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Abschied von Margot

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Obwohl erste Schatten des Kasernenlebens auf Karls Gemüt gefallen waren, erwähnte er davon nichts im Brief an seine Mutter. Er versuchte bildhaft auszudrücken, was er auf der langen Fahrt über Berlin bis Neuruppin erlebt und gesehen hatte. Auch schilderte er, mit welch prima Jungs er auf einer Stube läge und dass er einen sehr interessanten und klugen Dresdner kennen gelernt habe. Zum Abschluss wob Karl für die Umgebung von Neuruppin mit ihren herrlichen Seen und dunklen Wäldern, ein zaubrisches Landschaftsgemälde.

Für die Geschwister legte er einen extra Bogen bei – mit herzlichen Grüßen und der Bitte, zur Mutter immer freundlich und hilfsbereit zu sein.

Obwohl Karl die Zeit gehabt hätte, brachte er es nicht fertig, an Margot zu schreiben. Sein Inneres befand sich in chaotischer Verfassung. Er wusste um ihre ehrliche Hingabe und Liebe, wusste um ihre Erwartungen, ihre Träume und Sehnsüchte. Doch er liebte sie nicht. Wie würde sie seine Offenheit aufnehmen? Konnte sie ihn verstehen, wenn er ihr das schrieb? Karl war es völlig klar, sie würde aus tiefster Seele auch weiterhin um ihn werben. Unzufriedenheit nagte in ihm; er trug sie wie eine schwere Last mit sich herum.

Wenige Tage später – der Hauptfeldwebel teilte die Post aus –. Auch für Karl war ein Brief dabei. Der Blick auf die Handschrift bedrückte ihn: Der Brief war von Margot. Er schob ihn in die Tasche. Er dachte: Was hat sie geschrieben?

Nach dem Mittagessen suchte sich Karl ein ruhiges Plätzchen im Schatten der Bäume zwischen den Kompanieblöcken. Beim Öffnen des Umschlages, zitterten ihm die Hände. Ein Bild Margots fiel in seinen Schoß. Lange betrachtete er die gelungene Aufnahme. Er las:

Mein geliebtes Karlchen!

Am Dienstag nach Schulschluss fuhr ich, aufgeregt wie seit Tagen nicht mehr, zu Deiner Mutter, fragte, ob von Dir schon Post angekommen sei. Zufrieden und lächelnd überreichte sie mir Deinen Brief. Wie eine Ertrinkende verschlang ich Deine Zeilen. Oh, welche Enttäuschung! Nicht einmal einen Gruß hattest Du für mich übrig. Wie wild raste ich nach Hause. Erneut war der Briefkasten leer. Karli, Geliebter, kannst Du Dir nicht vorstellen, welche Seelenqualen ich erleide. Ich vergehe vor Sehnsucht nach Dir.

Mein Liebster, ich lechze nach ein paar Zeilen, nach Worten von Liebe. Nur sie können meine Begierde, mein Hoffen und Sehnen stillen. Was immer auch geschieht, ich kann die Licht durchwirkte Nacht vom 2. Juni einfach nicht vergessen. Jede Sekunde des Abends hat sich in mein Gehirn eingegraben. Es war die glücklichste Stunde meines bisherigen Lebens, weil unsere Liebe erblühte und wir ineinander aufgingen. Erinnerst Du Dich noch an die Nachtigallen? In jener Stunde, mein geliebter Schatz, begriff ich, was es heißt, zu lieben und geliebt zu werden. Dankbar genoss ich in Deinen muskulösen Armen das Reine, Schöne, Unbekannte – das freiwillige Begehren nach körperlicher und seelischer Befriedigung. Und jeder Kuss hat mich beglückt, hat mich ins Paradies der Seligkeit geführt.

