftwässerchen, den arabischen Ölen, auch den vielen kleinen Verschönerungsingredienzien.

„Und was hat das mit dir zu tun?” fragte Karl.

Werner öffnete die Augen. Mit stoischer Ruhe sah er Karl an.

„Mein Freund, ich bin im väterlichen Geschäft Drogist. Und in meiner Branche gehört es zum guten Ton, exakt, gut gekleidet, freundlich und zuvorkommend der Kundschaft gegenüber aufzutreten. Unsere zahlungskräftigen Kunden aus der Hautevolee bringen Geld ins Haus. Ihnen gegenüber bedarf es eines ausgesuchten Fluidums, einer wohltuenden Ausstrahlung – keines schäbigen Auftretens.”

„Wenn ich dich richtig verstehe“, entgegnete Karl, „balsamierst du dich ein, weil du ihnen als Verkäufer-Persönlichkeit gefallen möchtest.”

„Du hast es erfasst. Von den Damen hängt das Geschäft ab. Ihre oft wunderlichen Eigenheiten zu kennen, darauf kommt es an.”

„Aber – klafft nicht zwischen dir und den höheren Gesellschaftsschichten eine unüberwindbare Kluft?”

Werner schüttelte den Kopf. Sein Blick verschleierte sich. Leise flüsterte er: „Die weibliche Seele, mein Freund, ist ein offenes Buch, sofern man darin zu lesen versteht. Egal aus welchem Haus oder Schloss sie stammt, sie möchte schön sein und gefallen. Das Weib ist eitel und verzehrt sich nach Bewunderung. Mit wahnsinnigem Begehren und heißen Herzen wünscht sie den Mann ihrer Träume herbei. Deshalb unternimmt sie alles, um vergöttert zu werden. Daher ihre Suche nach Mittelchen der Kosmetik, die sie hinreißender, bezaubernder, entzückender und anziehender machen möchten.”

Für einen kurzen Augenblick flackerte etwas für Karl Undefinierbares in Werners Augen auf. Aber er fuhr schon fort: „Zu mir ins Geschäft kommen Filmdivas, Frauen von Generalen, auch Baronessen und Damen von hochgestellten Parteiführern; selbstverständlich auch Hausfrauen. Jede von ihnen hat ihre ganz persönlichen Eigenheiten. Darauf einzugehen ist unser Geschäftsprinzip. Es gilt alle weiblichen Wesen beständig wie ein Magier zu umgarnen. Jede Gelegenheit ist beim Schopfe zu packen, damit man Vertrauter und Berater der Schönen wird. Nur so wird die mondäne Frau auch das Teuerste kaufen.”

Spöttisch lächelnd fuhr er fort: „Ich versuche den Damen stets glaubhaft zu machen, dass nur dieses oder jenes Parfüm oder Rouge ihren Typ unterstreicht und ihre Schönheit voll zur Geltung bringt. Frauen taktvoll in seinen Bann ziehen, sie zu faszinieren, ist eine Kunst, die zu beherrschen ist. Ab diesem Augenblick glauben alle Schönen jeden Schwindel und sie leben in der Illusion, ein Wundermittel für ihre Haut gekauft zu haben.”

„Du führst die Frauen an der Nase herum und nennst es ehrlichen Handel treiben?”

„Ich weiß”, erwiderte Werner, „dass manches in meiner Tätigkeit verächtlich ist. Doch im Konkurrenzkampf und ums Geld darf man nicht zimperlich sein. Und Gewissensbisse darf man schon gar nicht kennen. Mein Appetit auf Profit ist weder geringer noch größer als bei anderen Geschäftemachern.”

Zum ersten Mal in seinem Leben begriff Karl: In der Geschäfts-und Unternehmerwelt ist alles der Logik des Geldes unterworfen. Werner versank einen Augenblick in tiefes Nachdenken. Dann hellte sich sein Gesicht auf. Er ging zum Spind und beförderte einige Flakons und Döschen heraus und stellte sie auf den Tisch.

„Riech mal!”

„Danke!” Karl wehrte ab. „Du kennst meine Abneigung.”

„Sei kein Frosch, Karl.” Er lachte heiter auf. „Ich möchte dir doch nichts verkaufen. Du sollst nur auf den Geschmack kommen. Und wenn du mal eine kleine Freundin hast, dann sag es mir. Du bekommst von mir das berauschendste, wohlriechendste Parfüm, das im eroberten Frankreich zu holen war.”

In diesen Moment polterte es vor der Tür, gleich darauf wurde sie regelrecht aufgestoßen und die restlichen zwei Stubengefährten betraten das Zimmer. Zuerst erschien ein mittelgroßer, etwas dicklicher Bursche in der Uniform der Hitlerjugend. Seinen rechten Arm zackig in die Höhe streckend, brüllte er: „Heil Hitler!”

Für Sekunden herrschte tiefe Stille. Karl war unsicher, was er machen sollte. Die auf den Betten dösenden Kameraden waren hochgeschreckt und warfen dem Hitlerjungen gequälte Blicke zu. Keiner hatte den Gruß erwidert. Das übermäßig forsche Auftreten gefiel ihnen nicht. Der Hitlergruß war in der Wehrmacht noch nicht eingeführt worden.