Verzeih, mein Liebster, wenn ich noch immer diesem einzigartigen Abend unterm Sternenzelt in der Laube nachhänge. Aber es war so unsagbar schön, schöner noch als jeder Traum. Zugleich aber sitzt in meiner Seele auch der Schmerz der Trennung und die Angst, ich könnte Dich durch die Kriegswirren verlieren. Daher – Du wirst es mir nicht verübeln – habe ich nach Deiner Abreise eine Wahrsagerin aufgesucht. Ich wollte erfahren, ob ich an Dich glauben darf. Unruhig stellte ich ihr meine Fragen. Schon breitete sie ihre Karten aus – und Magie sprach durch ihren Mund: Ich dürfe alle Tränen der Trauer aus den Augen wischen. Ein junger Mann, vor kurzem Soldat geworden, überlebe den Krieg, und er werde nach dem Sieg, gefeiert als Held, in die Heimat zurückkehren. Das Schicksal würde es so fügen, dass ich diesen Soldaten heirate. Mit ihm würde ich zwei Kinder zeugen.

Kannst Du Dir vorstellen, Karlimann, wie selig ich auf dem Heimweg war? Am selben Abend noch trat ich auf den Hof und sah zu den Sternen auf, um den Himmel zu beschwören, uns durch alle Unbilden und Tiefen des Lebens gefahrlos zu führen. Aber noch in der Nacht erschütterte mich ein furchtbarer Traum. Ich stand plötzlich in einer düsteren Landschaft. Nebelschwaden überzieh`n das Land unter dem Schein des Vollmondes. Ein Käuzchenruf erscholl in der nächtlichen Stille und erlosch wie abgewürgt. Aus der Tiefe eines Abgrundes hob sich vor mir ein grässlicher Schatten. Ich vermochte es nicht zu erkennen – war es ein Mensch oder ein Tier. Ein ungewöhnliches Geschöpf, groß, gewaltig, breitschultrig und mit einer brutalen Fratze. In seinen roten Augen brannte ein zerstörerisches Feuer. Mich fror. Das Leichentuch der Hölle berührte mich. Langsam hob das Ungeheuer seine Arme, packte mich an den Schultern, zerrte mich ganz dicht an seine wulstigen Lippen. Ich versuchte mich zu wehren – vergeblich. Es drückte mir seinen hässlichen Mund auf die Wangen. Ich wollte fliehen. Aber der Dämon umklammerte eisern meine Schultern, lachte höhnisch und zwinkerte immerfort mit dem rechten Augenlid …

Schweißgebadet bin ich aufgewacht. Mein Puls jagte. Wie erschlagen blieb ich bis zum Wecker klingeln im Bett. Mein Kopf schmerzte. In diesem Zustand stellte ich mich unter die Dusche und ließ mir eiskaltes Wasser über den Körper laufen. Nur langsam löste sich meine Verkrampfung. Obwohl ich zum Frühstück kaum einen Bissen runter würgen vermochte, brauchte ich den ganzen Tag nichts mehr zu essen. Erst auf dem Weg mit dem Fahrrad zur Schule kühlte mir der Wind die heiße Stirn.

Karli, kannst Du mir erklären, woher diese Heimsuchung kommt? Ich fragte mich schon hundert Mal, was kann die Ursache dieses schrecklichen Traumes sein? Wie passt der Traum mit der Prophezeiung der Kartenlegerin zusammen? Ich bin ratlos! Geliebter, bitte, schreib mir bald! Ich vergehe vor Sehnsucht. Ich liebe Dich!

Tausend Küsse und Grüße sendet Dir

Deine nur Dich liebende Margot.

Karl ging die Seelennot des guten Mädchens sehr zu Herzen. Aber ihm selbst war auch unbehaglich. Reglos lag er im Gras und blickte zu den Kiefernkronen, wo die Sonne zwischen den Ästen funkelte und Spinnennetze wie silbernes Gewebe leuchteten.

Mit einem unguten Gefühl las Karl noch einmal Margots Brief. Er war erschüttert. Jäh tauchten die Brombeeraugen von Margot vor ihm auf. ,Mein Gott’, dachte er, ,wäre doch bloß nicht alles so plötzlich und unerwartet auf mich eingestürmt – die Leidenschaft und die Begierde nach dem weiblichen, so begehrenswerten Körper! O ja, Margot hatte mit ihrem Werben sein erstes Liebesbedürfnis geweckt und gleich beim ersten Kuss die Glut in seinem Herzen entfacht. Was Wunder, dass er voller Verlangen und mit zarter Hand ihren bernsteinfarbenen Körper streichelte, ihre knospenden Brüste, ihre Haare und den Nacken. Und ihre herrliche Nacktheit hatte seine Begierde ins Unermessliche wachsen lassen …’

Jetzt aber erblickte Karl darin nur ein Vergehen. Gedankenlos hatte er das Mädchen genommen, das er nicht liebte. Musste das nicht eine Freundschaft zerstören. Diese Erkenntnis kam zu spät. Er hatte wie im Spiel verantwortungslos gehandelt, ohne die Folgen zu bedenken, und das liebenswerte Mädchen tief verletzt.

Worauf hatte er sich da bloß eingelassen? Und wie konnte er aus dem Dilemma herauskommen? – Durfte er seine wahren Gefühle verheimlichen, ihr gegenüber heucheln? Nein, das wäre unverantwortlich. Er musste ihr offen und ehrlich schreiben, wie er zu ihr stand. Es galt zu retten, was noch zu retten war.

Noch am selben Abend legte sich Karl den Schreibblock zurecht und schrieb:

Liebe Margot!

Für Deinen lieben Brief möchte ich Dir sehr herzlich danken. Auch ich erinnere mich noch an unseren erlebnisreichen Abschied in der traumhaft schönen Juninacht. Nur ist heute das Feuer von jenem Abend in meinem Herzen erloschen. Es wird Dich hart treffen, aber es ist so. Dir etwas anderes vorzugaukeln und zu schreiben wäre eine Lüge. Du hast eine ehrliche und aufrichtige Antwort verdient.

Liebe Margot, ich mag Dich. Du bist ein großartiges Mädchen. Und ich möchte Dir ehrlichen Herzens auch in Zukunft ein Freund sein, der Dir in guten wie in bösen Tagen zur Seite steht, nur – so herzlos es auch klingen mag – ich liebe Dich nicht. Mein ganzes Sehnen gilt einer anderen, jener, von der ich Dir berichtet habe. Über jene Nachtstunde, Margot, in der wir beieinander lagen, habe ich unsere heilige Freundschaft missbraucht. Bitte, verzeih mir. Beste Freundin, versuche Vergangenes wie ein Engel des Himmels zu vergessen, versuche mit Optimismus in die Zukunft zu schauen und alles abzuschütteln, was Dein Herz in der Tiefe bedrängt. Wir sind noch jung, Margot. Und auch vor Dir liegt das ganze Leben. Außerdem, noch immer heilt die Zeit jede Wunde.

Liebe Margot, Du bist doch ein prachtvolles Mädchen; Du hast eine fabelhafte Figur, wundervolle Augen, schönes Haar, bist klug und hast einen festen Charakter. Was willst Du mehr? Sieh Dich im Dorf oder in der Stadt um – überall gibt es wunderbare Jungs, die zu Dir passen. Ich sage Dir, vielen schlägt das Herz schon höher, wenn sie Dich nur erblicken. Und mancher Bursche träumt von Dir und betet zu Gott in der Hoffnung, Du mögest ihn erhören. Ob Dich das tröstet? – Ich wünsche es von ganzem Herzen.

Zu Deinem geheimnisvollen und bösen Traum, liebe Margot, kann ich mich nicht äußern, da ich kein Traumdeuter bin. Ich hoffe, es ist kein schlimmes Omen.

Zum Abschluss möchte ich Dich sehr herzlich um Verzeihung bitten und verbinde damit den Wunsch, Du zürnst mir nicht allzu sehr und bist mir böse. Bitte, liebe Margot, vergeude Dein Leben nicht an eine Fata Morgana.

In tiefer Freundschaft

Karl

Nach einer Woche erhielt Karl Post von Margot. Im Briefumschlag steckte aber nur ein Blatt weißes Papier, in dessen Mitte ein Herz, von einem Dolch durchstoßen, gemalt war. In großen Lettern stand:

DU BIST EIN TEUFEL

An jenem Abend weinte Karl um eine Freundin.

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg

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