„Ich bitte um Gehör!” Der Drogist brach das Schweigen. „Darf ich vorstellen, der Rekrut, der uns soeben begrüßte, heißt Beppo Kohl. Er ist Scharführer der Hitlerjugend in Berlin-Grunewald. Er ist ein Nachbar von mir. Nebenbei gesagt, er ist ein Zweihundertprozentiger. Vater und Sohn von den Ereignissen 1933 hoch gespült, glauben sich zu Höherem berufen. Sie sind aber geistig etwas minderbemittelt.”

Beppos Gesicht färbte sich dunkelrot, bis hinter die Ohren. Empört rief er heiser: „Und dieses Drogistensöhnchen ist ein schmieriger Weiberheld, der die Frauen von Offizieren und höheren Beamten verführt hat, um vom Wehrdienst zurückgestellt zu werden. Er ist ein Drückeberger und Volksschädling.”

„Aber Beppo”, entgegnete Werner leicht ironisch, „ich hab dich doch nur so vorgestellt, wie es sich geziemt. Du machst es mir schwer, mit dir vernünftig zu reden. Dein Hass, Junge, bringt dich um den Verstand. Und wenn wir ab heute in einer Kompanie dienen müssen und dazu noch auf einer Stube liegen, sollten wir vernünftig sein und das Kriegsbeil begraben.”

Werner ging auf Beppo zu, wollte ihm die Hand reichen. Der aber krächzte: „Nie geb ich dir meine ehrliche Hand. Und es ist ein schlechtes Zeichen für dich, ständig in meiner Nähe zu sein, denn ich werde dich auf Schritt und Tritt beobachten. Auch werde ich dafür sorgen …”

„Nun halt mal die Luft an!” rief ein Kamerad zornig, der sich aus dem Bett gewälzt hatte und mit seiner Größe von ein Meter achtzig überraschend zwischen den Streithähnen aufgetaucht war.

„Solche boshaften Wortgefechte solltet ihr besser nicht fortsetzen”, grollte er. „Wir sind hierher beordert worden, nicht um uns irgendwelchen Zivilkram um die Ohren zu schlagen, sondern zum Kampf gegen die Feinde ausgebildet werden. Habt ihr das überhaupt begriffen?” Nach einer kurzen Pause blickte die beiden Kampfhähne besorgt an und sagte nachgerade: „Was wir auf unserer Stube brauchen, ist Kameradschaft. Jeder muss sich auf den anderen verlassen können.” Und er ergänzte freundlich: „Ich bin Otto Krüger, von Beruf Buchdrucker und komme aus Rostock. Und noch etwas, Kameraden, die Ehre des Vaterlandes steht über allem. Bösartiges Gezänk aus verletzter Eitelkeit ist zu vermeiden. Ist das klar?”

Danach reichte er temperamentvoll jedem die Hand. Auf seinem klugen Gesicht lag ein freundlicher Zug. Der uniformierte Beppo sah ihn beim Händeschütteln gequält an. Karl hatte den Vorgang schweigend verfolgt. Ihm erschien die Auseinandersetzung als unwürdig. Ein Glück, dass sich der Rostocker eingemischt hatte.

Der zweite Rekrut, der hinter dem Hitlerburschen das Zimmer betreten hatte, stellte sich als Berti Weisinger vor.

Der Kamerad, der unter Karl im Bett lag, hatte sich inzwischen aufgerichtet und saß mit den Beinen baumelnd auf den Bettrand. Er sagte zu Karl, als er zum Bett trat: „Wie ich hörte, willst du nur für das Land kämpfen und nicht sterben – täusch dich nicht – man kann beim Kampf auch schnell unter der Erde liegen.” Langsam erhob er sich und gab Karl die Hand. „Auf gute Freundschaft! Ich heiße Horst Fläming, komme aus dem Stettiner Gebiet und arbeitete auf einem Rittergut als Treckerfahrer.”

Mit seinen kräftigen Fingern fuhr sich Horst durchs dunkelbraune Haar. Er straffte seine Gestalt und fuhr fort: „Auch ich war vor Jahren verrückt auf den Wehrdienst. Meine Herrin war dagegen. Sie erwirkte für mich eine zweimalige Zurückstellung. Ich hoffe, es wirft keinen allzu dunklen Schatten auf mich.”

„Die Hauptsache ist”, sagte Karl, „dass wir in echter Kameradschaft die Wochen der Ausbildung überstehen.”

Karl begann seine Stubenkameraden zu mustern. Bis auf Beppo waren alle von kräftiger und sehniger Gestalt. Alle waren etwas größer als Karl. Er war sich aber sicher, mit patenten Burschen auf einer Stube zu liegen.

Inzwischen hatte er seinen Karton ausgepackt und die Sachen im Spind verstaut. Er ging zum Fenster und holte tief Luft. Hohe Kiefern, die zwischen den Kasernenblöcken aufragten, reichten mit ihren Ästen fast an die Fenster heran. Das Sonnenlicht spiegelte sich grell bunt in den Scheiben.

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg

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